Liefland in besseren Tagen.

Als Hans Sachs vom Schlaraffenlande sang, muss er an Liefland gedacht haben. Was war das damals für ein lustiges Leben dort, ein stetes Juchhe und Schlampampen, gerade wie es nach dem Volkslied beim lieben Gott die Seligen führen:

„Ach wie geht's im Himmel zu!
Wie im ew'gen Leben!
Da zerreisst man keine Schuh,
Braucht kein Geld zu geben.
Man braucht nicht zu sorgen
Für dies und das bis morgen;
Immer steht gedeckt der Tisch,
Braten drauf und Bier und Fisch!“


Man hatte es ja dazu! Welch Land war reicher an Korn, Honig und Flachs als Liefland? So viel Überfluss gaben hier die Ernten, dass allein die Stadt Reval jährlich zehntausend Last Roggen an die Holländer und Lübecker verkaufte. Reval war damals liefisch; denn man rechnete zu Liefland im weitern Sinne auch Est- und Kurland.

Revals Handel war nicht einmal der bedeutendste; Riga exportierte viel mehr, und die andern Städte, Narva, Dorpat, Fellin, Pernau, Wenden, Kokenhusen u. s. w. im Verhältniss. Nur Gerste führte man nicht aus; denn soviel davon auch erzeugt wurde, es genügte nur eben, um für die zahllosen Braukessel im Lande das nötige Malz zu schaffen. Kein Volk der Erde diente dem Gott Gambrinus eifriger als die Liefen.

Ich spreche von der Zeit, als noch Deutsche dort regierten, von der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Wie wohlfeil war in jenen glücklichen Tagen alles, was der Liefländer zu seines Leibes Nahrung und Notdurft — und dies war ihm die Hauptsache — bedurfte! Die Last Roggen oder Malz galt zwölf Thaler, ein stolzer fetter Ochse drei Thaler, ein gemästetes Schwein anderthalb. Die zahlreichen Seen, Ströme und Bäche wimmelten von Fischen und Krebsen, in Wald und Flur gab es Elenthiere, Rehe, Hasen, Vögel genug, und jedermann durfte überall frei fischen und jagen. Kein missgünstiges Herrenrecht legte hier auf diese Gaben der gütigen Natur Beschlag. So fehlte es auch dem geringsten Ackerknecht nicht an den Mitteln zum Wohlleben, und wenngleich der Bauer in Liefland wie fast überall in Europa ein Sklave war, so hatte er wenigstens alles das, was der gemeine Mann mehr als die Freiheit zu lieben pflegte — vollauf gutes Essen und Trinken, nicht übermäßige Arbeit und am Sonntag sein Vergnügen.

Verglich man, wie das Landvolk in Liefland und wie es in dem benachbarten Preußen lebte, so schien auf den ersten Blick letzteres besser gestellt zu sein. Zumal die Bauern in den Niederungen zwischen Nogat und Weichsel, die tauschten gewiss mit niemandem. Ihr Reichtum war sprichwörtlich; es gab darüber ganz fabelhafte Geschichten. Zu den Zeiten des großen Hochmeisters Winrich von Kniprode, so um das Jahr 1380, sei im Dorfe Lichtenau einer gewesen, der bare elf Tonnen Goldes besass, und die andern hätten auch so in der Wolle gesessen, dass sie zur Sühnung einer Untat (sie hatten einen Mönch in einen Sack gesteckt und in den Rauchfang gehängt mit der Weisung Eier zu legen) dem Hochmeister die Straße bis Marienburg, zwei Meilen weit, mit Groschen belegen konnten. 62)

Solche Schätze waren nun freilich in liefischen Bauerhäusern nicht zu finden. Aber dafür sah man dort auch nirgends die Beispiele bitterer Armut, die sich in so manchem Dorf der unfruchtbaren masurischen Teile Preußens zeigten. Der liefische Bauer, er mochte nun deutscher oder lettischer, estnischer, kurischer Zunge sein, nahm an den sinnlichen Genüssen des Lebens viel allgemeiner Teil. Und wenn die Bürger und Edeln sich amüsierten, so sahen sie nicht schel, dass der gemeine Mann desgleichen tat.

