Die ersten Ruriks.

Slawische Stämme, reichlich gemischt mit den Überresten einer Menge von Völkern, die vordem in den weiten Ebenen vom Ural bis zur Ostsee sich getummelt, insbesondere mit Finnen, hatten im 9. Jahrhundert n. Chr. den größten Teil des Landstrichs inne, der später Großrussland hieß und in seiner Ausdehnung ungefähr durch die Städte Altnowgorod, Smolensk, Kursk und Kostroma bestimmt wird. Er umfasst den fruchtbarsten Teil von Osteuropa, und da auf die Stürme der großen Völkerwanderung hier ein paar Jahrhunderte der Ruhe gefolgt waren, so gedieh seine Bevölkerung zu behäbigem Wohlstand. Aber eins fehlte, was der Slawe zu seinem rechten Wohlsein durchaus nöthig hat, nämlich ein Herr, der ihm imponiert. Man hatte zwar in jedem Dorf einen Häuptling, in jeder größeren Ortschaft einen Knäsen oder Fürsten, der seine Leute hinlänglich zwackte; aber diese Adeligen waren doch nur kleine Despoten und galten außerhalb ihres Gaues nichts. Übrigens sehnten diese selbst sich nach einem, der stärker wäre als sie alle. Das Natürlichste schien, dass sie aus ihrer Mitte sich ein gemeinsames Oberhaupt wählten. Sie hatten es versucht, aber kein Mensch gehorchte dem Gewählten; die Zwietracht wurde nur ärger.

Dazu kam nun, dass von der Ostsee her alljährlich Schwärme von Seeräubern hereinbrachen, die Flüsse hinauffuhren und das Land kreuz und quer durchplünderten.


In dieser Not wandten die am meisten ausgesetzten Bevölkerungen, die am Ladoga-, am Urnen- und Peipussee wohnten, ihre hilfesuchenden Blicke eben dahin, von wo die Gefahr kam, nach den Ufern des finnischen Meerbusens. Hier hatte sich ein Haufe von schwedischen und normannischen Abenteurern eingenistet und war weithin der Schrecken aller Bauern und Fischer. Diese schlimmen Gäste nannten sich selbst Waräger, aber bei den benachbarten Finnen hießen sie Rus, und der letztere Name blieb ihnen. Ihr Haupt war damals ein gewisser Rurik, unter den Piraten seiner Zeit einer der verwegensten, dabei verschlagen wie ein Iltis und stark wie ein Eisbär. Ein solcher Gesell dünkte dem herrenlosen Volke gerade der rechte Mann, es in die Zucht zu nehmen, und so erschien denn eines Tages im Jahre 861 in der Burg des Räubers eine Deputation, ein alter Knäs an der Spitze, küsste Rurik's lange Stiefel und trug ihr Anliegen vor: ,,Unser Land ist groß und gesegnet, aber keine Ordnung herrscht darin und einer steht da wider den andern; komm denn und regiere uns!“ 9)

Rurik tat diesen braven Leuten gern den Willen; mit seiner ganzen Bande rückte er ein, besetzte alle festen Plätze dieser Gegend und schlug seine Residenz in Nowgorod auf. Mit List und Gewalt erweiterte er dann den Kreis seiner Herrschaft; bald umfasste derselbe das ganze Gebiet, welches heute die Gouvernements Pskow, Nowgorod, Petersburg, Estland einnehmen. Seine Unterthanen erhielten nach den Herrschern, die sie sich gegeben, den Namen Russen und bildeten jetzt zum ersten Male ein Staatstum; denn sie hatten nun einen Herrn.

So wird die Gründung des russischen Reichs von den russischen Berichterstattern dargestellt; es ist indes wahrscheinlich, dass man sich den Warägern keineswegs aus freiem Entschlüsse unterwarf Sie waren ja damals die Geißel von ganz Osteuropa, und bis nach Konstantinopel hin zitterte man vor ihnen. In ihren kleinen Schiffen fuhren sie von der Ostsee her die russischen Flüsse hinauf, trugen dann ihre Boote über die Wasserscheide nach dem Dnepr und gelangten auf demselben ins schwarze Meer. Die griechischen Kaiser wussten sich ihrer nicht anders als mit Geld zu erwehren; den Slawen, die ihnen erreichbar wohnten, blieb nur übrig, sich bedingungslos zu ergeben.

