Unter der goldenen Horde.

Quo semel est imbuta recens, servabit odorem Testa diu.
Horat.


Es ist kein Zweifel, dass die Russen einst, das heißt etwa vor achthundert Jahren, in der Kultur hinter den Deutschen keineswegs zurückstanden. Später sind sie in so weiter Entfernung zurückgeblieben, dass der Deutsche sie Barbaren nennen durfte. Ein ähnliches Schauspiel bieten in den Schulen manche Knaben; anfangs, wo es sich um die Elemente des Wissens handelt, halten die Fleißigen alle ziemlich gleichen Schritt; erst in den höheren Stadien des Unterrichts, wenn die Ideen hervorbrechen sollen, macht sich der große Unterschied ihrer Begabung geltend.


Allein es wäre ungerecht, den geringen Fortschritt der russischen Kultur einzig auf Rechnung der Nationalität zu schreiben; dieses Volk hat es immerhin doch, zumal in politischer Hinsicht, erheblich weiter gebracht, als die andern Slawen. Einen Teil der Schuld trägt vielmehr ein Naturereignis, welches die Russen, nachdem sie kaum den gebildeten Völkern Europas beigetreten, auf geraume Zeit von deren Seite riss. Dieses Ereignis war der Einfall der Mongolen in Russland und was demselben zunächst folgte.

Wie die großen Pesten, welche von Zeit zu Zeit die Menschheit verheeren, unerklärbar in ihren Gründen und unberechenbar in ihrem Gange sind, so bleiben die Völkerstürme ein Rätsel, die zuweilen im Herzen Asiens ausbrachen und in ungeheuerem Wirbel über Asien und Europa zerstörend dahinfuhren. Kriegsmut, Raubsucht war den Nomaden Turans und der Mongolei stets eigen, aber sie pflegten ihre wilden Triebe in Grenz- und Stammeskriegen zu vertoben; was bewog sie plötzlich ihren altüberlieferten Hader zu vergessen und einmütig in unabsehbaren Schwärmen sich auf den Wink eines Einzigen über die zivilisierte Welt zu stürzen?

Es geschah im Jahre 1209, dass der Mongole Temudschin, genannt Dschingiskhan, das ist der große Khan, an der Spitze von Myriaden wilder Krieger in China einfiel und dieses weite Land im Fluge eroberte. Von hier aus unterjochte er die Reiche Mittelasiens und nachdem Millionen von Menschenleben vernichtet waren, gehorchte ihm der zahlreichste Teil der Menschheit, nämlich alles Volk vom Eismeer bis zum Ganges, von Peking bis zum Kaspisee. Im Jahre 1223 befahl er einem seiner Feldherren, auch die Länder im Westen zu unterwerfen.

Bald kamen, wie Sturmvögel vor dem nahenden Ungewitter oder wie Tiere, welche vor dem Präriefeuer fliehen, über die Ostgrenze Russlands Scharen auf Scharen flüchtiger Menschen herein; voran die Völkerschaft der Polowzer, sonst schlimme Nachbarn, jetzt mit Jammergeheul um Schutz flehend. Weinend verteilte ihr Khan sein Vieh und seine Sklaven an die russischen Fürsten und rief: „Heute mir, morgen dir! in wenig Tagen wird es euch Russen ergehen wie uns!“

Die Prophezeiung hatte Grund genug. Russland war damals in mehrere Dutzend von Kleinstaaten zersplittert, und unter seinen Fürsten fand sich keiner, der soviel Geist und Kraft besaß, um die andern zu planmäßigem gemeinsamen Handeln mit sich fortreißen zu können. Der erste Schrecken brachte sie zwar auf einen Augenblick zur Eintracht; und ein großes russisches Heer trat den Mongolen entgegen, als sie im Jahre 1224 in Südrussland einrückten; aber schlecht geführt erlag es in einer blutigen Schlacht (am Flusse Kalka, 16. Juni). Ein günstiges Geschick gewährte den Russen noch eine Frist, um sich in bessere Verfassung zur Abwehr eines solchen Feindes zu setzen. Denn die Sieger kehrten nach Asien zurück, und ihre Unternehmungen gerieten bald darauf durch den Tod Dschingiskhans für einige Jahre ins Stocken. Doch die russischen Fürsten benutzten den Wink der Vorsehung nicht; das Reich blieb, wie es gewesen, hauptlos und machtlos. Als Dschingiskhans Sohn Oktal sich anschickte, das Werk des Vaters wieder aufzunehmen, da hatte er mit Russland ein leichtes Spiel.

Dschingiskhans letzter Wille an seinen Nachfolger war gewesen: „Nur mit besiegten Völkern schließe Frieden!“ und mit dieser Losung kam jetzt Oktai's Feldherr, Batu, über die Wolga herein. Stadt auf Stadt ging hinter ihm in Flammen auf, und ein Fürstentum nach dem andern wurde von den Hufen der Mongolenrosse zertreten. Ein Fürst von Rjäsan bot Geschenke. „Wozu?“ erwiderte Batu. „Mir als euerm künftigen Herrn gehört ja ohnehin alles, was ihr besitzet. Doch, Fürst Fedor, du hast eine schöne Gattin; führe sie mir zu, so will ich dein Freund sein.“ Fedor verschmähte es, sein Leben um diesen Preis zu erkaufen; er wurde niedergehauen; alle die Seinigen fielen dann im Kampfe, und über die Trümmer der rauchenden Stadt zog der Mongole weiter. Heldenhaft, wenngleich hoffnungslos, verteidigte sich die Stadt Koselsk, deshalb von den Mongolen die böse Stadt genannt. Der Fürst von Koselsk (so erzählt die Sage) war ein Kind von zehn Jahren; während des Straßenkampfes verschwand er — er war im Blute ertrunken.