Die ganze Nation lebte wie die Phäaken in stetem Saus und Braus. Im Sommer ging es zu den Kirchmessen und Schützenfesten, im Winter zu den ,,Wacken“ und „Kosten“, und im ganzen Jahr zu den Kindelbieren, und außer diesen großen Festen, von denen jedes mehrere Tage, manche aber Wochen lang dauerten, gab es unzählige kleinere.

Anderwärts feierte man die Kirchmesse doch nur am Tage der Apostel, in Liefland außerdem am Marien- und am Allerheiligentage, und auch der ärmste Mann hätte es für eine Schande gehalten, dazu nicht wenigstens eine Tonne Bier zu brauen. Am Sonnabend vor dem Feste rückten aus allen Ortschaften des Kirchspiels die Bauern mit Weibern, Mägden und Knechten an; jeder Zug führte auf seinen Wagen volle Bierfässer mit sich, und voran ritt ein Pfeifer, der den Dudelsack blies. Da wurde denn die ganze Nacht hindurch gezecht, gesungen und gespielt, getanzt und aller Lust gefröhnt bis an den hellen Morgen. Darauf begaben sie sich in die Kirche, und nach dem Gottesdienste begann der Jubel von neuem, dass einem vor dem Gelärm und Gespringe Hören und Sehen verging.

Ein ähnliches Volksfest war Sanct-Johannis-Feuer, und man begnügte sich hier ebensowenig, es einmal im Jahre zu halten. Auch am Peter-Pauls-Tag und an Maria Berggang wurden in allen Städten, Flecken, Höfen, Dörfern ohne Ausnahme durch das ganze Land Freudenfeuer angezündet, und überall tanzten und sprangen halbberauschte Menschen um das Feuer herum.

Ein Hauptvergnügen gewährten ferner die Wallfahrten, besonders wenn zu den Ablasskrämern gepilgert wurde, die auf Sanct Veits- und auf Johannis des Täufers Tag bald bei dieser, bald bei jener Kirche die Seligkeit feilboten. Denn hier konnte, wer gern über die Schnur hieb, seine Sünde auf der Stelle wieder gut machen. Viele Meilen weit strömte das Volk zu diesen Schreinen des Heils herbei. Ein Altar war vor der Kapelle errichtet, wo man den Ablass erteilte. Dorthin traten reihenweise die Bauern, knieten nieder und opferten ihre Gaben, meist Wachspuppen, welche ihr Vieh vorstellen sollten; denn dieses wurde dadurch mit Gedeihen gesegnet. Die Weiber aber drehten einen Schilling oder Pfennig dreimal um ihren Kopf und warfen im Vorbeischreiten die Münze auf den Altar. So regnete es Geld in den Schoß der Mönche und Priester, die dieses heilsame Geschäft betrieben.

Nachdem nun das versammelte Volk auf solche Weise seine Frömmigkeit bewiesen, gab es sich zu Ehren des Heiligen aller der Lust und Unzucht hin, die es bei seinen Festen zu treiben pflegte, doch war die Ausgelassenheit hier noch größer, weil sie gewissermassen für einen Teil des Gottesdienstes galt. Auch pflegte es bei einer solchen Wallfahrt nicht ohne Mord und Todtschlag abzugehen. „Es ist unmöglich,“ sagt ein zeitgenössischer Chronist, ,,dass im Venusberg ein gräulicher epikurisch Leben möge geführt werden, als hier bei dieser Ablassfahrt von den abgöttischen Bauern ist geführt worden, und dennoch sind sie in dem Wahn gewesen, dass solches alles Gott dem Herrn ein sonderlich angenehmer Dienst sei und dass sie dadurch eine große Gnade bei Gott erlangt hätten. Solche Abgötterei und solch gottlos Wesen ist nicht allein bei Sanct Brigittenkloster, sondern bei allen Klöstern und Kapellen in dem ganzen Lande geübt worden.“ 63)

