Die Seele des Volkes

Und wenn jedes solche Bild eine Ahnung davon gibt, dass sich in der Seele jedes Menschen auch ein Miniaturbild von der Persönlichkeit seines Volkes findet, so wird eine nach der Zeit geordnete Reihe dieser Berichte, wie zufällig und willkürlich auch Manches darin sein mag, doch noch etwas Anderes erkennen lassen. Wir werden die Bewegung und allmähliche Umwandlung einer höheren geistigen Einheit, die uns hier ebenfalls wie eine geschlossene Persönlichkeit entgegentritt, wahrnehmen. Und darum helfen auch diese kleinen Bilder vielleicht ein wenig zu lebendigerem Verständnis dessen, was wir das Leben eines Volkes nennen.

Denn überall erscheint uns der Mensch durch Sitte und Gesetz, durch die Sprache und den ganzen gemütlichen Inhalt seines Wesens als kleiner Teil eines größeren Ganzen. Zwar empfinden wir auch dies Größere als geistige Einheit, welche, wie der Einzelne, irdisch und vergänglich erscheint, aber als ein Gebilde, welches sein Erdenleben in Jahrhunderten vollendet, wie der Mann in Jahren. Wie der Mann, entwickelt auch das Volk seinen geistigen Gehalt im Laufe der Zeit, gefördert und gehemmt, eigentümlich, charakteristisch, originell, aber mächtiger und großartiger. Und weiter. Aus Millionen Einzelnen besteht das Volk, in Millionen Seelen flutet das Leben des Volkes dahin; aber das unbewusste und bewusste Zusammenwirken von Millionen schafft einen geistigen Inhalt, bei welchem der Anteil des Einzelnen oft für unser Auge verschwindet, bei welchem uns zuweilen die Seele des ganzen Volkes zur selbstschöpferischen lebendigen Einheit wird. Welcher Mensch hat die Sprache erschaffen, wer das älteste Volksrecht erfunden, wer hat in erhobener Stimmung den poetischen Ausdruck, den Vers erdacht? Nicht Einer erfand dies für seine praktischen Zwecke, es war ein gemeinsames geistiges Leben, welches in Tausenden, die zusammen lebten, aufbrach. Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung, sind für uns nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische Schöpfungen eines höheren Lebens, welches zu jeder Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen zusammenfasst. Jeder Mensch trägt und bildet in seiner Seele die geistige Habe des Volkes, jeder besitzt die Sprache, ein Wissen, eine Empfindung für Recht und Sitte, in jedem aber erscheint dies allgemeine Nationale gefärbt, eingeengt, beschränkt durch seine Individualität. Die ganze Sprache, das gesamte sittliche Empfinden repräsentiert nicht das Individuum, sie stellen sich nur dar, wie der Accord in dem Zusammenklingen der einzelnen verbundenen Töne, in der Gesamtheit, dem Volke. So darf man wohl, ohne etwas Mystisches zu meinen, von einer Volksseele sprechen.


Und sieht man näher zu, so erkennt man mit Verwunderung, dass die Entwicklungsgesetze dieser höhern geistigen Persönlichkeit sich merkwürdig von denen unterscheiden, welche den Mann frei machen und binden. Für sich und seine Zwecke lebt der Mensch, frei erwählend, was ihm schade oder nütze; verständig formt er sein Leben, vernünftig beurteilt er die Bilder, welche ans der großen Welt in seine Seele fallen. Aber nicht mehr bewusst, nicht so zweckvoll und verständig wie die Willenskraft des Mannes, arbeitet das Leben des Volks. Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunkeln Zwange einer Urgewalt, und ihre geistigen Bildungen entsprechen zuweilen in auffallender Weise den Gestaltungsprozessen der stillschaffenden Naturkraft, die aus dem Samenkorn der Pflanze Stiel, Blätter und Blüte hervortreibt.

Von solchem Standpunkte verläuft das Leben einer Nation in einer unaufhörlichen Wechselwirkung des Ganzen auf den Einzelnen und des Mannes auf das Ganze. Jedes Menschenleben, auch das kleine, giebt einen Teil seines Inhalts ab an die Nation, in jedem Manne lebt ein Teil der schöpferischen Gesamtkraft, er trägt Seele und Leib aus einer Generation in die andere, er bildet die Sprache fort, er bewahrt das Rechtsbewusstsein, alle Resultate seiner Arbeit kommen dem Ganzen wie ihm selbst zu gute. Millionen leben so, dass der Inhalt ihres Daseins still und unbemerkbar mit dem großen Strome zusammenrinnt. Nach allen Richtungen aber entwickeln sich aus der Menge bedeutende Persönlichkeiten, die als gestaltende größeren Einfluss auf das Ganze gewinnen. Zuweilen erhebt sich eine gewaltige Menschenkraft, welche in großen Gebieten auf eine Zeit lang das übermenschliche Leben des Volkes beherrscht und einer ganzen Zeit das Gepräge eines einzelnen Geistes aufdrückt. Dann wird unserm Auge, das gemeinsame Leben, welches auch durch unser Haupt und unser Herz dahinströmt, fast so vertraut, wie uns die Seele eines einzelnen Menschen werden kann; dann erscheint die ganze Kraft des Volkes auf einige Jahre im Dienste des Einzelnen, ihm wie einem Herrn gehorchend. Das sind die großen Perioden in der Bildung eines Volkes. —

