Abschnitt 5

12 Rückreise.


Gegen Mittag machten wir in einem Dorfe einen glücklichen Fund an Fourage, das war eine große Freude; man fütterte die armen Pferde, die sich recht gütlich thaten und nahm noch einigen Vorrath mit. Abends erblickten wir auf einer kleinen Anhöhe ein einsames Dörfchen und steuerten darauf zu. Die Pferde wurden wenigstens vor Wind und Wetter geschützt untergebracht und ein ganz erträgliches Abendessen bereitet. Hier fanden wir wieder mehrere arme französische Soldaten, die krank und hilflos umherirrten und in den ärmlichen Hütten Schutz suchten. Zwei derselben schlichen sich wie Gespenster an unser Feuer heran und baten, sich ein wenig wärmen zu dürfen; sie hatten ein jämmerliches Aussehen und erregten mein Mitleid im höchsten Grade; ich ließ ihnen etwas warme Suppe reichen, nach der sie mit zitternden Händen griffen und die sie gierig verzehrten. Darauf legten sie sich zusammengekauert unter meinen Wagen und schienen zu schlafen; ich wollte sie nicht stören und ließ sie liegen; am nächsten Morgen aber fanden wir den einen todt, den andern am Verscheiden.


Am folgenden Tage, den 1. Oktober, tauchten wieder Gerüchte auf, daß die Straße von den Kosaken beunruhigt werde. Das jagte meinen israelitischen Reisegenossen große Angst ein; sie fingen an, gewaltig rasch zu fahren, was mich um meiner Pferde willen, die mit meinem viel schwereren Wagen größere Anstrengungen zu machen hatten, sehr genirte. Da kam mir wieder ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Ich traf einen Trupp französischer Soldaten, die drei Pferde an einem Wagen hatten, kaufte nach vielem Hin- und Hermarkten für einen mäßigen Preis ein ganz braves Pferd, das sogleich eingespannt wurde. Nun fuhren wir mit vier Pferden weiter, kamen besser voran und erreichten gegen Abend die Stadt Semlewo. Hier sah es wirklich bedenklich aus. Die Eingänge waren mit Pallisaden und allerhand Schutzwehren verrammelt, und wir hatten Mühe, eingelassen zu werden. Die kleine Besatzung hegte große Besorgnisse vor einem Ueberfall und wunderte sich, als sie hörte, wir kämen von Moskau. Auch hier fand man ein erbärmliches Unterkommen; in den Städten waren wir fast immer am schlimmsten daran. Im Freien, selbst bei ungünstiger Witterung, hatten wir doch wenigstens frische Luft, aber in den Städten war es, als ob die Luft verpestet sei. Da wir zeitig in Semlewo ankamen, ging ich noch auf die Kommandantschaft und fand dort recht artige Leute. Es interessirte sie sehr, durch mich so vieles über die Zustände in Moskau und unsere Erlebnisse auf der Rückreife erfahren zu können. „Ich bin wirklich sehr verwundert,“ sagte der Kommandant, „daß Sie so glücklich bis hieher gekommen sind, bedaure aber, Ihnen sagen zu müssen, daß es Ihnen nicht gelingen wird, ebenso glücklich Smolensk zu erreichen, wir hören, daß die Kosaken schon bis auf zwölf Stunden von Smolensk alles beunruhigen und haben sie auch hier fortwährend auf dem Halse. Es müssen ganze Militärkommandos ausgesandt werden, um uns Lebensmittel und Fourage zu verschaffen, denn es fehlt uns hier an allem und unsere Lage ist eine miserable.“ – „Das sind schlimme Nachrichten,“ erwiderte ich, „aber was wollen Sie hier mit mir machen? Sie sagen selbst, daß Sie Mangel an allem haben, wollen Sie noch ein paar Gäste mehr hier festhalten? Ich bin weit entfernt, Zweifel in die Wahrheit dessen zu setzen, was Sie mir so gefällig waren, mitzutheilen, aber seit ich Moskau verlassen, höre ich immer dieselbe Sprache, und Sie werden mir zugestehen, daß dieselbe Gefahr, welche vor mir liegt, auch hinter mir ist. Niemand weiß, was Napoleon weiter beschließen wird, und auf Ungewißheit hier zu sitzen, dazu kann ich mich nicht entschließen. Ich bin fest gesonnen, morgen meine Reise nach Smolensk fortzusetzen.“ Es waren drei bei Borodino leicht verwundete französische Offiziere hier, aber so weit hergestellt, daß sie reisen konnten. Sie saßen schon Tage lang unentschlossen in Semlewo. Mit gespannter Aufmerksamkeit hörten sie unserer Unterredung zu, benahmen sich sodann mit mir und faßten den Entschluß, die Reise zu versuchen. Bei ziemlich kaltem Nebel verließen wir frühzeitig Semlewo und stießen bald auf einen Chasseur à cheval, der als Wachtposten an der Straße hielt. Er sah finster und sehr erfroren aus und brummte uns mit tiefer Baßstimme zu: „In einer Viertelstunde treffen Sie die Kosaken!“ machte aber keine Miene, uns von dem Weitergehen abzuhalten. Meine neue Reisegesellschaft gerieth durch dieses Wort in sichtbare Angst. Die Offiziere meinten, bei solchem Nebel weiter zu gehen, sei zu gewagt, man sollte wenigstens warten, bis dieser sich verziehe, es könnte sich ja ereignen, daß man an die Kosaken gerathe, ohne sie vorher zu bemerken. Ich erwiderte, daß wir uns von diesem Wagestück nicht so leicht abschrecken lassen dürfen. Der Nebel verberge zudem ja auch uns vor den Kosaken, diese werden nicht gerade die Straße besetzt halten, wenigstens hätte ich bis daher Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß dies nicht in ihrer Absicht liege. Uebrigens sei ich weit entfernt, die Herren zu bereden, vorwärts zu gehen, und wolle mich vor jeder Verantwortlichkeit verwahren; sie möchten nach eigener Einsicht handeln, ich für meine Person werde vorwärts gehen. Das that ich und langsam wie Schnecken zogen die Offiziere in einiger Entfernung hinter uns her.