Doch nicht bloß der Gottesdienst, auch der Herrendienst gab den Bauern Anlass zum Schlemmen. Das platte Land war in „Wacken“ eingeteilt, deren jede zwei große und vermögende oder mehrere geringe Dörfer umfasste. Eine jede Wacke musste nun nach der Ernte, wenn der Zins an den Junker gezahlt wurde, demselben zugleich ein stattliches Gastgebot ausrichten, an welchem Edle und Bauern teilnahmen. Hiebei feierten dann die Völlerei und die Zechlust wahre SaturnaHen. Man trank nicht mehr aus gewöhnlichen Gefassen, sondern man bediente sich der Kaussen, das waren hölzerne Becher von einer Größe, dass man darin ein Kind hätte baden können. Aus einer solchen Kausse tranken zwei Mann zweien andern zu, und wer bei diesem Wettkampf als der letzte aufrecht blieb und die übrigen sämmtlich zu Boden getrunken hatte, der war der tapferste Held und wurde am folgenden Tage von aller Welt gerühmt und gepriesen, als wenn er ein Land gewonnen hätte, und diese Ehre blieb ihm, bis ihn ein noch größerer Säufer überwand. Den Alten eiferten die Jungen nach; man sah Edelknaben von vierzehn Jahren einander mit Klappkannen so lange zutrinken, bis sie allzumal unter den Tisch fielen. Es war ein Gezeche, so allgemein und energisch, man möchte sagen, so inbrünstig, als ob der liefischen Nation zeitliche mid ewige Seligkeit daran hänge.

Diese Wackenfeste wurden durch das ganze Land auf allen Edelhöfen und herrschaftlichen Schlössern abgehalten; doch war in den verschiedenen Gegenden auch ihr Zeitpunkt ein anderer, und man konnte mehrere in demselben Jahre durchmachen. Im Ganzen währten sie von Michaelis bis Weihnachten.

Dann kamen die Kosten oder Hochzeiten an die Reihe. Man heiratete nämlich am liebsten in der Zeit zwischen Weihnachten und Fastnacht, weil es dann Schlittbahn gab und die Gäste auf den weiten und langen Wegen besser fortkommen konnten.

Wenn ein reicher Edelmann Hochzeit machen wollte, so lud er ein Vierteljahr vor derselben den Adel des ganzen Landes dazu ein, verschrieb auch von weit und breit alle Trompeter und übrigen Spielleute, und da sein Hof für eine solche Menge von Gästen viel zu klein war, so miethete er sich in der nächsten Stadt das Gildenhaus zu der Festlichkeit. Dieselbe wurde allemal auf einen Sonntag anberaumt. Bis zum Sonnabend pflegten die Gäste eingetroffen zu sein. An diesem Tage ordneten sich die Männer in zwei Haufen, einer im Namen des Bräutigams, der andere für die Braut, bestiegen ihre prächtig geschmückten Pferde und zogen auf das Feld hinaus. Dort hielt ihnen der Älteste eine Bewillkommnungsrede und ermahnte zum Schluss, so jemand unter ihnen auf einen Mitgast einen alten Groll hätte, möchte er hier seinen Hass vergessen; wer Friede und Freundschaft gelobe, solle die Hand aufheben. Dann hoben Alle die Hände empor, und sie hielten ihr Versprechen gewöhnlich so lange, bis, wie der Chronist sich ausdrückt, „das Bier in den Mann kam.“ Nachdem man sich gegenseitig begrüßt hatte, wurde wieder aufgesessen, und der ganze Zug kehrte unter dem Schall der Trommeln und Trompeten und mit gewaltigem Freudeschießen in die Stadt zurück. An der Gildestube paradierte er zweimal vorbei. Dort standen die Damen und schauten zu; unter ihnen, alle überstrahlend in ihrer Pracht, die Braut. Eine goldene Krone hatte sie auf dem Haupt, Perlen um den Hals und auf der Brust, an den Armen und Händen viel goldenes und silbernes Geschmeide, und ihre Gewänder waren aus so schweren Stoffen, dass sie unter der Last sich kaum auf den Füssen halten konnte.