Von allen russischen Staaten blieb allein Nowgorod verschont, Dank den dichten finstern Wäldern und den Sümpfen, die es im Süden begrenzten, und die Batu für seine Reitergeschwader undurchdringlich fand. Das Schicksal des übrigen Russlands war nun bei den Mongolen ein Gegenstand der Beratung. Eine Partei schlug vor, Städte und Dörfer zu verbrennen, die Einwohner als Sklaven nach Asien abzuführen und aus Russland einen großen Weideplatz für die Viehheerden zu machen. Doch siegte die Meinung, dass es vortheilhafter sei, die russische Nation, bestehen zu lassen, von ihr regelmässige Abgaben zu erheben und sie in strenger Untertänigkeit zu erhalten.

So wurden die Russen die Knechte eines Barbarenvolkes, und man kann nicht sagen, dass sie alles daran gesetzt haben, das schmähliche Joch sobald wie möglich wieder abzuschütteln. Nach Oktai's Tode zerfiel das große Mongolenreich in fünf Stücke, mongolisch „Horden“ d. i. Lager 18) genannt; jede unter einem eigenen Khan oder Fürsten. Auch dasjenige Khanat, welchem nun Russland zugeteilt wurde, das Khanat der sogenannten goldenen Horde, erlitt bald ebenfalls das Schicksal, dass sich von ihm unabhängige Staaten abzweigten; dennoch verharrten die russischen Fürsten auch dem so geschwächten Feinde gegenüber noch lange Zeit im Gehorsam. Mehr als zweihundert Jahre hindurch ist Russland jener Horde dienstbar gewesen.

„Die Tattern sind grausam und scheußlich von Angesicht und von Sitten,“ schreibt ein alter Chronist von diesen Mongolen, und sein Urteil bestätigen die Berichte, die uns über das Aussehen und die Lebensweise jener Beherrscher Russlands erhalten sind. Es ergibt sich aus ihnen folgendes Bild: Kleine Gestalten mit schmalem Oberleib und kurzen Schienbeinen; in dem breiten Antlitz eine platte Nase und eng geschlitzte Augen; wenig Haarwuchs, kaum auf der Oberlippe und am Kinn ein schwacher Anflug von Bart; der Kopf zu einer hufeisenförmigen Glatze geschoren, die am Hinterhaupt einige schwarze Zöpfe umkränzten. Ein schwarzes Gewand, welches den rechten Arm und die Brust freiließ, im Kriege ein lederner Harnisch, das war die gewöhnliche Tracht. Die Weiber, die den Männern an Hässlichkeit gleichkamen, trugen Hosen wie diese und auch ein ähnliches Obergewand; doch liebten sie es sich in Seide zu kleiden, und sie putzten sich gern mit Pfauenfedern, Perlen und Edelsteinen; ihr Kopfschmuck war ein Hut von anderthalb Fuss Höhe, der wie ein runder Korb aussah und sich nach oben sehr erweiterte. Beide Geschlechter sassen fast immer zu Pferde; wenn der Mongole ging, so geschah es ungeschickt genug — er bewegte sich dann wie die Frösche, bald sehr langsam, bald sprungweise. Sein Haus war der Wagen, ein großes Fahrzeug, bespannt mit einem Zeltdach aus Tierhäuten und gezogen von Ochsen oder Kameelen. Sein Reichtum bestand in Vieh und Sklaven; mit seinen Herden zog er im Sommer ins Gebirge, im Winter in die Ebene dem Meere zu. Seine Speisen waren hauptsächlich Milch, Hirse, Gemüse und Wildpret; letzteres fehlte ihm selten, denn er war ein ausgezeichneter Jäger. Von klein auf mussten die Kinder sich im Bogenschiessen üben, und der Knabe bekam nicht eher etwas zu essen, als bis er mit seinem Pfeile die Scheibe in den Fleck getroffen. Hatte der Reiter gerade keine andere Nahrung zur Hand, so stillte er Hunger und Durst, indem er seinem Pferde eine Ader öffnete und das Blut trank. Er behauptete, dies tue den Tieren gut.

Die Mongolen glaubten an einen höchsten Gott, den sie Hichoga nannten; aber sie ehrten ihn wenig. Dagegen gaben sie viel auf Träume und suchten sich durch allerlei abergläubische Bräuche gegen Unheil zu schützen. Sie machten sich gewisse Hausgötzen aus Lumpen und stellten diese Puppen an den Eingang ihres Viehhofs und ihres Zeltes; davon erwarteten sie Mehrung ihrer Habe. Auch hängten sie solche um das Bett eines Kranken, damit er gesund werde. Andere Götzenbilder aus Seide brachte der Mongole vorn auf seinem Wagen an oder nähte sie sich auf die Hosen. Es war die Hauptbeschäftigung der vornehmen Frauen, solche Götter anzufertigen. Zur Einweihung eines neuen Götzen dieser Art wurde ein Schaf geschlachtet, gekocht und von der Familie verzehrt, bis auf Herz und Knochen, welche man als Opfer verbrannte. Vor einer Schlacht pflegte man Ziegenböcke zu opfern; bei einer solchen Gelegenheit erhielt der angesehenste Götze wohl auch einige Pferde, die man indess nicht schlachtete, sondern ihm zu Ehren frei herumlaufen Ließ.

