Das Fremdartige des Mittelalters

Durch Ordnung und Zucht ist seit deutscher Urzeit der Einzelne an sein Volk geschlossen. Aber in Gemüt und Sitte, in ältester Sprache, in Glauben, Poesie und Recht erscheint uns die schaffende Kraft des Individuums noch gebunden. In ganz anderem Sinne ist der Einzelne im Mittelalterein Teil der Volkskraft, als jeder von uns.

Denn der Einzelne an sich war rechtlos und schutzlos. Sicherheit vor dem Verderben, jede Förderung seines Lebens erhielt er nur durch engen Anschluss und Unterordnung unter Genossen. Die Familie und Blutsverwandtschaft ist nicht nur wie jetzt der gemächliche Mittelpunkt, von welchem das einzelne Leben erobernd in die Weite strebt, sie ist auch die schützende Mauer, welche dem Angehörigen im Kampf mit den Fremden Angriff und Verteidigung sichert. Die Pflicht gegen Angehörige steht höher als gegen das gemeine Gesetz. Ob ein Blutgenosse gefrevelt habe, es ziemt, ihn zu verteidigen, vor dem Verfolger zu retten, ja vor Gericht sein Eideshelfer zu werden. Auch die Ehe ist noch vorzugsweise eine Verbindung zweier Familien, in welcher beide das eigene Interesse suchen. Wie ungerecht das Begehren an Andere sei, den Angehörigen ist löblich, auch zum Schaden Fremder auf der Seite ihres Mannes zu stehen. Wo nicht Gewalt hilft, da hilft Bestechung und List. Das Regiment der Landesherren wie der Städte ist voll Gunst und Animosität. Auch die Mehrzahl der hohen Reichsfürsten ist der Bestechung zugänglich. Aber wie schwach das Gesetz, wie ungebildet der Sinn für Recht auch sein mochte, einiger Ersatz war vorhanden. Tief lag in dem Wesen der Deutschen das Gefühl für Billigkeit, sehr mächtig war ein gleichmäßiger Sinn, der die Verhältnisse des Lebens unbefangen abwog. Und dieser Sinn, in unsicheren und ungesetzlichen Zeiten der unermüdliche Feind ausschreitender Selbstsucht, bewahrte Familie und Volk vor Verwilderung.


Der größte Teil menschlicher Tätigkeit wurde unter dem Schutz einer Gesellschaft gewagt. Gesellig lebten schon die deutschen Heidengötter, in großer Stammgenossenschaft schwebten Asen, Riesen, kleine Geister verbunden, gemeinsam ist das Schicksal, welches sie alle trifft. In Scharen saßen die seligen Helden in der Walhalla; einzeln, einsam, neidvoll ward das Unholde gedacht, der Drache, die finstere Todesgöttin. Auch das Christentum folgte dem Zuge der jungen Völker, auch seine Engel und Heiligen ordneten sich gern in Scharen, 11.000 Jungfrauen, 10.000 Ritter, auch das gemeinsame Hausen der Mönche unter einem Dach ist deutscher Natur gemäß. Jede politische Kraftentwicklung erscheint in Form eines Bündnisses, Ritterbünde, Städtebünde, die Hansa. Immer sind es, in der Hauptsache Gleichberechtigte, die sich so zusammenschließen, die gesamte Nation besteht aus vielen solchen Kreisen, selbst die höchsten Häupter des Volkes, die Kurfürsten, üben ihr Recht in stolzer Genossenschaft. Jede solche Verbindung sucht sich sorglich nach Außen abzuschließen, sich nach Innen durch eine Organisation zu befestigen. Gewaltig ist der Zwang, den sie ihren Mitgliedern auflegt. Die Zunft schreibt dem Handwerker vor bis zu den letzten Kleinigkeiten, wie er arbeiten soll, den Stoff, die Form, den Preis seiner Ware. Jeder Zunft wird wieder durch die größere Genossenschaft der Stadtregierung bis ins Kleinste verordnet, welche Arbeit sie schaffen darf, welche nicht; endlos sind die Kollisionen der Zunftinteressen, Eifersucht und polizeiliche Verordnungen. Und wie die Arbeit, so überwacht die Gemeinde auch alles andere Tun ihrer Bürger: was jeder nach seinem Stande an Schmuck und Kleidern tragen darf, wie viel Gerichte bei Hochzeit und Taufen, wie viel Spielleute erlaubt sind, was an Lohn, was an Geschenken zu geben, Alles ist festgestellt, geordnet jede Leistung und Gegenleistung.

