Judith die Zweite

Zur Zeit, als sich die folgende Begebenheit zutrug, sah es im Ghetto ganz anders aus, als jetzt. Die Leute waren damals viel unglücklicher daran als heutzutage, und das rührte hauptsachlich davon her — weil sie keine Zeitungen lasen. Jetzt ist das freilich ganz anders worden. Das Ghetto liest nicht nur, sondern schreibt sich selbst seine Zeitungen, und zur Bundesarmee des gedruckten Wortes stellt es ein gar beträchtliches Kontingent. Das Ghetto hat Federn, die bloß in seinem Solde stehen; nur schade, dass es nicht schon damals verstand, sie gehörig in Bewegung zu setzen. Denn dadurch ist manche Geschichte zu Boden gefallen, die jetzt wie eine gestrandete kostbare Beute mit Stricken und Haken ans Land gerettet würde — und nun vergessen bleibt. Wenn aber heutzutage der Vorsteher irgend einer versteckten Gemeinde das Unglück hat, gerade nicht im Besitze der allerschönsten Nase zu sein, so kann man das morgen oder übermorgen ganz sicher überall ausposaunt lesen — der arme Vorsteher und seine Nase!

Wie für so viele andere Dinge muss man aber die Leute im Ghetto auch darum entschuldigen. Sie hatten damals nicht Zeit zu lesen, oder gar zu schreiben. Ein einziger Mensch besaß damals die ganze Zeit, er hieß Napoleon, die andern hatten nur Momente. In solchen Momenten konnten die Anderen eben nur Atem schöpfen, wenn er ihnen nicht schon früher ausgegangen war. Wie konnte man da schreiben? Die Hand zitterte unter dem Trommellärm und brachte nichts als unleserliche Fliegeneier aufs Papier. Und wie sollte da das arme furchtsame Ghetto, wo Alles schwieg, seine heisere Stimme erheben? Noch gab es damals keine Parteien, die das schwere dogmatische Geschütz gegen einander aufführten; die Kugeln, die damals fielen, machten einem Streit sogleich ein Ende, während sie ihn heute gewöhnlich noch mehr entzünden, und das einzige Dogma, das damals galt, war stärker als der ganze babylonische Talmud. Es hieß Brandschatzung; wollten die Leute nicht recht daran glauben, so donnerten die Kanonen dazu — die sind von jeher die besten Proselytenmacher gewesen.


Dennoch hat das Ghetto seine Geschichte jener Tage; es flattert dort manch ungeschrieben Stück davon. Die Gestalt, die damals mit Siebenmeilenstiefeln über die Erde ging, war so groß, dass sie auch über die Mauern des Ghettos hinübersah. Aber von dem einen Blicke haben die Leute noch jetzt zu erzählen. Wenn ihr daher ein altes Mütterchen, das noch jetzt rot wird, wie eine Klatschrose, wenn man ihr von der lustigen „Franzosenzeit" spricht, oder einen Dorfgeher nicht verschmähet, der als Knabe mit der Pike eines Baschkiren gespielt hat, oder eine eingemauerte Bombe aus jener Zeit — so wollen wir Euch Folgendes berichten.

Es war kurz nach der Schlacht bei Aspern. Uns erging es damals wie den Helden manches modernen Romans, Tugend und Ausdauer müssen zuletzt vor der einbrechenden Gewalt Kehraus machen. Aspern war nur die Episode, aber Wagram die Katastrophe dazu.

Von beiden Orten hatte man nach Preßburg nur einen Sprung. Man brauchte bloß dem Laufe der Donau zu folgen, so fanden die Kanonen den Weg schon von selbst hin. Also konnte es gar kein Wunder nehmen, da die Franzosen eines Tages vor dem Preßburger Brückenkopf erschienen, in der ganz unverholenen Absicht, erst ihn und dann die Stadt selbst zu nehmen. —
Ich weiß es im Augenblicke gerade nicht, wie lange da hinüber- und herüber geschossen wurde; aber eines Tages als man glaubte, die Kugeln hätte eine momentane Ohnmacht überfallen, kamen sie wieder lustig und lebendiger als je herangeflogen. Da entstand großer Jammer im Ghetto. Es liegt das so ganz offen nach der Flussseite und wiewohl ein eisernes Gitter von jeher die zarte Bestimmung hat, die Leute d'rin vor der Berührung mit draußen zu bewahren, so flogen die Kugeln doch so ohne Scheu hinüber, als wussten sie nicht, dass dort gewöhnlich der Stadttrabant saß, der keine Maus durchließ, ohne ihr auf den Schwanz zu treten. Wo saß aber jetzt der Trabant? Die Leute rannten und flüchteten, begruben ihre besten Sachen in den Kellern und waren blass wie der Tod. Hier und da stammte ein Haus auf, und die Bomben statt durch diesen Anblick mitleidig zu werden, fuhren noch grimmiger drein und schürten, wie böse Ankläger, das Feuer noch mehr an. —

Man kennt das Ende vom Lied. Einige Zeit darauf saßen die Franzosen mit ihren sächsischen Freunden in der alten Krönungsstadt; für das Ghetto fing aber das Lied erst an.