Ihre Gebete richteten die Mongolen an die Sonne, den Mond und die vier Elemente. Diesen Naturmächten opferten die Frömmeren von allem Vieh die erste Frucht. Aber auch ihrem Könige, dem Khan oder wie der Titel eigentlich lautete, Chaam, erzeigten sie göttliche Ehre; und er bekam von dem Volke größere Abgaben als die Priesterschaft.

Der Mongole war in hohem Grade geizig und habsüchtig, daher in der Regel ein Dieb, Räuber oder Wucherer, wenn nicht alles zugleich. Was er an Geld im Guten oder Bösen erworben, lieh er gern aus, und der gewöhnliche Zins, den er nahm, betrug auf den Monat zehn Prozent. Immer bereit zu empfangen, waren seine Hände meist geschlossen, wenn er geben sollte, und zu Spenden der Dankbarkeit oder des Mitleids öffneten sie sich fast niemals. Er zog viel Vieh, aber sein Geiz erlaubte ihm nicht es zu essen; nur das kranke oder beschädigte wurde geschlachtet. Dagegen frass er unbedenklich Hunde, Katzen, Läuse, die nichts kosteten; auch Menschenfleisch, insbesondere von erschlagenen Feinden. Als Batu's Heer die Rumänen in der Moldau bezwungen hatte, waren der Gefangenen so viele, dass bei den Siegern der Appetit über den Geiz die Oberhand gewann. Sie nahmen aus der Beute jeden zehnten Menschen heraus und frassen ihn auf.

Die Unfläterei in der goldenen Horde setzte sogar die Russen in Erstaunen; der Mongole nahm an seinem Kochgeschirr und sonstigen Gerät ebensowenig wie an seinem Körper jemals eine Reinigung vor. Dabei war er den Eastern Sodoms ergeben. So vereinigte er in sich die viehische Rohheit des Wilden mit dem Sittenverderbnis einer raffinierten Kultur. Pietät gegen das Alter, Barmherzigkeit gegen Hilflose waren hier unbekannte Tugenden. Die Besiegten kamen in ewige und harte Knechtschaft oder wurden unter ausgesuchten Martern getödtet, z. B. mit Mühlsteinen zerquetscht. Belagerten die Mongolen eine Stadt, so pflegten sie den Bürgern freundlich zuzureden, ihnen die besten Versprechungen zu machen, damit sie sich ergäben; sobald sie aber ihren Willen erlangt hatten, hielten sie weder Treu noch Glauben, sondern wüteten gerade so arg, wie wenn sie den Platz mit Sturm erobert hätten. Im offenen Felde bestand ihre Kriegskunst darin, dass sie Hinterhalte legten und durch verstellte Flucht den Feind hineinlockten. Ehe sie eine Landschaft überzogen, suchten sie unbemerkt zur Nachtzeit einen Teil ihrer windschnellen Scharen ins Gebirge, überhaupt in die von Natur festeste Gegend zu werfen; war dies geglückt, so ließen sie andere Haufen das platte Land durchstreifen. Dann floh das Volk mit seiner besten Habe überall nach den Bergen und so ihnen in die Hände. Kurz, diese Nation hatte ebensoviel vom Fuchse an sich wie vom Wolfe.

Wenn ein Mongole schwer krank wurde, so steckte man vor seinem Zelte einen Spieß in die Erde und hängte auf denselben einen schwarzen Hut. Dies war ein Zeichen, dass niemand hineingehen solle, und hatte den Zweck, die Verbreitung pestartiger Krankheiten zu hindern.*) Den Gestorbenen begrub man unter seinem Zelte, und man gab ihm ein paar Pferde, einen Knecht, einen Becher schwarzer 19) Stutenmilch und ein Stück gekochtes Fleisch ins Grab mit. Bei der Leichenfeier eines vornehmen Todten nahm man aus dessen Hinterlassenschaft einige Rosse, schlachtete sie, verzehrte das Fleisch und hängte die Felle, nachdem sie mit Stroh ausgestopft waren, auf Pfähle — man verfuhr also bei der Bestattung ungefähr in der Weise, wie einst die alten Scythen.

*) Etwas diesem Gebrauche Ähnliches fand sich ehedem auch bei zivilisierten Völkern. So befahl der Hochmeister Winrich von Kniprode in Preußen, als 1352 daselbst die Pest wütete, vor jedes Haus, wo ein Pestkranker liege, ein weißes Laken zu hängen. Dieses Zeichen hat bei uns später einen andern und harmloseren Sinn bekommen. Wer heutzutage die Straßen Berlins durchwandelt, wird nicht selten hie und da vor einem Hause einen Stuhl erblicken, über welchen ein weißes Leintuch gebreitet ist. Aber dies ist keine schreckende Warnungstafel, sondern ein sehr einladendes Merkmal; es bedeutet, dass hier frische Wurst feil gehalten wird.