Noch gab es kaum eine öffentliche Meinung. Von dem guten Zutrauen der Genossen hing das Selbstgefühl des Einzelnen ab, bei ihnen stand seine Ehre, Freude, Erwerb und Sicherheit; erst bei ihnen empfand er die Berechtigung seiner Existenz. Zwingend war auch daher der Drang nach Vereinigung. Jede neue Lage trieb schnell zu neuem Zusammenschluss mit Gleichen. Sehr auffallend erscheint zuweilen dies alte Bedürfnis. Man denke an die Clubhäuser der Hanseaten in ihren nördlichen Handelsstationen, fast mönchisch war der Zwang im Verschluss ihrer festen Gebäude, in enger Tischgesellschaft geregelt bis auf Worte und Geberde, befestigt durch die härtesten Strafen. Aus allen Teilen Deutschlands liefen die Landsknechte in ein Fähnlein zusammen, und sogleich übten sie feste Ordnung, durch welche sie sich Disziplin erhielten, sie selbst Kläger und Richter über ihresgleichen. Vor jeder Meerfahrt wählte die Gesellschaft der Reisenden sich Schultheiß, Richter und Beamte, welche Recht sprachen, mit Geld büßten, ja Körperstrafen verhängten, und wenn am Schluss der Reise der Einzelne des Zwanges ledig wurde, musste er ihnen schwören, keine Rache zu üben wegen Kränkung oder Beschädigung, die er unter dem Schiffsgesetz erlitten. Ähnlich bei Pilgerreisen nach dem heiligen Lande, überall, wo ein gefährliches Unternehmen zu bestehen war. Als im Jahre 1535 fünfundzwanzig Männer aus Amberg wagten, die Höhlen des „ungeheuren“ Berges zu erforschen, war das erste, dass sie am Eingang der Höhlen „handelten“, sich zwei Hauptleute verordneten und den Schwur taten, gehorsam zu sein und Leib und Leben bei einander zu lassen. Und es wurde ernst genommen mit solchem Gelöbnis.
Auch in der Kunst des Mittelalters ist derselbe Grundzug. Zunächst in dem Leben der Künstler. Die großen Gebäude der würdigsten Genossenschaften, Kirchen und schmuckvolle Rathäuser, sind wenigstens seit der Herrschaft des germanischen Stils durch die engverbundenen Gesellen der Bauhütten aufgerichtet. Glasmaler und Bildermaler sind Mitglieder von Handwerkerinnungen, sogar die Dichter, ritterliche Liedersänger und Meistersänger der Städte, spielen in solchen Vereinen. Und wieder in den Gedichten, wie sehr tritt das Genossenleben in den Vordergrund. In den deutschen Heldenliedern kämpft Genossenschaft gegen Genossenschaft, je volksmäßiger die Sage wuchert, desto zünftiger werden die Kampfe, z. B. in den Gedichten von Chrimhildes Rosengarten. Derb, oft drollig ist die Laune, welche in den gereimten Erzählungen und Fastnachtscherzen zu Tage kommt, auch hier sind es nicht vorzugsweise charakteristische Züge einzelner unsittlicher Individuen, welche verspottet werden, nicht der Geizige, nicht der Heuchler, es sind die Torheiten großer Genossenschaften, der Bauern, Pfaffen, fahrenden Schüler, Ärzte, oder ganzer Kommunen: der Kalenberger, Schildbürger, oder der ältesten Mitglieder einer Genossenschaft, der Eheleute. Und die reiche, schöne Spruchweisheit des Mittelalters von Freidank bis zu den Sprichwörtern des Volkes, beruht sie nicht auf demselben Bedürfnis, gemeinsame Ordnung und gültige Formel zu finden, welcher sich das innere Leben des Einzelnen unterordnet?