Aber kein Volk entwickelt sein Seelenleben ohne Zusammenhang mit andern Nationen. Wie die Individuen einander auf Seele und Leib einwirken, so ein Volk auf das andere. Von dem geistigen Inhalte einer Nation geht in die andere über. Auch die praktischen Bildungen einer Volkskraft, sein Staat, seine Kirche werden durch die fremden Gewalten fortgebildet, gehemmt, zerstört. Eng ist die Verbindung der Völkerseelen in Europa, vielfach der Gegensatz ihrer praktischen Interessen. Unaufhörlich erfährt eine Nationalität durch die andere Stärkung, Trübung, Umbildung. Zuweilen gewinnt die energische Entwickelung einer bestimmten Volkskraft auf lange Zeit überwiegenden Einfluss auf andere, so dass sie diesen durch Jahrhunderte ihr Abbild eindrückt. So taten einst die Juden, die Griechen, die Römer. Auch das deutsche Volk hat diese Einwirkung fremder Kraft zu Glück und Unheil erfahren. Aus der antiken Welt kam der heilige Glaube des Gekreuzigten zu den wilden Söhnen des Urvaters Tuisco, mit ihm zahllose Traditionen des Römerreiches, das gesamte Leben der Kriegerstämme umbildend: durch das ganze Mittelalter war das Volk bemüht, den fremden Erwerb zu eigener Habe umzuarbeiten. Und wieder, am Ende dieser Periode begann eine neue Einwirkung der antiken Welt. Wieder strömte geistiger Inhalt des Altertums, ein lange verschütteter Quell. Aus ihm kam der Idealismus der Humanisten, der Vorgänger Luthers, der Idealismus der deutschen Dichter, der Vorgänger der Freiheitskriege. Und dagegen aus der romanischen Welt drang in die deutsche mit gewaltsamem Fordern der Despotismus des siebenten Gregor und des dritten Innocenz, die Devotion der restaurierten Kirche, die Eroberungslust Frankreichs. Da wurde Deutschland verheert und das Leben des Volkes kam in tödliche Gefahr; aber das Fremde, welches übermächtig eingedrungen war, half auch zur Genesung. Was die Fremden schufen in Wissenschaft und Kunst, Italiener, Franzosen, Engländer, auch das breitete sich über das deutsche Leben, und an dem fremden Erwerb klammerte sich die deutsche Bildung fest vom dreißigjährigen Kriege bis auf Lessing.

Es ist Aufgabe der Wissenschaft, das schaffende Leben der Nationen zu erforschen. Ihr sind die Seelen der Völker die höchsten geistigen Gebilde, welche der Mensch zu erkennen noch befähigt ist. In jeder einzelnen suchend, jedem erhaltenen Abdruck der vergangenen nachspürend, auch die Splitter der zerstörten beachtend, alles Erkennbare verbindend, sucht sie als letztes Ziel das Leben des ganzen Menschengeschlechts auf der Erde als eine geistige Einheit zu erfassen, mehr ahnend und deutend als begreifend. Während frommer Glaube die Idee des persönlichen Gottes mit unbefangener Sicherheit über das Leben der einzelnen Menschen stellt, sucht der Diener der Wissenschaft das Göttliche bescheiden in großen Bildungen zu erkennen, welche, wie gewaltig sie den Einzelnen überragen, doch sämtlich am Leben des Erdballs haften. Aber wie klein er sich ihre Bedeutung auch gegenüber dem Unbegreiflichen, in Zeit und Raum Endlosen denken möge, in diesem immerhin begrenzten Kreise liegt alles Große, was wir zu erkennen fähig sind, alles Schöne, was wir je genossen, und alles Gute, wodurch wir je unser Leben geweiht. Für Das aber, was wir noch nicht wissen und zu erforschen bemüht sind, eine unermessliche Arbeit. Und diese Arbeit ist, das Göttliche in der Geschichte zu suchen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Mittelalter