Bei einigen Stämmen der goldenen Horde war es Sitte die Todten zu verbrennen. Doch begruben sie die Asche nicht, sondern hoben sie auf, um sie allmählich zu verbrauchen. Sie pflegten nämlich mit der Asche ihrer teuersten Angehörigen ihre kostbarsten Speisen zu würzen. 20)

Das waren also die Leute, die fortan Russland beherrschten und einen großen Teil desselben, den ganzen Südosten, neu bevölkerten. Sie hießen nach einem ihrer gefürchtetsten Stämme Tataren, aber sie liebten es, sich Mongolen, das ist die Tapfern, zu nennen. Doch war es nicht ihre Tapferkeit, was sie so unwiderstehlich machte. Sie siegten zuerst durch ihre Überzahl, dann durch den Schrecken, der vor ihnen herging. Die wilde Grausamkeit, mit der sie in den eroberten Städten alles ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes mordeten, vermehrte das Entsetzen. Selbst ihr widerwärtiges Äußere trug dazu bei, die Furcht zu vergrößern. Denn auch die Hässlichkeit, wenn sie ins Ungeheure geht, ist eine Macht. Nur die edleren Naturen werden durch sie zu desto heißerem Kampfeszorn gereizt. Als Friedrich der Große im siebenjährigen Kriege zum ersten Male die Kalmückengesichter im russischen Heere erblickte, rief er seinem Adjutanten unwillig zu: „Seh' Er, mit solchem Gesindel muss ich mich herumschlagen!“ und er hat gegen keinen Feind mit solcher Erbitterung gefochten, wie gegen die Russen. Aber den weicheren Sinn erschreckt das Abscheuliche. Der Russe sah dem Mongolen nicht ohne geheimes Grauen in das hässliche Antlitz; er scheute in ihm vor seiner eigenen Karikatur zurück. So zittert das Pferd, wenn es das Kameel erblickt.

Wäre die Schmiegsamkeit nicht schon vorher ein Kennzeichen des rechten Russen gewesen, so hätte er unter der Herrschaft der Mongolen Veranlassung genug gehabt, sich diese Eigenschaft beizubringen. Denn die Khane geboten despotisch und straften grausam, wie es eben in Asien üblich ist. Die russischen Fürsten mussten die Bestätigung ihrer Würde jedesmal in der goldenen Horde nachsuchen und nicht bloß fleissig Tribut und Geschenke senden, sondern auch jeden Augenblick bereit sein, auf den Ruf des Khans vor ihm zu erscheinen. Wehe dann dem, der Missfallen erregt hatte! Sein Leben war keinen Rubel wert. Dreiundzwanzig Ruriks sind in der goldenen Horde hingerichtet worden. Und meist war ihr Untergang das Werk ihrer eigenen Verwandten. Denn die Fürsten befehdeten einander jetzt nicht mehr mit den Waffen allein; wirksamer und für den Gegner verderblicher waren die Intriguen, die sie am Hofe des Khans anzettelten, um durch dessen Gunst sich auf den Thron des Bruders oder Vetters zu schwingen. So bedeutete ein Ruf zum Khan fast soviel wie bei den Türken die seidene Schnur, die der Sultan schickte. Damals entstand in Russland das Sprichwort: Nahe dem Herrn, nahe dem Tode!

Schon gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts nahm die Macht der goldenen Horde beträchtlich ab. Ein tapferer Feldherr ,Nogai mit Namen, riss sich von ihr los und gründete aus türkischen und mongolischen Stämmen am schwarzen Meer ein eigenes, unabhängiges Reich, das Khanat der nogaischen Tataren. Allein die Zwietracht und die Selbstsucht der russischen Fürsten waren hinreichende Stützen der Fremdherrschaft. Es kam so weit, dass nahe Blutsverwandte vor dem Khan nicht bloß mit Worten, sondern mit dem Dolch über einander herfielen.

Unter solchen Umständen wurde die Verstellungskunst den russischen Großen zu einer notwendigen Tugend und die Bestechung ein unentbehrliches Hilfsmittel; und selbst die besten Absichten konnten oft nur auf krummen Wegen erreicht werden. Einer der tüchtigsten Großfürsten war Alexander von Wladimir, nach einem Siege über die Schweden, den er (1240) an der Newa erfochten, Newski genannt, ein tapferer, weiser und wohlmeinender Regent; doch auch er konnte sich auf dem Throne nur durch geschickte Unterwürfigkeit gegen den Khan erhalten.

Der Slawe bildet sich, mehr als jeder andere Mensch, nach seinem Herrn, und so ging denn, was die Fürsten in ihrem Verkehr mit der Horde lernten, Kriecherei, Verschmitztheit, Gewandtheit im Schleichen, im Bestechen und in ähnlichen Künsten, nach und nach in das Wesen des Volkes über. Manches Asiatische eigneten sich die Russen auch durch die Blutsverbindungen an, welche sie mit ihren Beherrschern und Nachbarn schlossen. Manche Mongolin hat als Hausfrau in einem russischen Palast gesessen, und es gibt noch heute in Russland sehr vornehme Familien, z. B. die Rostopschin, die Ghirai, die Ahdilbay, welche sich ihrer Herkunft aus einer Tatarenhorde rühmen.

Am stärksten geschah die Mischung der beiden Rassen im Süden und Osten Russlands; dort kam die Asiatisirung von den Mongolen, hier von den Nogaiern; dort wirkte das fremde Element rasch und gewaltsam, hier langsam, aber eindringlich. Es ist daher der Einfluss auch dieser türkischen Tataren auf das russische Wesen nicht gering anzuschlagen. Haben doch die Russen mit ihnen ein halbes Jahrtausend lang in engem nachbarlichen und meist freundlichen Verkehr gestanden und sie dann ihrem Reiche ganz und gar einverleibt.