Folgenden Tages, am Sonntag, geleitete man das Brautpaar mit Musik und zahllosen brennenden Kerzen und Fackeln zur Kirche. Bei der Trauung musste sich die Braut Schicklichkeit halber lange sträuben das Jawort zu sagen; es dauerte in der Regel eine halbe Stunde, ehe der Geistliche ihr dasselbe abzugewinnen vermochte.

Dann begab sich die ganze Gesellschaft nach der Gildestube, und das Gelage und Tanzen fing an. Beim Zutrinken, welches natürlich wieder eine Hauptrolle spielte, hatte man hier den Brauch, dass der Herausfordernde mit einer ganzen Menge von Bechern auf einmal angriff. Nachdem er nämlich den ersten Becher geleert hatte, setzte er ihn nicht ab, sondern mit der einen Hand hielt er ihn an den geöffneten Mund und mit der andern goss er den Inhalt der übrigen Becher nach und nach hinein, bis alle geleert waren. Der Geforderte musste ebenso Bescheid tun, wenn er nicht einen Degenstich in den Leib bekommen wollte. Bald waren die Dielen der Gildestube so nass von vergeudetem Bier, dass man Heu hinaufstreuen musste, um gehen oder tanzen zu können. Dagegen die Schlüpfrigkeit der Worte, der Scherze störte niemand. Den Gipfel des Vergnügens bildete auch hier eine Rauferei, und wer nicht bloß im Trinken, Fluchen und Singen, sondern auch im Balgen und Hauen das meiste vermochte, ward obenangesetzt. Es dauerte denn auch selten lange, bis vor den Augen der Damen ein paar angetrunkene Herren vom Leder zogen und mit ihren großen Schlachtschwertern, die man mit beiden Händen führen musste, auf einander losschlugen. Da wurde manchem der Kopf mitten durch gespalten oder ein Arm abgehauen, und die Barbiere hatten mit dem Verbinden der Wunden Tag und Nacht zu tun.

Die Veranlassung zum Zwist war oft eine Privatfeindschaft, oft aber auch die politische Meinungsverschiedenheit. Denn die stiftischen Edelleute, das ist die Vasallen des Erzbischofs von Riga und der Bischöfe von Dorpat, Oesel, Kurland und Reval, waren mit der Herrschaft des deutschen Ordens unzufrieden, sie meinten, „wenn man einen gebornen deutschen Fürsten hätte, so sollte es wohl besser um das Land stehen.“ Dagegen antworteten denn die Lehnsleute des Ordens: „Wir haben gute Herren nach unserm Willen, bei welchen wir am Tische sitzen und als ihre Kumpane mit ihnen zechen; und wenn wir einen Komtur oder auch dem Meister selbst mit der Kanne auf den Kopf schlagen, des andern Tages sind wir bald wieder gute Freunde. Das würde uns mit einem deutschen Fürsten wohl fehlen!“

Am Montag nach der Trauung zog man wieder in die Kirche und von da in die Gildestube, und am Dienstag endete das Fest. Der Aufwand einer solchen Hochzeit war sehr beträchtlich, obgleich man in Ansehung der großen Zahl der Gäste als Getränk nur Bier gab und die Tafel nicht mit Silber deckte. Vor der Heimkehr besuchte man indess noch die Weinkeller der Stadt, nach dem Spruch: Wein auf Bier mundet dir; Bier auf Wein — dass lass sein!

