Aus dem Berliner Leben.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 4. 1878
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Presse, Medienmacht, Zeitung, Gesellschaft, Lebensbedürfnisse,
Eine der „Mächte“ in; heutigen Leben ist die Presse, nicht allein eine Macht als Gesamtausdruck der geistigen Bestrebungen einer Epoche, sondern auch eine soziale und materielle Macht als das Organ von Angebot und Konsum auf allen Gebieten des alltäglichen Lebens. Die politische Zeitung schaut wohl mit einer gewissen vornehmen Geringschätzung auf das reine Anzeige- oder Intelligenzblatt herab und sieht in dem „Butterblättchen“ keine gleichberechtigte und ebenbürtige Kollegin, allein gleichwohl ist das Intelligenzblatt für die heutige Gesellschaft entschieden ein ebenso großes und für die arbeitende Klasse sogar ein noch größeres und unabweisbareres Lebensbedürfnis als die Zeitung. Hiervon können wir uns in jeder größeren Stadt täglich überzeugen, wenn wir die Gruppen betrachten, welche sich zur Zeit der Ausgabe der neuesten Nummer um die Expedition des betreffenden Tage- oder Intelligenzblattes sammeln.

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Was aber für andere bedeutendere Städte gilt, das gilt in erster Reihe für Berlin, die neue Hauptstadt des deutschen Reiches mit mehr als einer Million Einwohner, dem Schwerpunkt wie des preußischen Staates so des deutschen Reiches, wohin als zu einem gewaltigen Zentrum geistigen und materiellen Lebens so viele verfügbare Kräfte gravitieren, um daselbst ihr Heil zu versuchen. Tausende von feiernden Arbeitern aller Art und von beiden Geschlechtern, Tausende von Dienstboten harren täglich auf das Erscheinen des „Berliner Intelligenzblattes“, um eine ihnen passende Stelle oder Beschäftigung zu erfahren. Dieser sucht eine Mietwohnung, jener hat eine solche zu vergeben. Dieser wünscht Geld aufzunehmen, jener hat solches zu verleihen. Dazu kommen noch Versteigerungen, Ausverkäufe und Kaufs- und Verkaufs-Gesuche, die. sich alle auf diesem bequemsten, wirksamsten und gewöhnlichsten Wege an die Öffentlichkeit wenden. Fast Alles, was nur von Gesuch und Angebot in einer größeren Stadt auftaucht, muss seinen Weg durch die Spalten des Intelligenzblattes an die Öffentlichkeit nehmen, und das erstreckt sich nicht nur auf das Notwendige und Nützliche, sondern auch auf das Angenehme, denn die Ankündigungen, welche die Genüsse, Vergnügungen und Unterhaltungen einer Stadt betreffen, nehmen ja keinen geringen Raum in den Spalten des Intelligenzblattes ein. Das „Berliner Intelligenzblatt“, lange Jahre durch die gesetzliche Bestimmung, dass alle Anzeigen erst in ihm erscheinen mussten, bevor sie in einer der politischen Zeitungen Aufnahme finden konnten, mit einer Art Monopol versehen, ist das sehnlichst erwartete tägliche Orakel für Tausende. In den späten Nachmittagsstunden — zwischen 5 — 6 Uhr — wo die Ausgabe der neuen Nummer ihren Anfang nimmt, deren Inhalt einen stattlichen Oktavband füllen würde, sehen wir die Straße, in welcher sich das Lokal der Hayn'schen Buchdruckerei, der Hauptausgabeort des Blattes, sich befindet, die zum Südwesten des Berliner Stadt-Post-Bezirkes gehörende Zimmerstraße, von einem so dichten Menschenknäuel gestopft, dass ohne die Aufstellung mehrerer Schutzmänner der Verkehr darin völlig gesperrt werden würde. Unter diesem Menschengewühl aber fallen Schaaren älterer Frauen und Männer ans; sie sind die Ersten, die sich an die Ausgabeschalter drängen, um vor Anderen eine Anzahl Exemplare der fertig gewordenen Nummern zu erbeuten, denn sie wollen mit diesen Nummern gleich auf offener Straße ein kleines Leihgeschäft etablieren, das sich stets der eifrigsten Kundschaft erfreut. Für sechs Pfennige Leihgeld darf man die Seite des Blattes lesen, deren Anzeigen uns zunächst interessieren, wer aber 12—15 Pfennige zahlt, dem ist die Lektüre der ganzen Nummer gestattet. Da sieht man denn nun, wie sich Dienstmädchen und Arbeiter, arme Weiber und Männer, junge Burschen und Knaben um diese also entlehnten Nummern sammeln, welche sorgfältig von den Verleihern oder Verleiherinnen im Auge behalten werden, damit nicht etwa ein Durchgehen mit dem Blatte eintritt. Dass die Leihgebühren stets vor geschehener Lektüre zu erlegen sind, ist selbstverständlich. Andere erwerben sich das Blatt auch eigentümlich, sind jedoch so begierig, aus demselben die Inserate herauszulesen, die ihnen oft genug Trost oder Verzweiflung, Brot oder Hunger bedeuten, dass sie mit der Lektüre nicht warten, bis sie mit ihren Nummern unter Dach und Fach sind, vielmehr ebenfalls sofort die Straße zu ihrem Lesekabinett erwählen, selbst wenn das Wetter sich noch so ungemütlich aufführt. Und mit ihnen guckt dann immer noch dieser oder jener Gratisleser, eine und die andere Gratisleserin in das Blatt, so dass sich rundum kleine Gruppen bilden, die, wie es unsere Abbildung zeigt, dein Stift des Genremalers die interessantesten Motive darbieten. Dass es auch Lesekeller gibt, unterirdische Wirtschaftslokale, in denen gegen Zahlung von 12 — 18 Pfennigen das Intelligenzblatt gelesen werden kann, sei zum Schluss noch erwähnt.

Die Ausgabe des Intelligenzblattes in Berlin

Die Ausgabe des Intelligenzblattes in Berlin