Die Leute hatten ihre guten und schlechten Tage. Man mag sagen, was man will, die Umstände wissen sie ganz prächtig zu benutzen. Was sie auf der einen Seite durch Einquartierung und Brandschatzung verloren, das gewannen sie auf der andern durch Klugheit und „Spekulation." Was man ihnen eimerweise genommen, das schöpften sie wieder in Löffeln zurück. Die Franzosen konnten nicht soviel in die Tasche stecken, als durchfiel, und man kann denken, die Leute im Ghetto waren nicht die Letzten, die sich bückten, um es aufzuheben.

Manchem steht daher die „Franzosenzeit" noch jetzt wie ein voller Geldbeutel vor den Augen.

Aber nicht Alle dachten gleich gut. Da war um diese Zeit Leb Rother der unglücklichste Mensch in ganz Preßburg. Rother hieß er von seinen Haaren; es flammte darunter der grimmigste Hass gegen die Franzosen. Leb Rother war einmal mit den Martinigänsen, die die Preßburger Gemeinde alljährlich an den „Hof" verehrt, in Schönbrunn gewesen, und da hatte er mit dem Kaiser selbst gesprochen. War das nicht hinlängliche Ursache, dass er seit jener Zeit in einem beständigen Begeisterungsrausch lebte? Leb hasste die Franzosen, wie man die Feinde eines Kaisers, der mit „Einem" gesprochen, hassen muss. Wenn er im Schemona Esre zu jener Stelle kam, wo man Gott um die Zerknirschung seiner Feinde bittet, dachte er sich immer die Franzosen darunter. Jedes Wort, das er aussprach, hätte sich in eine Kugel verwandeln mögen, um in sie zu stürzen!

Am Tage der Schlacht bei Wagram, man kannte ihr Schicksal noch nicht, da ging dieser Leb Rother wie ein Halbtrunkener in der Gasse herum. Er lief mehr als er ging, und taumelte mehr, als er lief. Jeden hielt er an und fragte ihn, ob der „Franzos" oder der Kaiser gewonnen habe, und da ihm Keiner Auskunft geben konnte, so geriet er in heftigen Zorn und ging mit einem schrecklichen Fluch davon. „Verschwarzte Franzosen" hörte man ihn oft rufen, die Leute lachten ihn aus. Oft blieb er mitten in der Gasse stehen, und fing da an zu beten. Wenn man deutlich zuhörte, konnte man Bruchstücke aus den Psalmen des Königs David vernehmen.

Kein Mensch wusste, was mit diesem Leb Rother vorging. Nur er selbst, er hatte in seiner Art einen Entschluss gefasst, der den Franzosen einen beträchtlichen Schaden zufügen konnte, wenn er zur Ausführung kam. Er war kühn, aber möglich. In der Nacht nämlich wollte er auf das Schlachtfeld hinauseilen, die Kleider, Gewehre und Sattelzeug, und was sich Alles auf geheimen Wegen, die er sehr gut kannte, fortbringen ließ, seinem Kaiser nach Ofen zuführen, wo sich damals die Monturmagazine befanden. —

Man sieht, der Entschluss Leb Rothers war etwas praktischer Natur, denn er hoffte bei dem „Geschäft" einen recht hübschen Gewinn zu machen, aber für jene Zeit durch und durch patriotisch. Nur brauchte er zur Ausführung einen Gehilfen, der die Gefahr zur Hälfte auf seine Schulter nahm. Das war es eben, was ihn so ruhelos im Ghetto umhertrieb; er fand Keinen, dem er Mut genug zugetraut hätte, und allein hatte wieder er nicht Mut genug.