Bei den Kindtaufschmäusen oder Kindelbieren wurde zwar nicht so im Großen geschwelgt, wie bei den Kösten; doch die Lust war hier ebenso roh und bärenhaft.

Die reicheren vom Adel, die achtzig oder hundert Bauern hatten, pflegten auf ihren Gütern einen Freihof zu halten, wo allwöchentlich ein Ochse samt vielen Schafen, Hühnern und Gänsen geschlachtet wurde, und die Braupfanne nie vom Feuer kam. Zwanzig Last Malz und mehr wurde auf einer solchen Besitzung jährlich verbraut. Es hatte aber auch jeder, der mochte, hier freie Zehrung. Die liefländischen Herren suchten eine Ehre darin, die ausgedehnteste Gastfreiheit zu üben. Nur musste der Gast tüchtig trinken können, sonst wurde er gering geachtet.

Die Bürger ahmten bei ihren Kosten den Edeln nach, und sie übertrafen sie oft in der Pracht der Kleidung. Die Vornehmsten trugen Röcke, die mit den Fellen von Luchsen, Leoparden und Mardern gefüttert waren; die gemeinen hatten wenigstens Wolf- und Fuchspelze. Die Frauen trugen an silbernem Geschmeide nicht selten über sechzig Loth, an Gold etliche Mark auf ihrem Leibe herum.

Die drei Sonntage nach Ostern waren in den Städten dem Schützenfeste gewidmet; da fiel der Gottesdienst aus, weil doch jedermann draußen bei der Vogelstange war. Zu Pfingsten hinwieder ritten die Bürger und Gesellen in den Mai, das heißt sie wählten einen Maigrafen, der ihnen ein Bankett gab. Solche Maigrafschaften beschränkten sich aber nicht auf diesen Monat, sondern den ganzen Sommer über wurden am Sonntag die wohlhabendsten in der Gilde gegraft, damit sie ein Gelage ausrichteten.

Im Winter endlich, von Weihnachten ab, war auf der Gildestube jeden Abend Tanzvergnügen. Den Mittelpunkt bildete dabei ein Tannenbaum, behängt mit Rosen und voller Kerzen.

Das allgemeine Wohlleben begünstigte eine große Lockerheit der Sitten. Die Ordensherren, Bischöfe, Äbte, Domherren gingen mit dem schlechten Beispiele voran. Sie hatten ein jeder seine Zuhälterin, welche von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Dieser Brauch fand auch bei den deutschen Untertanen Eingang, bei den nichtdeutschen bestand er noch als ein Überrest der ehemaligen Vielweiberei. Besonders auf dem Lande wusste der große Haufe kaum, was ein rechter Ehestand sei. Wenn dem Bauer sein Weib zu alt wurde oder sonst nicht mehr gefiel, so schaffte er es ab und legte sich eine Magd zu. Wunderte sich ein Ausländer über eine solche Misshandlung der Ehe, so hieß es: „die nicht getraut seien, äßen ebenso gut Brot als die Eheleute,“ oder auch: „das sei eine altliefische Gewohnheit, ihre Väter hätten es ebenso gehalten.“ Die Herrschaft schritt gegen diese Unsitte nicht ein, teils weil sie selbst es ebenso machte, theils auch weil sie einen Vorteil davon hatte. Denn uneheliche Bauernkinder konnten nach dem Tode der Eltern leicht um ihr Erbe gebracht und der Hof zu Gunsten des Junkers eingezogen werden.