Diese Eroberer bildeten anfangs eine eigene, die herrschende, Kaste im Reiche; sie waren die Krieger, die Beamten; sie hielten es für ihr Recht, dass das Oberhaupt des Staates zu Bojaren, das ist zu Offizieren und Würdenträgern nur Stammesgenossen, nur Waräger, erhob. Da ihren Ansprüchen indes eben so sehr das Interesse des Großfürsten, wie der Vorteil der Unterthanen entgegenstand, und ihre Anzahl verhältnismäßig nur gering war, so vermochten sie auf die Dauer nicht ihre Vorrechte zu behaupten und verschmolzen allmählich mit dem übrigen Volke. Unter den friedlichen Geschäften behagte ihnen am meisten der Handel; sie unternahmen als Kaufleute jetzt eben so kühne Reisen, wie früher als Seeräuber. Beliebt war bei ihnen besonders die Fahrt auf die Märkte der Bulgaren an der untern Wolga. Die warägischen Schiffe gingen dorthin aus dem schwarzen und asowschen Meer den Don hinauf bis zu seinem Knie und wurden dann nach dem Knie der Wolga hinübergetragen; oder sie kamen auch aus dem Innern Russlands unmittelbar die Wolga herab. Im Jahre 922 besuchte ein arabischer Gelehrter, Ibn Foszlan, das Land der Bulgaren, und unter den Handelsleuten vieler Nationen, die er hier traf, fielen ihm die Waräger ganz besonders auf. Er entwirft von diesen Gründern des russischen Reiches folgendes Bild:

„Ich sah die Russen, wie sie mit ihren Waaren sich am Flusse Itil (Wolga) gelagert hatten. Nie sah ich Leute von mächtigerem Körperbau; sie sind hoch wie Palmbäume und haben eine rosige Haut. Manche von ihnen lassen sich den Bart scheren, andere tragen ihn in Zöpfe gedreht, wie man mit den Mähnen der Pferde zu thun pflegt, noch andere färben ihn safrangelb. Ihre gewöhnliche Tracht ist nicht der Kaftan, sondern ein grobes Gewand, welches um eine Seite so herumgeworfen wird, dass eine Hand frei bleibt. Jeder führt eine Axt, ein Messer und ein Schwert bei sich; ohne diese Waffen sieht man sie niemals. Ihre Schwerter sind breit, wellenförmig gestreift und von europäischer Arbeit. Auf der einen Seite derselben befinden sich von der Spitze bis zum Griff mancherlei Figuren, besonders Bäume, dargestellt. Die Weiber tragen auf der Brust eine kleine Büchse von Eisen, Kupfer, Silber oder Gold, und an dem Büchschen hängt vermittelst eines Ringes ein Messer. Um den Hals tragen sie goldene oder silberne Ketten. Wenn der Mann nämlich zehntausend Dirhem *) besitzt, so lässt er seiner Frau eine Kette machen; hat er zwanzigtausend, so bekommt sie zwei Halsketten, und so fort. Daher erblickt man an dem Halse einer russischen Frau oft eine ganze Menge Ketten. Ihr größter Schmuck indes besteht aus Halsbändern von grünen Glasperlen, und sie sind darauf so versessen, dass sie für eine einzige solche Glasperle einen Dirhem bezahlen.

*) Arabische Silberstücke. Zehntausend Dirhem betragen nach unserm Gelde etwa 1500 Thaler.

Wenn sie hier ankommen, so legen sie ihre Schiffe im Itil vor Anker und bauen sich an dessen Ufern große Häuser von Holz. In so einem Hause leben ihrer zehn oder zwanzig, auch mehr, zusammen; doch hat jeder von ihnen eine Ruhebank für sich, auf welcher er mit seinen Mädchen und mit den Sklavinnen, die er zum Verkauf bringt, sitzt und sich vergnügt. Scham kennen sie nicht. Die Russen sind überhaupt die unsaubersten Menschen, die Gott geschaffen hat, und gleichen wilden Eseln. In einer und derselben Schüssel und mit einem und demselben Wasser wäscht und kämmt sich die ganze Bewohnerschaft eines Hauses.

Ihre Nahrung besteht aus Brot, Fleisch, Zwiebeln, Milch und berauschenden Getränken. Sie sind dem Trünke so ergeben, dass oft unter ihnen einer mit dem Becher in der Hand stirbt.