Das Volk der Nogaier, dessen Hauptsitz die Krim war, das indess auch die Steppen längs des schwarzen Meeres bis zum Dnestr und andrerseits das Land zwischen den Mündungen des Don und Kuban beherrschte, glich in mancher Hinsicht den alten Scythen, die einst hier gehaust; es nomadisierte, es lebte fast nur zu Pferde und es handhabte vortrefflich Bogen und Pfeile. Aber in der Kultur stand es noch im vorigen Jahrhundert, als es russisch wurde, selbst hinter jenen Barbaren weit zurück. Der französische Gesandte, Baron Tott, der im Jahre 1769 nach der Krim an den Hof des Khans der Nogaier kam, erstaunte nicht wenig, sogar in dessen Residenz, in Baktschiserai, inmitten des fruchtbarsten Küstenstrichs dieser Halbinsel, für seinen Tisch weder Butter, noch Gemüse, noch Fische auftreiben zu können. Die Tataren, obwohl ein Volk von Hirten, verstanden keine Butter zu machen, und sie wohnten hier seit Jahrhunderten an der See, ohne Schiffahrt und Fischerei gelernt zu haben. Sellerie wurde im Garten des Khans wie eine seltne Pflanze gezogen. Die Kunst des Ackerbauers bestand darin, dass er das Erdreich leicht aufritzte und dann den Inhalt eines Sackes darüber streute, in welchem allerlei Saat, Getreidekörner, Gurken-, Melonen- und anderer Samen, durcheinander gemischt war.

Mit dem tatarischen Gewerbfleiss sah es zu Tott's Zeit nicht besser aus. Ein Pferd fällt; der Besitzer beeilt sich, während es noch röchelt, ihm ein Messer in die Kehle zu stossen; denn wenn es an einer Krankheit stürbe, so könnte er es als gewissenhafter Mohamedaner nicht essen. Seine nächste Sorge ist, es abzuledern. Dann zieht er sich nackt aus und hängt sich das noch warme, blutige Fell um die Schultern. Aus dem Haufen der umstehenden Zuschauer tritt nun eine Frau herzu; sie ist mit Scheere, Nadel und Zwirn versehen und schneidert bald emsig darauf los. Zuerst schneidet sie die Pferdehaut zu, indem sie mit ihrer Scheere den Formen des Nackens, der Schulter, des Rückens und der Schenkel folgt. Ist der Mann, der vor ihr steht, nicht allzu lang, so reicht ihm das Fell bis unter die Knie. Sodann schneidet sie auch die vordere Seite zu. Den Stoff zu stützen ist dabei nicht nöthig, weil seine Feuchtigkeit ihn auf dem nackten Leibe des Mannes festhält. Nun muss dieser sich bücken oder hinsetzen; denn die Schneiderin näht jetzt die Stücke zusammen. Kaum zwei Stunden sind verflossen, so ist die ganze Arbeit gethan, und der Kunde hat einen hübschen braunen Anzug. Nur muss noch das Leder gegerbt werden. Dieses besorgt der Neuequipirte selbst, indem er sogleich zu Pferde steigt und mit den anderen Hirten auf die Weide reitet. Hat er ein paar Tage in dem neuen Habit gesteckt, so ist es nach allen Regeln tatarischer Kunst fertig.

Ein Grundzug in dem Charakter dieses Volkes war echt mongolisch, nämlich die unbändige Habsucht. Der Nogaier streckte, wie die Kinder, nach allem, was er sah, die Hände aus; konnte er das Gewünschte auch nur für einen Augenblick besitzen, so nahm er gleichmüthig dafür die schwersten Strafen hin. Viel Gewinnst warf ihm seine friedliche Tätigkeit ab, besonders die Viehzucht; viel erwarb er auch durch die Jagd. Es wimmelte in den Steppen von Hasen, und deren Felle bildeten an den Grenzen den Gegenstand eines schwungvollen Handels. Die Gold- und Silbermünzen, die er dafür eingetauscht, pflegte der Tatar zu vergraben, und oft wurde das Geheimnis des Schatzes auch im Tode verschwiegen. Südrussland birgt in seiner Erde höchst wahrscheinlich noch viele Tausende solcher Hinterlassenschaften. Am meisten befriedigte der Krieg die Habsucht; denn er bestand hauptsächlich im Plündern. Die Nogaier entfalteten dabei eine außerordentliche Gewandtheit, sowohl wie sie sich der Beute bemächtigten, als wie sie dieselbe wohlbehalten nach Hause brachten. Ein einzelner Tatar hat auf seinen Anteil fünf bis sechs Menschen jeden Alters, sechzig Hammel und zwanzig Rinder erbeutet; aber dieser große Haufen macht ihm keineswegs zu viele Schwierigkeiten. Die kleinen Kinder steckt er in einen Sack, so dass sie mit den Köpfen noch herausragen, und bindet den Sack an den Knopf seines Sattels. Das junge Mädchen setzt er vor sich aufs Pferd und nimmt es in den linken Arm; die Mutter muss hinten aufhocken und sich an ihn festklammern. Den Vater der gefangenen Familie hat er auf ein Handpferd gesetzt, den Sohn auf ein zweites. Das Vieh schreitet voran. So bringt er seinen Zug vorwärts, und seine Augen sind überall, es kann sich ihm kein Stück verlieren; er hält das Ganze so sicher zusammen, wie ein guter Schäferhund eine Schafheerde.

