Abschnitt 4

12 Rückreise.


Nach einigen Stunden kamen wir über das Schlachtfeld bei Borodino. Hier traten mir nochmals die Schrecken des 5. und 7. September lebhaft vor die Augen. Ich hätte mich gerne einen Tag aufgehalten, um manchen wichtigen Punkt zu zeichnen, wozu mir an jenem Tag die Zeit gemangelt hatte, aber in Verhältnissen, in denen man nicht weiß, wovon man am nächsten Tage leben muß, verzögert man ohne dringende Gründe nicht gerne die Fortsetzung der Reise.


Dennoch ließ ich meinen Wagen einige Zeit halten und machte einen Gang über einen mir merkwürdigen Theil des Schlachtfeldes, sah aber dort des Gräßlichen und Ekelerregenden so viel, fand die Luft so verpestet, daß ich bald wieder umkehrte. Die meisten Leichen von Menschen und Pferden waren unbeerdigt liegen geblieben, und es würde ein grauenerregendes Bild, wenn ich eine getreue Schilderung des Zustandes geben sollte, in dem ich diese Jammerstätte achtzehn Tage nach der Schlacht fand. Das Tiefergreifendste, was mir ausstieß, waren sieben Menschen, die, auf einen Knäuel zusammengekrochen, zunächst einem todten Pferde lagen. Fünf hatten ihr jammervolles Loos überstanden, der Tod hatte ihre Martern geendet, aber zwei derselben waren noch nicht aufgelöst, konnten noch sprechen und Lebenszeichen von sich geben. Mitnehmen konnte ich sie nicht, ebenso wenig ihnen Hilfe verschaffen, und ich gestehe, daß mich einen Augenblick der Gedanke überfiel, ihnen den Tod zu geben und sie aus ihrem Elende zu befreien. Mit Entsetzen floh ich vor dieser gräßlichen Erscheinung und sagte schwer aufathmend bei mir selbst: „Ja, der Krieg ist das Grauenhafteste!“ Jene Unglücklichen waren Russen, welche auf dem vaterländischen Boden achtzehn Tage in solchem Jammer hilflos liegen geblieben.

Häufig wurde ich gefragt, wenn ich dieses Ereigniß erzählte, wovon diese Menschen sich so lange ernährt hatten. Hierüber bin ich nicht im Stande, Auskunft zu geben, da ich ihre Sprache nicht verstand und sie überhaupt nicht mehr fähig waren, vieles zu reden; ich habe aber gegründete Ursache, zu glauben, daß sie von dem Cadaver des Pferdes, an das sie herangekrochen, ihr Leben gefristet.

Das Schlachtfeld von Borodino ist in seiner Formation sehr düster; jetzt aber erschien es als abschreckende Wüste. Stundenweit begegnete mir niemand, es schien, daß kein menschliches Wesen hier weilen mochte; jeder trachtete, möglichst schnell vorüber zu kommen. Das melancholische Wetter erhöhte noch den traurigen Eindruck, den hier alles auf uns machte. Mein Thierarzt war glücklich, als ich wieder zurückkam; er hatte keine Lust, eine solche Wanderung über das Schlachtfeld anzutreten und saß inzwischen in peinlicher Ungeduld im Wagen.

Tiefer Ernst hatte sich meiner bemächtigt und stumm zogen wir auf der verödeten Straße fort, die noch überall die Spuren des Kampfes zeigte. Später kamen wir in die Nähe eines Klosters, welches die Hoffnung erregte, dort ein Quartier zu finden, aber wir trafen ein Lazareth, das uns nur neue, recht traurige Bilder vor Augen führte und uns von dort verscheuchte. Abends bot ein großer Schuppen uns und den Pferden ein erträgliches Nachtquartier. Wir bereiteten Thee ohne Zucker und Milch, weil uns beides fehlte, und verzehrten die letzten Reste des Hammels. Die grauenvollen Dinge aber, die ich an diesem Tage gesehen, erfüllten im Traum noch meine Phantasie mit schrecklichen Bildern. Der nächste Morgen brachte uns wieder ein gräßliches Unwetter; unter Sturm, Regen und Schneegestöber schleppten wir uns den 29. auf der kothigen Straße mühsam weiter. Es war der sechste Tag unserer ununterbrochenen Reise. Unsere Pferde fingen an, bei ärmlicher Fütterung und schlechten Straßen große Mattigkeit zu zeigen. Der häufige aus Westen entgegenkommende Wind belästigte uns ganz besonders. Es war überhaupt eine eigenthümliche Erscheinung, daß es bei Tage stürmte und tobte, während die Nächte meistens bisher schön gewesen.

Nachmittags bekamen wir eine Reisegesellschaft: jüdische Kaufleute aus Glogau in Schlesien. Unternehmend wie die meisten Israeliten waren sie der Armee bis Moskau nachgezogen, um Geschäfte zu machen, und schienen nicht unbefriedigt zurückzukehren. Sie sahen gut aus und waren guter Dinge, drei noch ziemlich junge Männer, die sich sehr weltläufig zu benehmen wußten; sie gehörten dem Anzuge und Aussehen nach nicht zu jener Klasse, welcher man auf den ersten Blick den Juden ansieht. Sie hatten sich, wenn auch unvollkommen, in den Ton der gebildeten Klassen hineinstudirt. Ihr Fuhrwerk bestand aus einem mit Segeltuch überspannten, von vier guten Pferden gezogenen Wagen. Es schien ihnen sehr erwünscht, sich an mich anschließen zu können; ich für meinen Theil fand kein besonderes Vergnügen daran. Ich fuhr aus Grundsatz gerne allein, um kein Aufsehen zu erregen, aber ich konnte es ihnen nicht verwehren.

Die Erwartung, in der ansehnlichen Stadt Wjasma ein erträgliches Quartier zu finden, täuschte uns abermals; es war so schlecht, daß wir den Morgen kaum erwarten konnten, diese Stadt im Rücken zu sehen, vor der wir einen Monat früher bei reizendem Herbstwetter voll der schönsten Hoffnungen auf einen baldigen glücklichen Erfolg gestanden hatten.

Bei besserer Witterung setzten wir unsere Reise fort und wurden mit unsern neuen Reisegenossen näher bekannt. Sie schienen einen Werth darauf zu setzen, mit einem Offizier aus dem Gefolge des Vicekönigs zu reisen und bewiesen mir einen gewissen Respekt. Auch wollte mir bedünken, daß ihnen meine Entschiedenheit, mit der ich alles unternahm, selbst mehr Muth und Hoffnung auf eine glückliche Fortsetzung der Reise einflößte. Sie hatten sich mit Zucker und Kaffee vorgesehen und erboten sich, gegen billige Entschädigung mir davon etwas abzulassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Leben eines Schlachtenmalers