In der Nähe ihres Lagerplatzes stehen hölzerne Götzenbilder, ein großes und darum mehrere kleine; die letzteren sollen die Frauen und die Kinder jenes großen Götzen bedeuten. Gleich nach seiner Ankunft begibt sich nun der russische Kaufmann zu dieser Stätte, wirft sich vor der großen Holzfigur nieder und spricht: „O Herr! ich bin aus fernem Lande gekommen, führe so und so viele Mädchen mit mir und von Zobeln so und so viele Felle,“ und wenn er so alle seine Handelsware aufgezählt hat, fährt er fort: „Dir hab ich dieses Geschenk gebracht!“ legt dann seine Opfergabe vor den Götzen hin und sagt: „ich wünsche, du bescherest mir einen Käufer, der brav Gold- und Silberstücke hat, der mir abkauft alles, was ich anbiete, und der mir in keiner meiner Forderungen zuwider ist!“ Nach diesem Gebet empfiehlt er sich. Wenn nun sein Handel schlecht geht, so kommt er wieder zu dem Götzen und bringt ein zweites und ein drittes Geschenk. Und wenn auch dies nicht hilft, so wendet er sich nach einander an die kleinen Götzen mit seinen Gaben und bittet sie demütig um Fürsprache. Hat er Glück im Geschäft, so sagt er: „Mein Herr hat mein Begehr erfüllt. Jetzt ist es meine Pflicht ihm zu vergelten.“ Darauf schlachtet er eine Anzahl Rinder und Schafe, gibt einen Teil des Fleisches an die Armen, trägt den Rest zu jenen Götzenbildern und hängt die Köpfe der geschlachteten Tiere auf Pfähle, die zu diesem Zwecke dort errichtet sind. In der Nacht aber kommen die Hunde und verzehren das Dargebrachte. Dann ruft der Geber freudig: „Mein Herr hat an mir Wohlgefallen; er hat mein Geschenk verzehrt.“

Wird einer von ihnen krank, so schaffen sie ihn in ein entfernt von ihrem Lager aufgeschlagenes Zelt, lassen ihm etwas Brot und Wasser zurück und bekümmern sich weiter nicht um ihn. Stirbt er, so verbrennen sie den Leichnam; nur wenn der Todte ein Sklave war, so bleibt er den Hunden und Vögeln zur Beute.

Ertappen sie einen Dieb oder Räuber, so legen sie ihm einen dauerhaften Strick um den Hals und knüpfen ihn an einen Baum; dort hängt er, bis er durch Wind und Regen aufgelöst in Stücke zerfällt.

Die Ehre, welche die Russen einem freien Verstorbenen erweisen, besteht darin, dass sie ihn verbrennen: den Armen ohne viel Umstände in einem Holzkahn, den Reichen und Vornehmen aber mit großer und mannigfacher Feierlichkeit. Zu der Zeit, als ich sie zu beobachten Gelegenheit hatte, starb gerade eines ihrer Oberhäupter. Das erste, was sie taten, war, dass sie seine Hinterlassenschaft in drei Teile sonderten. Ein Drittel legten sie für die Familie des Verstorbenen bei Seite, ein anderes verwendeten sie, um ihm prächtige Kleiderstoffe zu kaufen, aus denen sie ihm den Leichenanzug nähen Ließen; für das letzte Drittel kauften sie sich berauschende Getränke. Sodann wurden die Knechte und Mägde des Todten zusammenberufen und es hieß nun: ,,Wer von euch will mit ihm sterben?“ Eins der Mädchen antwortete: „Ich.“ Nachher hätte die Unbesonnene ihr Wort gern zurückgenommen; allein es war zu spät. Sie wurde zweien Mädchen anvertraut, die sie auf Schritt und Tritt bewachen mussten. Übrigens ergab sie sich bald in ihr Schicksal, trank sich täglich einen kleinen Rausch, sang und schien fröhlich und vergnügt.

Das Anfertigen der Leichengewänder und überhaupt die meisten Dienste bei der ganzen Zurüstung besorgte ein altes, hexenhaft aussehendes Weib; die Russen nennen es den Todesengel. Als dies Weib nach zehn Tagen seine Schneiderarbeit beendigt hatte, machten sich die Genossen des Verstorbenen an ihr Werk. Sie zogen sein Schiff ans Land und stellten es auf ein Gerüst von Pfählen; ringsum errichteten sie hölzerne Götzenbilder. Dann schlugen sie im Schiffe ein Zelt auf, setzten eine Ruhebank hinein, und das alte Weib, der Todesengel, belegte dieselbe mit wattierten, gesteppten Tüchern, mit Kopfkissen, deren Überzug von griechischem Goldstoff war, und mit einer Bettdecke von demselben Stoffe. Darauf begaben sich die Männer an den Ort, wo die Leiche vorläufig verwahrt worden. Es war eine Grube im Felde, überdacht von Brettern und mit Erde beschüttet; hier hatten sie den Todten hineingesetzt und ihm auch Getränke, Früchte und eine Laute mitgegeben. Jetzt nahmen sie alles dieses heraus, zogen der Leiche Unterbeinkleider, Oberhosen, Stiefel und Wamms an, bekleideten sie dann noch mit einem langen Rock von Goldstoff mit goldenen Knöpfen und setzten ihr eine goldstoffene, mit Zobel verbrämte Mütze aufs Haupt. Hierauf trugen sie den Todten zum Schiffe und legten ihn dort im Zelte auf das Ruhebett; neben ihn seine Waffen, vor das Bett einen Krug mit Wein und Schüsseln voll Früchte, Basilienkraut, Brot, Fleisch und Zwiebeln. Sodann ergriffen sie einen Hund, hieben ihn in Stücke und warfen dieselben in das Schiff; ebenso taten sie mit einem Hahn, einem Huhn, zwei Ochsen und zwei Pferden. Die Pferde jedoch wurden, bevor man sie schlachtete, so lange herumgejagt, bis sie von Schweiß troffen.