Die Zuhälterinnen hießen Meierinnen oder Muthgeberinnen, 64) und das Verhältniss, in welchem sie zu ihrem Herrn standen, gereichte keinem Teile zur Schande. Dagegen galt es auch in Liefland für eine schwere Sünde, wenn ein katholischer Geistlicher verheiratet war. Ein liefländischer Domherr, Johannes Blankenborg, hatte in Deutschland ein Frau genommen und brachte sie mit sich nach Reval. Aber er wagte vor dem Bischof und dem Domkapitel nicht zu bekennen, dass sie seine angetraute Ehegattin sei, sondern er musste sie für seine Meierin ausgeben, um den Forderungen der katholischen Kirche zu genügen. Einem Bürger in Reval war es bekannt, dass sich die Sache anders verhielt; doch Blankenborg stopfte ihm den Mund, indem er ihm ein gemästetes Schwein verehrte.

An geringen Leuten wurde die Unzucht zuweilen gestraft, aber mehr im Spass als mit Ernst. Man führte den ertappten Missetäter unter Pfeifen- und Trompetenschall durch die Stadt zu einem seichten Bache und warf ihn, angekleidet wie er war, da hinein. Nachdem man ihn so genässt, brachte man ihn wieder mit Musik und Spottgesang nach Hause.

Bei den Deutschen in Liefland war also von der altgermanischen Sittenstrenge gar wenig übrig geblieben; bei den Undeutschen, wie die Nachkommen der Urbevölkerung, Letten, Kuren, Liefen, Esten, mit gemeinsamem Namen hießen, hatte die Tugend der Keuschheit von jeher in geringem Werte gestanden. Wenn den reicheren Deutschen die Üppigkeit verführte, so erlag hinwieder der Undeutsche zu oft den Gefahren der Armut.

In anderen Stücken waren der Eingewanderte und der Eingeborne leicht zu unterscheiden. Namentlich das nichtdeutsche Landvolk hatte von den Eigentümlichkeiten seiner alten Nationalität sehr viel bewahrt. Die Tracht z. B. bestand in einem engen sackartigen Rocke von grobem, meist aschfarbenem Wollen- oder Linnentuch, und in Schuhen von Bast, des Winters von ungegerbtem rauhem Rindsfell. Die Weiber verzierten sich den Rock auf dem Rücken mit messingenen Ketten, an welchen Zahlpfennige hingen, und unten am Saume mit gelben Glasperlen; um den Hals trugen sie auf ein Band gereihte platte und runde Silberblechstücke, von denen das unterste nicht selten beinahe so groß wie ein Teller war. Die Ungetrauten ließen ihr Haar ungebunden und rund um den Hals verschnitten hängen und gingen Sommer und Winter barhäupts.

Bei ihren Hochzeiten hielten es die liefischen Bauern folgendermaßen: Wenn Braut und Bräutigam zweien verschiedenen Dörfern angehören, so holt der Bräutigam die Braut zu Pferde ab. Sie setzt sich hinter ihn, indem sie ihren rechten Arm um seinen Leib schlingt. Voran reiten ein Dudelsackpfeifer und zwei Brautführer mit bloßen Degen, mit welchen sie in die Tür des Hochzeitshauses einen Kreuzschnitt schlagen; dann stecken sie dieselben mit den Spitzen in die Decke des Zimmers über dem Platze, wo der Bräutigam sitzen soll. Dieser hat indess seinen Weg nicht ganz ohne Hindernis zurückgelegt; an einer Hecke sperrten ihm zwei Männer die Straße ins Dorf, bis er sich durch zwei Kupfermünzen, die er an einem gespaltenen Stecken überreichte, den Einlass erkaufte. Die Braut aber hatte überall, wo ein Kreuzweg passiert wurde, und auf die Gräber der ungetauften Kinder, welche man neben der Landstraße zu verscharren pflegt, rote wollene Bänder ausgestreut. Dem Brautpaar folgt die ganze Hochzeitsgesellschaft, Männer und Frauen, Knechte und Mägde, sämtlich paarweise zu Pferde.