So kam überall das Leben des Individuums erst in der Gemeinschaft zum vollen Ausdruck. Und als eigentümliche Schönheit der jungen Volksseele empfinden wir zuweilen die Verbindung eines lebhaften Freiheitsgefühls mit gehorsamer Unterordnung. Wer von seinen Genossen gerichtet war, der war nach der Empfindung alter Zeit doch in seinem Selbstgefühl geschädigt, und ihm ziemte zu erklären, dass er den Genossen darum nicht zürne. Wer von den Landsknechten im peinlichen Malefizgericht zu bitterem Soldatentod verurteilt war, dem war schicklich, mit lautem Wort Jedem, der ihn treffen würde, seinen Tod zu verzeihen und nm Verzeihung bat ihn selbst der Profoss, bevor er ihn in die Speergasse stieß. Solche behende Fügsamkeit der Vorfahren erscheint uns in einer Zeit voll von lyrischem Einzelleben vielleicht beneidenswert, aber im Mittelalter fügte man sich nicht mit der bewussten Resignation, welche uns nöthig ist, oder mit der wertvolleren Freudigkeit, welche wir unsern Nachkommen wünschen, es trieb die bittere Not, die innere Armut und Unfreiheit der Individuen zur Einordnung in den Zwang der Gesellschaft. Und wenn wir jetzt vielleicht zu sehr den gefiederten Sängern gleichen, von denen jeder ein eigenes Gebüsch beansprucht, so sind die Menschen der Vorzeit geselligen Vögeln ähnlich, bei denen zuweilen erst der Schwarm eine lebendige und fertige Einheit darstellt.

Und mit dieser Eigentümlichkeit alter Zeit hängt eine zweite zusammen. Alles Menschenleben, vom Kaiser bis zum fahrenden Bettler, von der Geburt bis zum Tode, vom Morgen bis zur Nacht ist durch festes Zeremoniell, sinnvollen Brauch, stehende Formeln eingehegt. Ein merkwürdiger schöpferischer Trieb arbeitet unendliche Fülle von Bildern, Symbolen, von Sprüchen und energischen Bewegungen heraus, um jede Erdenhandlung zu idealisieren. Wie das Volk sein Verhältnis zum Göttlichen, wie es alle menschliche Tätigkeit verstand, ist darin ausgedrückt. Es ist ein völliges Umschaffen des realen Lebens zu bedeutungsvoller Bildlichkeit; und es ist die Methode naiver Zeit, dem Menschen „Zucht“ zu geben. Oft schuf das Volk solche Formen nur um freudigem Behagen lebhaften Ausdruck zu finden, in andern Fällen wirkte der Drang, Geistiges auch sinnlich wahrnehmbar zu machen, und das Bedeutende, was in dem einzelnen Geschäft lag, zu imponierendem Ausdruck zu bringen, oft sollte dadurch das Zufällige, Kleine geweiht und an Hohes angefügt werden. Endlich dient vieles Ritual zum Schutzmittel gegen schädlichen Einfluss überirdischer Gewalten; in diesem Falle hat Wort und Handlung geheimnisvolle Wirkung. — Bei jeder Rechtshandlung ist mimische Bewegung, bildliche Action. Wer für den erschlagenen Blutgenossen vor dem Gericht Rache forderte, dem war Aufzug, Geberde, Wortlaut der Klage, ja das Wehgeschrei vorgeschrieben; jede Veräußerung und Besitzergreifung von Haus, Land und fahrender Habe, jede Belehnung, jeder Vertrag hatte bedeutungsvolle Geberde, bestimmte Worte, an denen die Gültigkeit hing. Mit stehenden Redensarten ruft der Herold zum Ritterspiel, gratuliert der Pritschmeister dem Bogenschützen, fordert der Freiwerber die Braut, ladet der Hochzeitbitter die Gäste, begrüßt der zuwandernde Geselle sein Handwerk, bringt der Zecher seinen Gefährten den Trunk. Beim Anbruch des Tages war bedeutungsvoll, welcher Fuß zuerst den Boden berührte, welcher Schuh zuerst über den Fuß gezogen wurde, welche fremde Gestalt zuerst den Wanderer anging, bei jeder Mahlzeit, wie das Brod auf den Tisch gelegt wurde, wohin das Salzfass gestellt. Jede Sorge um den Körper, Kürzung des Haares, Baden, freiwilliges Blutlassen hatte bestimmte Zeit und schickliche Ordnung. Wenn der Landmann im Frühjahr die erste Scholle umwarf, wenn er die letzte Garbe einbrachte und ein letztes Ährenbüschel auf dem Felde stehen ließ, alle Arbeit im Sommer und Winter war mit ernstem Brauch geschmückt; an jedem bedeutsamen Tage des Jahres hingen eigentümliche Gewohnheiten, um jede große Funktion des Lebens, um jedes Fest standen sie in überreicher Fülle. Viele Trümmer solcher Sitte haben sich bis auf unsere Zeit erhalten. Lächelnd bewahren wir einige, die meisten sind uns unnütz, sinnlos, abergläubisch geworden.