Unterdessen war das Mädchen, welches sich dem Tode geweiht, im Lager auf und abgegangen und bald hier, bald da zu einem Kaufmann in sein Zelt oder Haus getreten. Wer sie umarmt hatte, sprach dann zu ihr: ,,Sag' deinem Herrn, nur aus Liebe zu ihm habest du mit mir der Liebe gepflogen.“

Jetzt aber nahte der furchtbare Augenblick der Opferung. Unweit des Schiffes hatte man eine hölzerne Wand, in der Gestalt eines verschlossenen Tores, errichtet. Hierher brachte man das Mädchen, Ließ es mit den Füßen auf die flachen Hände zweier Männer steigen und hob es so an der Wand empor, bis es mit dem Kopfe hinüberragte. „Was siehst du?“ riefen sie hinauf. „Ich sehe meinen Vater und meine Mutter,“ antwortete die Magd.

Man lies sie nun herunter, um sie von neuem hinaufzuheben, und fragte wieder: „Was siehst du?“

,,Ich sehe alle meine verstorbenen Anverwandten zusammensitzen,“ war die Antwort.

Zum dritten Male wurde sie herab und hinaufgehoben und befragt. „Jetzt sehe ich meinen Herrn. Er sitzt im Paradiese. O das Paradies ist so schön, so grün. Bei ihm sind Knechte und Knaben. Er ruft mich; so bringt mich denn zu ihm!“

Man führte sie nun zum Schiffe. Dort zog sie ihre Armbänder und ihre Beinringe ab und gab die Armbänder dem Todesengel, die Beinringe den Töchtern des Todesengels, das heißt den beiden Mädchen, die sie bewacht hatten. Dann hob man sie auf das Schiff. Ringsherum standen die Männer, viele davon mit Schilden und Stöcken in den Händen, andere mit gefüllten Trinkbechern. Man reichte ihr einen Becher; sie nahm ihn, sang ein Lebewohl und leerte ihn. Aber sie zögerte noch. Ein zweiter Becher wurde ihr gereicht. Sie stimmte ein neues und langes Abschiedslied an. Da befahl ihr das alte Weib, sich zu beeilen, dass sie in das Zelt komme. Das Mädchen aber war bestürzt und unentschlossen. Die Alte machte nun dem Schwanken ein Ende, packte das arme Opfer und zog es mit sich ins Zelt hinein, während draußen die Schildträger mit den Stöcken auf die Schilde schlugen und durch ihren Lärm jeden Jammerlaut übertönten. Zugleich traten sechs Männer in das Zelt, machten sämtlich sich mit dem Mädchen zu schaffen, und streckten es dann an die Seite des Todten. Darauf ergriffen ihrer zwei es bei den Füssen, zwei bei den Händen und zwei zogen einen Strick an, den die Alte der Magd um den Hals gelegt. Der Todesengel schwang nun ein großes breitklingiges Messer und stieß es dem Opfer in die Brust, und die Männer würgten dazu mit dem Strick, bis das Leben erlosch.

Die Mörder verließen jetzt das Schiff. Der nächste Anverwandte des Verstorbenen aber entkleidete sich, nahm dann eine brennende Fackel und ging rückwärts nach dem Schiffe, welches er in solcher Stellung in Brand steckte. Nun warfen auch alle Übrigen brennende Spähne in das Schiff, ein Wind erhob sich und rasch verzehrte die Flamme Schiff und Zelt und alles, was darin war.