Wir waren noch nicht sehr weit gekommen, als unsere Lage allen Ernstes eine sehr mißliche zu werden anfing. Von einem Seitenwege kam ein Offizier zu Fuß uns entgegen, der sich beeilte, die Hauptstraße zu erreichen und mit uns zusammenzutreffen. Ich ließ deßhalb etwas langsamer fahren. Als er uns eingeholt, grüßte er freundlich in französischer Sprache und bat uns, anzuhalten. Es war ein großer, starker, sehr wohlgestalteter Mann, in Haltung, Sprache und seinem ganzen Wesen lag etwas Achtunggebietendes. Nach den gewöhnlichen Fragen: „Woher? Wohin?“ begann er Folgendes zu erzählen: „Ich bin der Obrist eines polnischen Infanterieregiments, das auf dem Marsche hieher begriffen ist. Gestern Abend verließ ich die Hauptstraße, um auf einem mir bekannten Edelhofe zu übernachten. Dort fand ich auch das gewünschte Unterkommen und trug kein Bedenken, nach langen, beschwerlichen Märschen mich der Ruhe zu überlassen, da ich eine starke Eskorte bei mir hatte. In der Nacht aber wurden wir durch Flintenschüsse alarmirt; die Kosaken hatten uns mit Uebermacht überfallen, meine Leute wurden nach tapferer Gegenwehr gefangen, meine Pferde und alles, was ich hatte, geraubt. Ich selbst entkam im Dunkel der Nacht, und so, wie Sie mich vor Ihnen sehen, besitze ich nichts mehr als meinen Degen. Sie werden meinem Regiment begegnen, dieses werden die Kosaken ungehindert ziehen lassen, sie vermeiden es immer, mit größeren Infanteriemassen zusammenzustoßen. Das Regiment ist brav und würde sich bis auf den letzten Mann schlagen. Sagen Sie seinen Offizieren, was mir begegnet ist, das Regiment solle seinen Marsch beschleunigen, ich erwarte es in Semlewo. Haben Sie den Muth, Ihre Reise fortzusetzen, so wünsche ich, daß Sie glücklicher seien als ich!“ So trennten wir uns. Diese Erzählung bot in der That Stoff zu ernsten Betrachtungen und eröffnete uns keine frohen Aussichten auf den heutigen Tag. Nach Verlauf einer Stunde trafen wir auch dieses Regiment, welches zu unserer Verwunderung noch in gutem Zustande und ziemlich zahlreich war. Es nahm die ganze Breite der Straße ein; zu beiden Seiten war es mit einer starken Tirailleurkette umgeben. Die Offiziere waren sehr frappirt über meinen Rapport und erzählten ihrerseits, daß die Kosaken zwar nicht gewagt, das Regiment anzugreifen, aber alles, was an Train und Equipagen hinterher kam, sei verloren und in ihre Hände gefallen. Die Bedeckung hätte sich zur Wehre gesetzt, einige Leute seien gefallen, die übrigen verwundet und gefangen worden, ebenso seien alle Pferde, die hinter dem Regiment hergezogen, eine Beute der Kosaken geworden. Diese hätten zudem ihre Stellung so in einem Walde genommen, daß ihnen mit Infanterie gar nicht beizukommen war. Jenen drei Offizieren, die von Semlewo bis hieher sich gewagt hatten, wurde es nun zu viel. Einer derselben wandte sich an mich mit den Worten: „Nun, junger Mann, was sagen Sie jetzt?“ – „Es sieht sehr gefährlich aus, aber ich kehre nicht um,“ war meine Antwort. „Allez,“ sagte er mit sichtbarem Zorne, „Sie sind ein Narr.“ Sie hatten ein kleines russisches Fuhrwerk mit drei Pferden bespannt bei sich. Mit diesem waren sie ins Gedränge zwischen die Infanterie gekommen und konnten deßhalb nicht gleich umkehren, stiegen ab, spannten die Pferde aus, schwangen sich hinauf und jagten, was die Pferde laufen konnten, Semlewo zu.

Später dachte ich oft daran, ob diese drei Herren auch so glücklich waren wie ich, ihr Vaterland wieder zu sehen. Ich möchte es bezweifeln. An Muth und Entschlossenheit schienen sie keinen Ueberfluß zu haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Leben eines Schlachtenmalers