Zum Glück besann sich Leb Rother in seiner Drangsal, dass er einen Freund habe. Es war dies der lange Christoph, Wirt zum goldenen Kreuz auf dem Schlossberge, im Ghetto auch Rebb Christoph zubenannt. Mit diesem Rebb Christoph hatte es ein eigenes Bewandtnis; er war mehr Jud' als Christ. Im Ghetto geboren und „aufgewachsen" war er mit den Sitten, Gebräuchen und Zeremonien der Leute ganz vertraut. Den Jargon sprach er so meisterhaft, dass man sich's kaum einredete, der Mann könne hinterdrein zur Beichte gehen, oder ein Kreuz schlagen. Überhaupt war dieser Christoph eine gar drollige Natur. Am liebsten verkehrte er mit Juden, und wenn die Leute aus der Synagoge gingen, so stand er gewöhnlich draußen vor seinem Haus und wünschte ihnen: gut Schabbes oder gut Jontef (Feiertag). Das „Rebb" bekam er bei folgender Gelegenheit. Er sah einmal am Freitag Abends einen Schnorrer an sich vorübergehen, den fragte er, nachdem er ihn früher mit dem Gruß: Salem Alekem (Friede mit euch) bewillkommt hatte: „Habt Ihr schon ein Balbos, wo ihr zu Schabbes essen könnt? Der Schnorrer verneinte es. „Nun, so seid Ihr mein Gast auf Schabbes," sagte ihm der Christoph und führte ihn ins Haus, wo er ihn ganz nach jüdischer Art bewirtete. Ehe er zu Tische ging, wusch er sich die Hände und sprach dann über das Brot die Segnung aus. Nachdem abgespeist war, verehrte er dem Gaste das „Benschen", d. i. den Tischsegen, und da jener zufällig einen Fehler beging, wurde der Christoph ganz zornig und sagte: „Ihr seid ein Amhoretz (Ignorant), Gast, und nicht wert, dass Euch ein guter Jud' zum Essen einlad't." Erst beim Weggehen erklärte er dem Schnorrer, bei wem er gegessen! Seit jener Zeit hieß er im Ghetto „Rebb" Christoph. —

Zu diesem Christoph ging nun Leb Rother in seiner Not und vertraute ihm seinen Plan. Im Punkte des Patriotismus gab ihm Christoph nichts nach, auch war er gegen einen verständigen Gewinn nicht unempfindlich. Sie hatten eine lange Unterredung mit einander und als Leb Rother fortging, sagte Rebb Christoph im Jargon: „Nu, Leb, die Kalle hat also ihren Choßen" (die Braut hat ihren Bräutigam), womit er sagen wollte, das Geschäft sei abgeschlossen, worauf Leb Rother sagte: „Gut, und heut' Nacht ist die Chassne (Hochzeit)." Man versteht schon den mystischen Sinn dieser Worte. —

Wir können hier den Beiden nicht durch die Schlangenwindungen ihres Geschäftes folgen; es gelang ihnen vollkommen. Christoph hatte den Mut und Leb die Verschlagenheit — zusammen gab das den Erfolg. Wer in einer solchen Zeit lebte, wie unsere beiden Freunde, wo jeder Tag ein lebendes Beispiel brachte, den wird das nicht in Staunen versetzen. Wem damals nicht der Kopf zufällig „von selbst" herabfiel, der konnte hoffen, ihn bei der nächsten Gelegenheit um so höher aufzusetzen. — In Zeit von einigen Tagen war alles vorüber, mit Hilfe von Bauern hatten sie ganze Massen von Gewehren, Sattelzeug und Kleidern nach Ofen befördert, und kehrten nun von dort, mit dem klingenden Gewinn in der Tasche, jeder einzeln nach Preßburg zurück.

Während dieser Zeit war dem Leb Rother und seinem Freunde Christoph ein furchtbarer Feind erstanden — in einer alten französischen Grammatik. Man wird das unbegreiflich finden, wenn man nicht weiß, dass Chajim Franzos damals die wichtigste Person in ganz Preßburg war.

Dieser Chajim war eine Art Winkellehrer, der um acht Groschen die Woche die Kinder der „Balbatim" im Schreiben, Lesen und Rechnen und auch in der Bibel unterrichtete. In müßigen Stunden lernte er aus einer Grammatik französische Vokabeln; er hatte sie von einem Trödler statt Wochengeldes bekommen.

Aber diese Grammatik war jetzt ein Kapital, das seine herrlichen Interessen trug. Wer damals die Konversationssprache der Weltgeschichte verstand, der war gut daran. Da kann man sich's nun leicht vorstellen, welch ein Franzosenfreund der Chajim war! Sie verstanden ja seine Sprache! Bei dem Einzuge der großen Armee konnte man ihn sehen, wie er barhaupt vor den Kolonnen einherlief und seinen Hut ganz begeistert schwenkte. Er soll auch „vive I'empereur" gerufen haben, was aber noch Bestätigung bedarf. In kurzer Zeit hatte er sich an irgend einen schnurrbärtigen Sergeanten herangemacht, mit dem er nun, Arm in Arm, und noch im Gefolge einiger „Unbesiegbaren," durch das Ghetto spazierte. War es Zufall oder Absicht: dem Chajim war die Gasse noch nie so merkwürdig vorgekommen, als gerade jetzt. Vor jedem Hause und Gewölbe blieb er mit dem Sergeanten stehen und hielt da eine prächtige Suada, worüber den Leuten buchstäblich das Sehen und Hören verging. Besonders verschwenderisch ging Chajim mit dem „Bougre" und „Sacrebleu" um; Tags darauf betitelten sich die Kinder in der Gasse mit Bougre und „Sacrebleu!