Mir zur Seite stand ein Russe, der sagte jetzt etwas zu meinem Dolmetscher. Ich fragte diesen, was der Russe geredet, und erhielt die Antwort: „Ihr Araber seid doch ein dummes Volk. Ihr nehmt den, der euch der geliebteste und geehrteste unter den Menschen ist, und werft ihn in die Erde, wo ihn die Maden und Würmer fressen. Wir dagegen verbrennen ihn in einem Nu, so dass er unverzüglich und sonder Aufenthalt ins Paradies eingeht.“ „Dann brach er in ein wildes Gelächter aus und setzte hinzu: „Seines Gottes Liebe zu ihm macht, dass schon der Wind weht und ihn in einem Augenblicke wegraffen wird!“

Und in der Tat, es verging keine Stunde, so war Schiff und Mädchen mit dem Verstorbenen zu Asche geworden.

Nun errichteten sie auf der Brandstätte einen runden Erdhügel, stellten darauf einen Klotz von Buchenholz und beschrieben denselben mit dem Namen des Todten und mit demjenigen ihres Königs. Dies war das Ende der Feier. —

Auch bei Hofe in Russland herrschen seltsame Sitten. Es befinden sich bei dem Könige in seiner Burg stets vierhundert der tapfersten und zuverlässigsten von seinem Gefolge, die mit ihm zu sterben oder für ihn ihr Leben zu opfern bereit sind. Jeder derselben hat ein Mädchen, das ihn bedient, ihm Kopf und Hände wäscht und Essen und Trinken bereitet; außerdem hat er noch ein Mädchen bei sich, welches ihm die eheliche Pflicht erweist. Diese vierhundert Krieger sitzen unten an des Königs Hochsitz. Das ist eine lange Tribüne, thronartig geschmückt und mit kostbaren Edelsteinen verziert; auf dieser ruht der König inmitten von vierzig Mädchen.

Zuweilen vergnügt er sich wohl mit einer der Schönen in Gegenwart des Hofstaats. Von seinem Hochsitz steigt er nicht herunter; hier befriedigt er alle seine Bedürfnisse. Will er ausreiten, so führt man ihm sein Pferd bis zum Hochsitz hin, von wo er es besteigt; und kehrt er heim, so reitet er so nahe an denselben, dass er auf ihn wieder absitzen kann.“ 10)

So weit der Bagdader. Man ersieht aus seinem Bericht, dass die russischen Waräger in der Kultur vor den alten Scythen und Sarmaten eben nicht viel voraus hatten. Aber eine gewisse staatenbildende Kraft war ihnen, wie allen Normannen eigen, und diese Fähigkeit hatten sie in dem weiten slawischen Lande, welches sie erobert, mit Glück angewandt.

Nach dem Gründer des Reiches hat man die ganze Dynastie, welche von ihm abstammt, die Ruriks genannt. Sie ist von längerer Dauer gewesen, als irgend eine andere Dynastie der Welt; denn sie währte über siebenhundert und dreißig Jahre, erlosch erst 1598. Und was noch merkwürdiger, man gewahrt an ihr durchaus nicht, wie an den meisten alten Geschlechtern, ein allmähliches Versiegen der geistigen und körperlichen Begabung, sondern sie zeigt ein fort und fort wechselndes, doch massiges Auf- und Niederwogen der Lebenskraft. Sie hat gegen ihr Ende, wie in der Mitte und am Anfang ihres Bestehens, tüchtige Männer hervorgebracht. Dies ist vielleicht eine Folge des Umstandes gewesen, dass sie ihr Blut immer wieder durch Mesalliancen, durch Verbindungen mit den Töchtern des Landes auffrischte. Auch hat man es mit der Echtheit der Abstammung in Russland nie so genau genommen wie anderwärts. Gar oft stieg dort ein Großfürst, ein Zar auf den Thron, von dem jeder wusste, dass er nur dem Namen nach der Sohn seines Vaters war — ein Beweis, dass der Russe dem Zaren nicht darum gehorcht, weil er der Sprössling einer bestimmten Familie, sondern weil er einmal Zar ist. Er nimmt den Herrn hin, wie der Türke das Fatum.

Das erste Lebenszeichen, welches der junge russische Staat von sich gab , war ein Angriff auf Konstantinopel. Diese Stadt, durch die Gunst ihrer Lage an der Schwelle zweier Erdteile und durch ihre historischen Erinnerungen zum Mittelpunkt einer Weltmacht bestimmt, war damals die Hauptstadt des byzantinischen Kaisertums, eines Reiches, welches Schätze genug besaß, um unaufhörlich Feinde anzulocken, aber kein mannhaftes Volk, um Gewalt mit Gewalt abzutreiben. So war die Fahrt nach Byzanz oder Mikelgard (Großstadt), wie sie es nannten, frühzeitig bei den nordischen Seeräubern sehr beliebt, und die Gefahr für die Griechen wuchs, als die Waräger 864 sich auch Kiews bemächtigten, welches von Ruriks Nachfolger, dem Großfürsten Oleg, seinem Reiche einverleibt wurde.