Nachdem man eine Weile bei Tische gesessen, wird das Brautpaar, obwohl es noch heller Tag ist, zu Bett gebracht; nach zwei Stunden kehren die jungen Eheleute zu der Gesellschaft zurück, und man tanzt und trinkt mit einander bis zum Morgen.

Die Liefen und Esten standen von altersher im Ruf, allerlei Hexenkünste zu lieben; in der Tat war bei ihnen die Neigung zu solchen Dingen eben so groß, wie ihre Unwissenheit. Einen Teil der Schuld trug hier der deutsche Orden, der für die Aufklärung seiner Untertanen gar zu wenig getan hatte. Es gab im ganzen Lande nicht eine gute Schule, und die vorhandenen Lehrmittel dienten allein den Deutschen. Der Sprache, welche die große Mehrheit der Landbevölkerung redete, waren selbst unter den Pfarrern nur wenige recht kundig. Daher stak denn der gemeine Mann noch tief in dem Aberglauben der Vorzeit. Zu den heidnischen Vorstellungen waren die Äußerlichkeiten der christlichen Lehre gekommen und hatten ein wunderliches Gemisch von Meinungen ergeben. So pflegten die Mütter, wenn ihre Säuglinge in den ersten sechs Wochen unruhig waren, dieselben heimlich umzutaufen; sie gaben ihnen einen andern Namen, weil der erste dem Kinde offenbar unbequem sei und es unruhig mache. Ein andermal tappte ein Priester eine lettische Frau dabei, wie sie zu der Leiche ihres Mannes Nadel und Zwirn legte. Nach der Ursache davon befragt, gab sie an: damit ihr Mann in jenem Leben seine Kleider, wenn sie etwa zerrissen, flicken könne und nicht andern Leuten zum Gespött einhergehe.

Beim Ableisten eines Schwures legten die Letten ein Stück Torf auf ihren Kopf und nahmen einen weißen Stab in die Hand; dies sollte bedeuten, dass sie verschwarzen und verdorren wollten, so ihr Eid falsch wäre.

Hinter den christlichen Überlieferungen, die man dem Volke eingeprägt, lauerten noch immer die alten heidnischen Mythen, bereit in dieser oder jener Form wieder hervorzubrechen. So z. B. behaupteten die Bauern, der heiligste Tag sei eigentlich nicht der Sonntag, sondern der Donnerstag. Denn als Gott der Herr einmal in große Not geraten, habe er die Tage zu seiner Rettung aufgeboten; aber nur der Donnerstag habe ihm beigestanden. Es war dies eine Anspielung auf die bei allen lettischen Völkern weit verbreitete Sage von der Befreiung der Sonne durch den Donnergott. ,, Einst“, so erzählten die litauischen Waideler noch im fünfzehnten Jahrhundert, „einst überfiel der König der Finsterniss die Sonne, nahm sie gefangen und schloss sie in seinen festesten Turm ein. Da eilte der Sternenhimmel zu ihrer Hilfe herbei, und Perkunos zerbrach mit seinen Donnerkeilen den Turm, befreite die Sonne und gab der Welt das Licht wieder.“ 65)

Überhaupt ist es billig, bei Beurteilung der geschilderten Zustände zu erwägen, dass die Deutschen dieses Land erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit der Barbarei entrissen hatten. An der Dünamündung bestand ihre Kolonie zwar schon um das Jahr 1200; doch erst im fünfzehnten Jahrhundert war die Bezwingung und Bekehrung der Heiden Lieflands überall vollendet. Auch hatte die deutsche Einwanderung hier nicht so massenhaft erfolgen können, wie in Preußen, welches dem Mutterlande näher lag. Unter diesen Umständen war, was zur Zivilisation der Liefen geschehen, wenn es auch größtenteils nur der materiellen Kultur diente, immerhin aller Ehren wert.