Der größte Teil dieser selbstgeschaffenen Habe war den Germanen aus dem Heidenglauben, ältestem Recht, angestammter Poesie gekommen. Auch die Kirche des Mittelalters folgte demselben Zuge, das Leben ihrer Gläubigen zu idealisieren. Zu alten sinnigen Bräuchen fügte sie neue. Auch sie mühte sich, mit ihren heiligen Strahlen jede Menschentätigkeit zu weihen. Immer reichlicher wurde der Gottesdienst, das Zeremoniell erhielt kunstvolle Ausbildung. Und wie sie mit dem Mysterium ihrer Sakramente die großen Stationen des Lebens geweiht hatte, versuchte sie auch als Rivalin heidnischer Überlieferungen die kleinere Tätigkeit des Tages an sich zu fesseln. Sie weihte Brunnen und Tiere, sie gab sich her, durch ihren Segen Blut zu stillen und Geschoss der Feinde abzulenken. In dem volkstümlichen Bestreben, das höchste Geistige dem Gläubigen sinnlich wahrnehmbar zu machen, hat sie aus einer Anzahl heiliger Sprüche und symbolischer Handlungen sogar die ersten Anfänge des mittelalterlichen Dramas entwickelt. Aber indem die Herrschlustige so angelegentlich dem schöpferischen Triebe des Volkes entgegenkam, geschah es, dass ihr eigener geistiger und sittlicher Gehalt durch die Masse der Äußerlichkeiten verkümmert wurde. Wenn ihr Luther siebenunddreißig unbiblische Verbildungen des Christentums vorwarf, vom Ablass bis zu den Butterbriefen, dem Weihsalz und der Glockentaufe „mit zweihundert Gevattern an einem Strick“, so hatte der Reformator allerdings keine Veranlassung, daran zu denken, dass die alte Kirche zu solchen wuchernden Auswüchsen auch deshalb gekommen war, weil sie einer einzelnen Richtung des germanischen Volksgemüts zu viel nachgegeben hatte.

Aus dergleichen gebotenem Ausdruck setzen sich oft längere Handlungen von dramatischem Schein zusammen. Die zünftigen Handwerker vor der geöffneten Lade, die vollen Brüder beim Weinkruge finden Freude darin, stundenlang gegebene Formeln wie im Spiel zu wiederholen, dann wechseln Rede und Gegenrede mit mimischen Bewegungen. Sich in diesem Vorgeschriebenen sicher zu bewegen, war besondere Freude. Der Eingeweihte, Wissende, Gebildete jedes Lebenskreises wurde daran erkannt, er erhielt Gelegenheit, stattlich zu repräsentieren, mit Selbstgefühl sein eigenes Wesen in die überlieferte Form hineinzulegen. Allerdings hat jedes junge Volk das Bestreben, in solcher Weise sich das Leben einzubilden, unter den Deutschen aber arbeitete überreich der geheimnisvolle Trieb.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Mittelalter