Denn jetzt drohte Russland nicht mehr mit bloßen Räuberbanden, es entsandte die Heere eines großen Staates gegen seine Nachbarn; und wie Rom vor den Königen der Deutschen, so hat Byzanz seitdem mehr als einmal vor dem Zaren gezittert. Oleg selbst trat den ersten Zug nach dem Rom des Orients an; er bezwang es 907 mit leichter Mühe, und er schrieb dem griechischen Kaiser Bedingungen vor, die auf eine dauernde Abhängigkeit hinzielten. Denn Kaiser Leo musste Tribut zahlen und geloben, jeden russischen Gesandten in Konstantinopel auf seine Kosten zu unterhalten, auch jedem russischen Kaufmann, der durch seine Geschäfte dorthin geführt würde, sechs Monate lang Lebensmittel zu reichen und ihn bei der Abreise mit allem Nötigen zu versorgen.

Indess, die Russen haben aus Byzanz nicht allein Beute und Ehre geholt; ihre Verbindung mit dem byzantinischen Reiche hat ihnen auch eine höhere, die christliche Kultur gebracht. Von dort kam ihnen das Evangelium, von dort die erste Unterweisung in allen Künsten und Wissenschaften der gebildeten Welt.

Die christliche Religion hat überall zuerst bei den Frauen Eingang gefunden. Auch unter den Ruriks geschah die erste Taufe an einer Frau; es war Olga, Wittwe des Großfürsten Igor, welche im Jahre 957 von Kiew, jetzt der Residenz der Ruriks, nach Konstantinopel reiste, um sich dort taufen zu lassen. Sie erhielt als Christin den Namen Helena und wird von der griechischen Kirche als Heilige verehrt. Sie ist auch als weise Regentin bekannt, wie sie denn das barbarische jus primae noctis in Russland abschaffte. 11)

Aber in ihrem Hause lebte noch zu viel von dem alten Warägersinn, als dass die Männer auf das Beispiel einer Frau hin ihren alten Göttern hätten entsagen sollen. Erst ihr Enkel Wladimir tat diesen Schritt, wofür er denn ebenfalls kanonisiert worden ist.

Der heilige Wladimir war eigentlich ein großer Bösewicht; er hatte seinen Bruder ermorden lassen und gegen seine zahlreichen Frauen verfuhr er mit der Grausamkeit eines Blaubarts. Auch geschah es aus sehr weltlichen Gründen, dass er die Taufe annahm. Doch scheint er nun wirklich in sich gegangen zu sein; wenigstens behaupten seine Glaubensgenossen: „Er war ein grausamer Tyrann, ein listiger Betrüger und ein Kain; aber als er in den Bund der Christenheit eintrat, da erwachten in ihm die Regungen eines milden Herzens, Gottesfurcht und Menschenliebe.“

Ein großer Fürst war er auf jeden Fall; er hat mit den Waffen sein Reich bis zu den Karpathen und bis zur Krim ausgedehnt; er hat die übermütigen Waräger mit Hilfe seiner slawischen Truppen bezwungen und die Widerspenstigsten aus dem Lande gejagt; und vor allem er hat Russland in die Reihe der Kulturstaaten eingeführt, indem er seine Völker zum Christentum bekehrte. Er befestigte hierdurch zugleich den Thron auf das stärkste; denn die russische Kirche ist eins der hauptsächlichsten Mittel gewesen, durch welche die Zaren ihr Staatswesen im Innern einheitlich und fügsam und nach außen furchtbar gemacht haben. Wladimir begriff oder ahnte doch diese bedeutenden weltlichen Vorteile, während seine Gesandten, die er nach Konstantinopel geschickt, um daselbst an Ort und Stelle den Nutzen des christlichen Glaubens zu erkunden, ihm von der Pracht jenes Gottesdienstes, von der herrlichen Hagia Sophia, dem größten und schönsten Tempel der Welt, und von dem reichgeschmückten Hofstaat des christlichen Kaisers erzählten.

Der Großfürst wollte mit dem Glanz des Siegers in die neue Gemeinschaft eintreten. Er überzog die Heiden der Krim mit Krieg und eroberte Cherson. Hier ließ er sich im Jahre 988 von griechischen Priestern taufen. Die Freude in Byzanz war groß, doch sie blieb nicht lange ungetrübt. Denn der alte Täufling verlangte jetzt die Hand der jungen und schönen Prinzessin Anna, der Schwester des Kaisers. Man gab sie ihm, weil er an der Spitze eines siegreichen Heeres stand, und er versprach dagegen, dem Christentum treu zu bleiben.

