Die Nacht des Herabsteigens *

Und am nächsten Tage gegen Abend kommen die Trommelschläger in das Haus der Braut, und nachdem sie dort eine Zeit 26 gespielt und die Anwesenden wieder Münzen gespendet haben, hebt man die Truhe 27 der Braut, gefüllt mit der Ausstattung, 28 auf ein Lasttier, und auf die Truhe noch das Kopfpolster der Braut 29, und nun schreiten die Trommelschläger dem Lasttiere, die Trommeln schlagend voran, bis sie zum Hause des Bräutigams gelangen. Hier nun stellt man Truhe und Kopfkissen ein, und nachdem die Trommelschläger eine Zeitlang im Hause gespielt, verlassen sie dasselbe, während die im Hause Verbliebenen sich niedersetzen; nun treten zwei Notare ein, welche sich auf einer Matratze an der Wand niederlassen. Man bringt die Truhe zu ihnen hin, öffnet sie, nimmt die darinnen enthaltenen Gegenstände heraus und zeigt einen nach dem andern den Notaren 30, und der eine der Notare schreibt die Kleider und Schmuckgegenstände auf. Hierauf legt man die Gegenstände wieder in die Truhe, schließt sie zu und gibt den Schlüssel dem Bräutigam. Der Bräutigam setzt sich vor die Notare hin und deckt sich seinen Burnus über den Kopf 32. Hierauf redet ein Notar von den beiden Notaren den Vater der Braut also an: „Sprich: „Ich habe meine Tochter N. N. an N. N., den Sohn des N. N. verheiratet!“ Wenn der Brautvater diese Worte gesprochen hat, sagt der Notar zum Bräutigam: „Nimmst du sie an?“ Wenn der Bräutigam sagt: „Ich nehme sie an!“, so betet der Notar eine Sure 33, welche folgendermaßen beginnt: „O Gott, vereinige sie beide zum Heile!“ Nach dieser Koranrezitation gehen die Leute hinaus, und auch die Notare verlassen das Haus, und es begibt sich ein jeder nach seiner Wohnung. Und in der Nacht veranstaltet man gewöhnlich eine größere 34 oder kleinere Unterhaltung 35 im Hause des Bräutigams. Im Hause der Braut aber nimmt man um neun Uhr mit der Braut die Zeremonie des „Herabsteigens" vor 36, d. h. man setzt sie auf einen hohen Stuhl 37, während sie angetan ist mit einem Ehrenkleide 38 und an ihren Füßen mit silbernen Brautschuhen 38 bekleidet ist, während ihr Gesicht mit einem silberbestickten Tuche 40 bedeckt ist und ihre Hände mit silbernen Reifen und die Beine mit vier silbernen Knöchelringen 41 geschmückt sind. Sie bleibt auf dem Stuhle sitzen, während die Hochzeitshelferinnen sie besingen und alle Kinder, Jungfrauen und selbst die Frauen ein brennendes Licht in den Händen halten.

Nach ungefähr zehn Minuten entblößt eine Hochzeitshelferin das Gesicht der Braut, und die anwesenden Frauen hören nicht auf sie zu betrachten; und nun hebt eine Hochzeitshelferin sie vom Stuhle herab 42, hält sie (von hinten her) bei der Schulter und lässt sie ganz langsam vorwärtsgehen, indem sie dazu spricht: „Wir haben eine leuchtende Lampe!“ 43 Und die anwesenden Frauen und Kinder antworten ihr: „O Segen der Frommen!“ 44 und. wiederholen diese Worte, bis die Braut das Zimmer erreicht 45. Und die Frauen stoßen Jubeltriller aus, wie sie dies (übrigens schon) an allen Tagen der Hochzeit getan haben. Nachdem die Braut in ihr Zimmer getreten ist, zieht sie jene Kleider aus und gewöhnliche Sachen an; dann färbt man sie wieder mit Henna, und alle Frauen tun dasselbe.