Nur ein Gefühl war in der Seele des Nogaiers noch mächtiger als die Habsucht — sein Knechtsinn. Auch hierin zeigte sich dieses Volk als einen rechten Spross der goldenen Horde. Auf einem Kriegszuge gegen die Russen im Jahre 1770 hatte der Tatarkhan Krim Gherai, als er sich mit seinem Heere der polnischen Ukraine näherte, aufs strengste anbefohlen, niemand solle in den polnischen Dörfern plündern. Ein Nogaier wurde vor seinen Augen ertappt, dieses Verbot übertreten zu haben; er hatte ein Stück Leinwand und zwei Knäuel Wolle geraubt. Der Khan ließ den Missetäter heranreiten und sprach ihm sein Urtheil: er solle an den Schwanz eines Pferdes gebunden und zu Tode geschleift werden. Der Nogaier stieg ohne ein Wort der Klage oder Widerrede ab und bot sich den Schergen dar. Allein es war kein Strick zur Hand. „Nehmt eine Bogensehne!“ befahl Krim Gherai ungeduldig.

„Sie ist zu kurz,“ wird eingewendet.

„So soll er seinen Kopf zwischen den Bogen und die Sehne stecken!“

Der Nogaier gehorcht und wird so an den Schwanz eines Pferdes gebunden. Aber er kann dem Reiter, der ihn nach sich schleppt, nicht so rasch mit seinen Füssen folgen; er fällt, und sein Kopf entschlüpft dabei der Schlinge.

„Er soll den Bogen mit seinen Händen festhalten!“ befahl der Khan wieder.

Und der Tatar gehorcht immer, steckt von neuem den Kopf in den Bogen, der am Schwanz des Pferdes hängt, kreuzt seine Arme und hält krampfhaft den Bügel fest, bis er tot ist! 21)

Ein Teil der mongolischen und turanischen Stämme hatte in den eroberten Ländern Asiens und Osteuropas den mohamedanischen Glauben angenommen und damit das Laster religiöser Unduldsamkeit, welches ihnen vordem fremd gewesen. Auch die Nogaier waren dem Islam zugefallen und hatten nun einen Grund mehr im Kriege ihre christlichen Nachbarn zu misshandeln. Andrerseits indess gewöhnten sich die Khane den Vorschriften des Korans gemäß an größere Unparteilichkeit in der Rechtspflege.

In Baktschiserai hatte einmal ein Jude einen andern Juden erschlagen; der Khan übergab den Mörder, wie der Koran befiehlt, den Anverwandten des Ermordeten zur Hinrichtung oder, wenn sie es vorzogen, zur Begnadigung. Nun erklärte jener, er wolle Mohamedaner werden, und das fanatische Volk von Baktschiserai forderte ungestüm seine Befreiung. Der Khan schlug dieses Ansinnen ab, und die Juden führten den Verurteilten auf den Richtplatz. Allein ihr Gesetz untersagte ihnen, mit eigener Hand sein Blut zu vergiessen, und vergebens boten ihre Ausrufer in der Horde viel Geld, wofern sich ein freiwilliger Scharfrichter fände. Darüber waren die vierundzwanzig Stunden, binnen welcher der Koran die Hinrichtung erlaubt, beinahe verstrichen, und die Tataren frohlockten schon. Doch der Khan blieb fest; er gestattete den Juden, die Strafe, die der alte Bund vorschreibt, zu vollziehen, die Steinigung.

Solche Beispiele strenger Gerechtigkeit waren freilich außerhalb des Tribunals, auf welchem der Khan selbst Recht sprach, nicht allzuhäufig; die geringeren Richter konnte man fast immer leicht bestechen. Überhaupt wurden die Sitten der Nogaier durch den Islam im Ganzen nur wenig gebessert.

Dieses Volk war zweihundert und siebzigtausend Familien stark, als es im Jahre 1778 dem Zarenthrone unterworfen wurde, und zum großen Teile ist es in den Körper der russischen Nation übergegangen, der somit ein tüchtiges Stück frischer Naturkraft, aber auch wieder viel Barbarei in sich aufnahm. —

Am Fuße des russischen Stammbaums stehen die Namen Scythen und Sarmaten verzeichnet, in seiner Mitte Mongolen und Turanier; es wäre ein Wunder, wenn eine solche Ahnenschaft etwas anderes hervorgebracht hätte, als was man eben Moskowitertum zu nennen pflegt. Ein französisches Witzwort sagt: „Wenn man am Russen kratzt, so kommt der Tatar zum Vorschein.“ Dies ist sehr richtig; und ein guter Physiognom braucht nicht einmal zu kratzen, um das Mongolische hier herauszuerkennen. Nicht als ob der Gliederbau und die Gesichtszüge bei Russen und Tataren wirklich so allgemein übereinstimmten, wie manchmal, besonders von den Polen, behauptet wird. Die Letzteren lieben es, an dem Moskowiter alles und jedes kalmückisch zu malen; man frage sie, wie ihre Nachbarn aussehen, und sie werden antworten: „Ein Russe ist ein Tatar, und ein Tatar das ist ein untersetztes Wesen von mittlerer Größe, breitem Antlitz, platter Nase, kleinen geschlitzten Augen und schwarzen Haaren; wenn es dem vornehmen Stande angehört, so trägt es lange Zöpfe und Flechten. Auch haben die Tataren allerhand mongolische Unarten: sie essen die Seife, statt sich damit zu waschen; sie braten die Beefsteaks nicht, sondern reiten sie unter dem Sattel gar, und sie trinken den Thee nicht mit Zucker und Sahne, sondern mit Schafsblut.“ Hierin würde denn namentlich der materialistische Philosoph, der nach dem Satze urtheilt: der Mensch ist, was er ißt, gar harte und schwere Vorwürfe erkennen.