Anderwärts in Europa hat erst die christliche Geistlichkeit das göttliche Recht der Könige gelehrt; in Russland fand sie es als einen Glaubenssatz des Volkes bereits vor. Wie viel Blut kostete bei den Germanen, den Wenden, den Preußen die Bezwingung des Heidentums! in Russland handelte es sich lediglich darum, den Herrscher zu bekehren. Nachdem der Großfürst getauft worden, verstand es sich von selbst, dass die Russen nun allesamt ebenfalls Christen wurden; denn ihr Herr befahl es. Erschrocken und betrübt sahen die Bewohner von Kiew, wie Peruns Bild, der große Götze mit dem silbernen Kopf und goldenen Schnurrbart, mit Keulen geschlagen, an den Schweif eines Pferdes gebunden und in den Dnepr gestürzt wurde. Traurig vernahmen sie des Großfürsten Gebot, alle Götterbilder auszuliefern und sich zur Taufe zu stellen. Sie weinten und heulten, aber sie gehorchten. Jammernd brachten sie die Götzen herbeigeschleppt und warfen sie in den Fluss, und unter Wehklagen stiegen sie dann in das Wasser und sammelten sich um die Flösse, auf denen die griechischen Priester die Taufgebete ablasen. Mit Tränen und unwillig, doch ohne Widerstand empfing das Volk die Taufe.

Übrigens sorgte Wladimir, soviel er konnte, auch für die Belehrung der Russen. Er errichtete Kirchen und geistliche Schulen, und seine Nachfolger bauten an seinem Werke weiter. Berühmt ist unter den ältesten Stiftungen dieser Art das Höhlenkloster (Petscherski) bei Kiew. In der Waldesstille, die es umgab, ist das Beste erblüht, was das alte Russland an Kunst und Gelehrsamkeit besaß.

Die Liebe, die Verzeihung, welche das Christentum predigt, wurde von dem neubekehrten Großfürsten anfangs missverstanden; er glaubte, diese Religion mache ihm die Aufhebung der Todesstrafe zur Pflicht, und er gab daher ein Gesetz, welches auch dem ärgsten Mörder fortan sein Leben verbürgte. Die Folge war natürlich, dass sich die Mordtaten sehr vermehrten, und dass man wieder zur Blutrache griff, weil der Staat die Sühnung nicht mehr gewährte, welche die Familie als ein Naturrecht verlangen darf. „Wladimir sah sich denn auch nach einiger Zeit genötigt, jene Strafe wieder einzuführen. Gleichwohl wiederholte einer seiner nächsten Nachfolger den Versuch; doch mit dem nämlichen Misserfolge, und Wladimir II. sprach dann in Bezug auf dieses Schwanken in seinem letzten Willen (1125) sterbend die Mahnung aus: „Glaubt mir, meine Kinder! Menschenblut zu schonen ist zwar eine Tugend; aber durch Milde einen Schuldigen der Strafe zu entziehen ist an einem Regenten viel schädlicher als Grausamkeit.“

Dagegen begann die wahre christliche Moral auf allen Gebieten des Lebens auch in Russland ihren wohltätigen Einfluss zu üben, und besonders die Ehe wurde nun eine edlere, überhaupt die Stellung der Frau eine würdigere.

Der gemeine Mann, besonders der Bauer, hielt es freilich insgeheim noch lange mit den alten Göttern. Zwar in Russland war ihre Stätte nicht mehr; aber bei den benachbarten Litauern und Preußen da wurden sie oder ihresgleichen noch verehrt; dort konnte man noch ihren Willen erfahren und durch fromme Gaben ihren Beistand gewinnen.

Wer den Niemen hinabfuhr, gewahrte zur Linken, bevor der Fluss sich in seine Mündungsarme teilt, eine vielbetretene Strasse, die in das Land, in den preußischen Gau Nadrauen hineinführte; folgte er ihr, so gelangte er in zwei Tagemärschen an einen alten Eichenwald. Hier wehrten ihm die Eingebornen den Weg; aber hier war auch das Ziel der Reise erreicht, wenn er kam, um die Götter an ihrem Sitze aufzusuchen. Denn hier lag das weltberühmte heilige Romowe, der Ort, welcher den Mittelpunkt des Glaubens für alle die Völker bildete, die zwischen der Düna und der Weichsel, zwischen dem Narew und der Ostsee wohnten.