*) Der Name kommt daher, dass in dieser Nacht mit der Braut die Zeremonie des Herabhebens vom hohen Stuhle, auf dem sie Platz genommen hat, vorgenommen wird.

26) Ist in Sfax (wie übrigens auch in Tunis) der übliche Ausdruck
für „eine Weile, eine kurze Zeit". Die Verbalwurzel des Nomens ist
„warten".

27) Die „Truhe der Braut" ist eine ungefähr 1,20 m lange und 80 cm hohe und breite, mit einem Deckel versehene Kiste aus weichem Holz, welche meist bunt bemalt ist (Blumen und Arabesken auf rotem oder grünen Grunde). — In diese Kiste legt die Braut die Gegenstände und Kleider, die sie vom Vater und vom Bräutigam bekommt.

28) Die Ausstattung umfasst die bessern Kleider und Geschenke. —
Die gewöhnlichen Kleider und die weniger feine Wäsche, sowie kleinere, von der Braut selbst angefertigte Handarbeiten, legt die Braut dagegen in einen anderen, kleineren Koffer.

29) Kopfpolster — eine Art längliches (wurstförmiges) Lederkissen, das für beider Ehegatten Köpfe bestimmt ist.

30) Die Notare schreiben die vom Manne gegebenen Gegenstände genau auf, um sie später in den abzufassenden Heiratskontrakt eintragen zu können.

31) Schmuckgegenstände, d. h. alles, was vom Goldschmied, der hier stets ein Jude ist, hergestellt wird.

32) Der Bräutigam deckt den Burnus über seinen Kopf, doch so, dass das Gesicht frei bleibt. — Will er Scham markieren?

33) „eine Sure". — Die fâtha ist eigentlich die erste Sure des Koran. Hier versteht man unter fâtha aber überhaupt eine Rezitation aus dem Koran oder die Rezitation eines im Charakter der Sprache des Koran gehaltenen Gebetes, von Seiten eines Notars, während welcher die Anwesenden in Gebetsstellung mit vorgestreckten Händen andächtig zuhören und am Ende des Gebetes sich mit der Hand über das Kinn streichen. Diese „fâtha" wird bei der Hochzeit immer gegen 4 Uhr nachm. Gebetet.


34) Man versteht unter mbâta das Verbringen der Nacht unter Musik und Produktionen. Gewöhnlich ist eine Musikbande von Juden da, welche spielt und singt, oder es geben religiöse Bruderschaften Vorstellungen; öfters treten auch Tänzerinnen auf. Die ganze Feier endet mit Anbruch des Tages.

35) Die zahwîja ist eine gemütliche Unterhaltung der Familienmitglieder: man spielt etwas auf der târbûqâ, irgend eine Frau tanzt etwas vor, man erzählt Geschichten und verbringt so die Nacht bis zum Morgengrauen.

36) „heruntersteigen lassen, herunterbringen“

37) Es kommt indessen kein besonderer Stuhl in Frage, sondern es handelt sich ganz einfach um eine Bank, auf welche man einen Sessel stellt.

38) „Ehrenkleid“ ist eine Art Hemd mit Ärmeln aus buntem Seidenstoff, das über und über mit Silberstickereien bedeckt ist.

39) Ein niedriger, mit Silber gestickter Schuh, der statt eines Absatzes einen Eisenbeschlag aufweist.

40) Ein Seidentuch mit Silberstickereien.

41) Gewöhnlich tragen die Frauen nur je einen Knöchelring an jedem Fuße, — bei dieser Zeremonie aber je zwei.

42) Von diesem Herunterheben oder Heruntersteigenlassen hat also die ganze Nacht ihren Namen.

43) Mit der „leuchtenden Lampe“ ist natürlich die schön geschmückte Braut gemeint.

44) Hiermit ruft man den Segen der Heiligen für die Brautleute an.

45) d. h. bis sie in ein anstoßendes Gemach geht, in dem sie sich abseits von den anderen Gästen aus- und anziehen kann.