Indess, wenn von zwei Vettern der eine es in der Welt zu etwas gebracht hat und der andere zu nichts, und vollends wenn der arme Vetter von dem reichen geknechtet und getreten wird, so darf man auf das nicht schwören, was er in seinem Zorne sagt. Schilderungen wie jene sind sehr übertrieben. Der Augenschein lehrt vielmehr, dass die meisten Großrussen, die rechten Moskowiter äußerlich keineswegs den Typus der gelben Rasse zeigen; es haben sogar viele unter ihnen am Leibe alles gerade so, wie man sich immer die echten Germanen vorstellt: blaue Augen, blondes Haar, eine weiße Haut und eine hohe kräftige Gestalt.

Aber der Ausdruck des Antlitzes der ist mongolisch; insbesondere der verschmitzte Zug um den Mund deutet auf die Nähe Asiens, und der Beobachter sagt sich: dieser Mensch schweigt jetzt, aber er wird seine Zeit wahrnehmen.

In der Tat ist es das Innere, der geistige Habitus des Russen, was ihn scharf vom Europäer unterscheidet und ihn unter allen Rassen der mongolischen am nächsten stellt. Er hat mit ihr nicht bloß die Kunst, sich zu fügen und abzuwarten, gemein, die er in seinem Sprichwort anpreist: Wer abzuwarten versteht, dem gehört die Welt. Auch eine gewisse physische und moralische Gefühllosigkeit ist russisch zugleich und tatarisch. Dieser Charakterzug hat Freund und Feind schon manchmal fast zur Verzweiflung gebracht. Wer aufklären wollte, rief zuletzt bitter: „Um einem Russen Gefühle beizubringen, müsste man ihn würgen!“ Und der General, der einen entscheidenden Sieg verlangte, erfuhr: es genügt nicht, den Russen totzuschießen, man muss ihn auch noch umwerfen.

Dann die Unsauberkeit und der Knechtsinn — sie waren schon früher vorhanden, aber durch die Vermischung mit den Tataren wurden diese Eigenschaften aufs Äußerste gesteigert. Bei den Kleinrussen noch die große Neigung zu einem nomadisierenden Leben und manches andere, was davon zeugt, dass sie zu drei Vierteilen von Scythen und Tataren stammen.

Es gibt vieles in Russland, was sich hinsichtlich seines Ursprungs auf die Mongolenzeit zurückführen lässt, und sehr wenig darunter ist gut. Zu letzterem indess gehört die Einführung des Geldes. Die Russen gebrauchten vordem als Tauschmittel feines Pelzwerk, besonders die Felle der Eichhörnchen und der Marder, „Kunen“; statt deren dienten dann gestempelte Pelzstücke, namentlich von den Schnauzen und Ohren jener Tiere. Auch in Karthago hat man ja einst Ledergeld gehabt. Die Mongolen aber wiesen solche Münze zurück, man musste Silber herbeischaffen und zahlte nun in Barren von einem gewissen Gewicht; diese Silberbarren hießen Rubel, und fünfundfünfzig derselben hatten den Wert eines Pfundes Gold. Geprägte Metallmünzen kamen erst unter dem Großfürsten Demetrius Donski auf.

Der Beiname, den dieser Großfürst führt, deutet an, dass auch er zu den Kriegern gehört, welche Russland, wie einst das alte Rom, dadurch zu ehren pflegt, dass es sie nach dem Orte nennt, wo sie einen großen Sieg erfochten. Demetrius war Fürst von Moskau, aus einer Linie des Hauses Rurik, welche durch die Gunst der Khane und durch eigene Anstrengung die großfürstliche Würde und einen Teil der übrigen Kleinstaaten an sich gebracht hatte. Er selbst gedachte noch Größeres zu erringen, er lehnte sich gegen die goldene Horde auf, und es gelang ihm über sie in einer Schlacht am Don 1380 einen Sieg davonzutragen. Allein wie erstaunt über seine Kühnheit, benutzte er seinen Sieg nicht, und weil ihn auch der mächtige Großfürst von Litauen, Jagiello, bedrohte, so unterwarf er sich ohne weiteren Widerstand dem Khan von neuem. Doch hat er insofern Russlands Größe vorbereitet, als er durch ein Hausgesetz in der Dynastie das Seniorat abschaffte und das Thronfolgerecht des ältesten Sohnes feststellte.

Unter seinen Nachfolgern, besonders unter Iwan III., seit 1462, nahm die Macht des moskowitischen Reiches ganz gewaltig zu; aber von der angestammten Furcht vor dem Khan konnte sich selbst Iwan lange Zeit nicht losmachen. Und doch war er einer der tüchtigsten Regenten, die je auf dem russischen Throne gesessen. Niemand wusste besser sich die Umstände zurecht zu legen und aus ihnen den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Fehlschläge entmutigten ihn nicht; sein Trostwort war: Große Unternehmungen gelingen nie das erste Mal. Auch hat er seine vornehmsten Zwecke, indem er bald wie ein Fuchs schlich, bald wie ein Bär zupackte, alle erreicht. Den noch übrigen Teilfürsten stellte er die Wahl zwischen dem Kerker und dem freiwilligen Verzicht auf ihre Rechte, und nachdem er sie mediatisirt hatte, erniedrigte er sie zu gewöhnlichen Edelleuten. Er Ließ ihre Namen zugleich mit denen der Bojaren in ein Verzeichniss, die sogenannten Rosräd-Bücher, eintragen, welches fortan die Adelsliste des Reiches darstellte. Dabei bestimmte er, dass die bürgerliche Rangstufe der Söhne von den Stellen solle abhängig gemacht werden, welche die Väter und Großväter bei Hofe oder im Heere bekleidet hätten.