Bei dem allem war Chajim die wichtigste Person in Preßburg. Wer was bei der großen Armee anzubringen hatte, ging zu Chajim Franzos. Alles ging durch seine Hände; er machte den Unterhändler. Dabei vergaß er sich keineswegs; denn da er der Erste „bei der Hand" war, so handelte er goldene Uhren, Silberbestecke, Geschmeide und was sonst die Unbesiegbaren bei sich als leichte Beute trugen, um Preise ein, über die den ehemaligen Besitzern graue Haare gewachsen wären!

Singend und jubelnd durchzog Chajim mit seinem Sergeanten das Ghetto, Tag für Tag, ja oft auch in der Nacht.

Nur wenn er an einem Hause auf dem Schlossberge vorüberkam, wurde er plötzlich still und die Geister seiner Lustigkeit besänftigten sich auf einen Augenblick.

Denn dort wohnte Blumele, seine Braut, die er nach den Feiertagen heiraten sollte. Chajim liebte das Mädchen, sie war schön und gut; er nahm sie ganz ohne Eigennutz, denn Blumele war eine Waise, der Vater hatte ihr nichts nachgelassen. Und doch, wenn Chajim daran dachte, dass Blumele bald sein Weib sein werde, überkam es ihn stets wie eine unaussprechliche Segnung! Er glaubte sich tief beglückt und gleichsam begnadigt von Blumele, und doch war er es eigentlich, der sie nahm! —

Am Abend, wenn er seine Tagesbeute an Uhren, Silberbestecken und Geschmeide beisammen hatte, trug er sie zu Blumele, damit sie es „aufhebe." Das Alles sollte einen schönen Beitrag zu ihrer Mitgift geben. Aber das Mädchen sagte nie ein Wort dazu, sie trug die Sachen an ihren Versteck, aber sie freute sich nicht. Chajim meinte, er bringe nicht genug und darum sei Blumele so traurig, und um ihr zu beweisen, dass er kein Schlemiel sei, bemühte er sich noch mehr. Aber je mehr erbrachte, desto verdrießlicher wurde Blumele. Nie sprach sie, aber um so mehr ihre Tränen.

Zuletzt ärgerte sich Chajim ganz gewaltig über diese Teilnahmslosigkeit seiner Braut. Am 9. Tage des Monates Ab kam er, nachdem er früher mit dem Sergeanten und noch andern ganz lustig gewesen war, zu Blumele. An diesem Tage ist Jerusalem zerstört worden und in der Synagoge ertönten die weinend traurigen Klagen darum; die Leute hielten Fasten. Bei seinem Eintreten rief er ganz selig: „Gut Jontef (Feiertag) Blumele! Da bring' ich Dir wieder schöne Sachen."

Er legte dabei seine glänzende Beute auf den Tisch. Aber das Mädchen schob die Dinge mit einer heftigen Gebärde von sich, dass einige Stucke klirrend auf den Boden fielen. Da wurde Chajim gewaltig böse, er schrie: „Jetzt hab' ich's genug, willst Du nicht, dass ich Geld verdiene?"

Blumele sagte aber mit tränenerstickter Stimme: „Halt's für Dich; es kleben Sünden daran."

„Narrele," sagte Chajim lächelnd, „Geld verdienen ist keine Sünd'. Der Mensch muss es ja zu was bringen."

„Chajim, Chajim, wie redtest Du um Gotteswillen," rief das Mädchen voll Schrecken aus und schlug die Hände zusammen. „Aus Dir redt ja der Wein!"

„Der Wein?" lallte Chajim, nun selbst erschrocken, „wer sagt Dir das?"

„Am heutigen Tag zu trinken! wehgeschrien," klagte Blumele, „kann Dir denn das gut ausgehen, Chajim? Weißt Du, was heut für ein Tag ist?

Dem Chajim klang diese Frage wie ein Donner; er erinnerte sich, dass er heute eigentlich fasten müsse. So untergegangen war er in seinem tollen Treiben! Er bat Blumele um Verzeihung und gelobte Besserung. Der Verbündete der großen Armee zitterte wie ein Espenblatt.

Als er von Blümele weggegangen war, ärgerte er sich gewaltig, dass er sie so viel habe reden lassen. „Ich nehm' sie ohn' Kreuzer Geld zum Weib und sie zankt da mit mir, als möcht' sie mich von der Gass' aufheben. Soll ich das leiden, dass sie mir über den Kopf wachst?" Einen Augenblick darauf hätte er diesen Gedanken gern mit ätzender Lauge aus seiner Seele gebracht! —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Ghetto