Auch muss den deutschen Herren als ein Verdienst nachgerühmt werden, dass sie ihre Macht gegen die Untertanen im Großen und Ganzen keineswegs missbrauchten. Der Junker gebot in Liefland eben so unumschränkt über seine Bauern, wie in dem benachbarten Russland der Bojar oder Knäs. Aber die fürchterlichen Misshandlungen, die der russische Leibeigene zu erdulden hatte, kamen im Ordensstaate und auch später unter der schwedischen Regierung in Liefland nicht vor. Der Junker räumte hier den Bauern sogar einen Anteil an der Gerichtsbarkeit ein. Er bildete mit ihnen eine Art von Schöppengericht; die Bauern fanden das Urteil, er vollstreckte es. Die Strafe bestand gewöhnlich in einer mehr oder weniger großen Anzahl von Spießrutenhieben. Der Missetäter musste sich das Hemd ausziehen, seinen Körper bis zu den Hüften entblössen und sich dann auf die Erde legen oder auch an einen Pfahl binden lassen. Dann trat ein anderer Undeutscher mit den Ruten heran und zählte ihm so viele Streiche über den Rücken auf, als der Herr befahl.

Die Deutschen hielten die Geldstrafe für die leichtere; die Undeutschen zogen ihr die Prügelstrafe vor. Auf einem Edelhofe hatte einmal ein alter Bauer sich etwas zu Schulden kommen lassen und war zu Spießruten verurteilt worden. Die Gutsbesitzersfrau bat für ihn, und der Junker sagte, er wolle aus Mitleiden für sein Greisenalter ihn anstatt der Prügel mit einer geringen Geldbuße — acht Groschen — bestrafen. Aber der Bauer, obwohl gar nicht einer von den Ärmsten, lehnte eine solche Gnade ab, zog sein Hemd aus und legte sich hin mit den Worten: „Ich mag auf meine alten Tage nicht Neuerungen machen und will mit der Strafe, welche meine Väter ausgestanden, auch zufrieden sein.“

Bei solcher Gesinnung war es kein Wunder, dass die Undeutschen im Ganzen sehr gering geschätzt wurden. Es ging ihnen schlechter als den Deutschen, und sie hatten zum Schaden noch den Spott. Der Städter reimte von ihnen in dem Plattdeutsch, welches damals seine Mundart war:

„Ick bin ein liefländisch Buhr,
Min Lewen werd mir sur.
Ick stige üb den Berkenbohm,
Darvan haw ick Sadel und Tohm.

Ick binde de Schoe mit Baste
Und fülle dem Junker de Kaste.
Ick gewe dem Papen de Pflicht
Und weet van Gott und sin Worde nicht.“
66)

In desto größerer Achtung stand die deutsche Nationalität, welcher die Landesherrschaft, der Adel und die Bürger angehörten. Auch den geringsten Hofdiener oder Handwerker deutscher Zunge nannte der liefische Bauer Herr und erwies ihm alle Ehre und Unterwürfigkeit. Kein deutscher Handwerksbursch reiste hier zu Fuß oder entbehrte der Zehrung. Denn jeder deutsche Ankömmling wurde um seiner Abstammung willen von den Edelleuten auf das freigebigste bewirtet und zu Wagen von Hof zu Hof befördert, und der Bauer tat ihm für einen ganz unbedeutenden Entgelt gern dasselbe. Überhaupt erfuhren die Deutschen, welche nach Liefland kamen, in jeder Weise von der herrschenden Klasse Gunst und Vorschub, und leicht fanden sie hier ein gutes Amt oder sonst eine einträgliche und ehrenvolle Beschäftigung. Daher gingen sie selten oder nie wieder fort von hier. Damals, das heißt vor den schlimmen Zeiten der moskowitischen Einfälle, welche in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts die Liefländer zwangen sich teils an Polen, teils an Schweden zu ergeben, damals, in der guten alten Zeit, galt noch der Spruch:

Liefland — Bliefland.


Ganz privat - Teestunde am Samowar

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Russisches Bauernmädchen

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Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

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