Auch Nowgorod durfte nicht länger einen Staat im Staate bilden; es erlag den Waffen des Großfürsten. Ebenso wurden Kasan, Perm, Wiatka von Iwans Heeren erobert. Er selbst war kein Feldherr, aber er verstand es Feldherren zu finden. Seine Wahl traf für die wichtigen Ämter fast immer die rechten Männer.

Unter Iwan III. trat Russland auch wieder in enge Verbindung mit dem westlichen Europa, besonders seitdem der Großfürst von dort eine erlauchte Prinzessin zur Gattin bekommen hatte. Dieses Ereigniss ist voll von bedeutenden Beziehungen. Als die Türken im Jahre 1453 Konstantinopel eroberten, floh der Sohn des letzten Kaisers mit seiner Familie nach Rom und empfahl seine Kinder, darunter eine Tochter Sophie, der Obhut des Papstes. Dieser ließ sie erziehen, und als die genannte Prinzessin herangewachsen war, sah er sich für sie nach einem Gemahl um, der ihre Erbrechte gegen die Türken vertreten und vielleicht die Kirchen des Orients und des Occidents wieder vereinigen möchte. Seine Wahl fiel auf Iwan, der sich beeilte, die glänzende Heirat abzuschließen (1472). Zwar an die Union mit Rom dachte er im Ernste nicht; die Zaren haben einen solchen Plan, der nur auf die Unterordnung unter den Papst hinauslaufen konnte, immer von sich gewiesen. Aber Moskau zu einem neuen Byzanz zu erheben und die Ansprüche der Paläologen auf den Kaiserthron von Konstantinopel zu erwerben — das diente eben so sehr den Interessen Russlands, wie es dem Ehrgeiz der Ruriks schmeichelte. Eine besondere Befriedigung gewährte dabei noch der Umstand, dass gerade der Papst es war, der gewissermassen im Namen der abendländischen Christenheit dem Beherrscher Russlands mit der Hand Sophiens die Anwartschaft auf das Reich ihrer Väter übertrug.

Zum Zeichen dieses Anrechts nahm Iwan die Embleme des byzantinischen Kaiserbildes in das russische Reichswappen auf, den zweiköpfigen, nach Osten und Westen schauenden, dreifach gekrönten Kaiseradler mit ausgebreiteten Fittigen, rotem Schnabel und roten Füßen, der in der rechten Klaue das goldene Zepter, in der linken den Reichsapfel hält.

Zu diesem Pompe stimmte nun aber die Abhängigkeit vom Tatarenkhan sehr übel. Auch drückte sich die Fremdherrschaft in den allerempörendsten Formen aus. Hoch zu Ross und mit barbarischem Prunk stolzierte der Gesandte des Khans heran, der Großfürst musste ihm demüthig zu Fuß entgegengehen; dann musste er ihm einen Becher voll Pferdemilch kredenzen, und wenn ein Tropfen davon auf den Hals des Rosses fiel, so musste er ihn ablecken.--) Dem Dollmetscher, der des Khans Brief vorlas, musste der Großfürst seinen Zobelmantel unter die Füße breiten, und er hatte dann knieend anzuhören, was ihm sein Herr entbot.

Iwan III. behagten diese Ceremonien natürlich nicht. Um ihnen zu entgehen, pflegte er sich, wenn ein tatarischer Gesandter kam, ins Bett zu legen und Krankheit zu heucheln. Aber dem stolzen Sinn seiner Frau, der byzantinischen Prinzessin, war mit solcher Verstellung nicht gedient. Sie beklagte sich, keinen Souverän, sondern den Knecht eines barbarischen Häuptlings geheiratet zu haben; sie stachelte Iwans Ehrgeiz so lange, bis er seine abergläubische Furcht vor den Mongolen durch einen kräftigen Entschluss von sich abschüttelte. Als eines Tages die Gesandten der Horde wieder erschienen, um, wie üblich, den Tribut und den Kniefall vor dem Bilde des Khans zu fordern, erklärte Iwan die Zeit der Knechtschaft für geendet und trat das Bild mit Füßen. Im Grunde war dies Wagnis gering. Denn zu dieser Zeit hatte die goldene Horde durch innern Zwist ihre Kraft längst eingebüßt; das Khanat bot jetzt denselben Anblick der Zerrüttung dar, wie ehedem das russische Reich. Auch bedurfte es nun auf dem Kampfplatze für die Russen nicht einmal der Tapferkeit, um die Freiheit zu gewinnen; der Sieg fiel ihnen ganz von selbst zu. Das war eine sonderbare Schlacht, jenes Treffen an der Ugra im Jahre 1480, von welchem die Unabhängigkeit Russlands datiert! Das russische Heer hatte die Vorteile der größeren Zahl und der besseren Bewaffnung; aber als die Mongolen einen heftigen Angriff machten, wich es. Doch der Khan vermutete in diesem Rückzug eine Falle; denn eben kam ihm die Nachricht, dass eine russische Streifschar in seinem Rücken seine Residenz Sarai geplündert habe. Daher machte er ebenfalls eilig kehrt. So flohen beide Heere vor einander! Indes dies war auch die letzte große Anstrengung gewesen, zu welcher die goldene Horde sich hatte aufraffen können; sie löste sich bald nachher gänzlich auf, und ihre Hauptstadt, Sarai an der Achtuba, sank in Trümmer.