Am Saume des Waldes erstreckte sich auf der einen Seite weithin ein stattliches Dorf; auf der andern Seite, wo der Boden sich zu einem breiten Hügel erhob, sah man eine Anzahl von Häusern aus Feldstein, welche ringförmig ein burgähnliches Gebäude umgaben. Hier erblickte der Eintretende die reichste Fülle des Wohlstandes, in den Gemächern kostbares Gerät, in den Ställen die schönsten Pferde. Dies waren die Häuser der Priester von Romowe.12) Sie selbst erschienen dem Pilger fast wie die christlichen Mönche in seiner fernen, russischen Heimat. Denn ihre Tracht war eigentümlich und gleichmäßig, und von ihren Wohnungen blieb jedes weibliche Wesen ausgeschlossen. In der Tat hatten die Waidelotten — so nannte hier der Heide seine Priester — ganz klösterliche Satzungen, und vor allem war ihnen, außer dem Gehorsam gegen den Oberpriester, auch das Gelübde der Keuschheit auferlegt. Es gab ihrer in jedem Gau, fast in jedem Dorfe; sie waren die Ärzte, die Wahrsager und die Seelsorger des Volkes. Man zog sie zu den Beratungen der Häuptlinge, und man befragte sie in jeder Familie. Sie standen an dem Bette des Kranken, und wenn er starb, so verkündeten sie sein Lob, seinen Einzug in das Jenseits, und leiteten die Verbrennung und Bestattung des Leichnams. Aber sie alle gehorchten einem Willen, dem Worte des Oberpriesters, der in Romowe, neben dem Hain der Götter wohnte. Er hieß der Kriwe und war in der Regel ein vom Alter gebeugter Greis. Denn immer nur der Älteste aus seinem Geschlecht wurde von den Waidelotten zu dieser Würde erwählt. Seinem Befehle gehorchten auch die Häuptlinge. Wen er mit seinem Krummstabe, der Kriwule, oder mit einem andern bekannten Abzeichen entsandte, der wurde nicht bloß in Preußen, sondern auch bei den verwandten Völkern, bei den Kuren, Letten, Litauern, wie ein Bote des Himmels aufgenommen, und der Weisung, die er überbrachte, musste sich auch der Mächtigste fügen. So haben auch die baltischen Heiden ihren Papst gehabt. 13)

Die Ehrfurcht, die man vor ihm hegte, verstärkte der Kriwe dadurch, dass er sich dem Volke nur selten zeigte. Von allen Enden der heidnischen Welt kamen die Pilger, um von ihm Orakelsprüche einzuholen; aber er antwortete meistens nur durch den Mund seiner Diener, der Waidelotten. Auch der Zutritt zu dem heiligen Haine, in welchem die großen Götterbilder standen, war für gewöhnlich den Priestern vorbehalten. Hier waltete der Kriwe und versah im Allerheiligsten seinen Dienst. Nur bei den hohen Opferfesten wurde das Volk hier zugelassen, um mit eigenen Augen seine Götter anzuschauen, vor ihnen anzubeten und den Segen des Kriwen zu empfangen. Da stand eine riesenhafte Eiche, deren Äste einige Klafter hoch über dem Boden so zusammengewachsen waren, dass sie drei Nischen bildeten. In diesen Nischen ragten die Bilder der drei obersten Götter; in der mittleren die Gestalt eines bärtigen Mannes mit Feuerflammen um das Haupt und im Antlitz wilden Zorn — das war Perkunos, der Donnergott. Ihm zur Linken das Bild eines freundlichen Jünglings mit einem Ährenkranz im Haar — Patrimpos, Gott der Freude und des Glückes. Zur Rechten aber starrte Pakollos, 14) der bleiche greisenhafte Gott des Todes. Am Fuße der Eiche brannte auf einem mächtigen Opfersteine ein ewiges Feuer, welches den Göttern zu unterhalten die vornehmste Pflicht des Kriwen war.

Jahrhunderte lang hat man in Romowe geopfert und Orakel geholt, während in Polen und Russland längst das Christentum eingeführt war. Erst gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts, als das preussische Volk nach dreiundfünfzigjährigem Ringen den deutschen Ordensrittern und Kreuzfahrern erlag, hatte auch das heimliche russische Heidentum den letzten Rückhalt verloren. Zwar tat sich nun in Litauen ein neues Romowe auf, aber es gedieh zu keinem rechten Ansehen; die beste Kraft des Götzendienstes war dahin. Und so geschah es, dass die Litauer, als im Jahre 1386 ihr Großfürst Jagiello, um die Hand der Erbin Polens zu erhalten, sich taufen ließ, der Bekehrung keinen Widerstand entgegensetzten. Sie nahmen vielmehr ganz gern die schönen weißen Röcke, die der Großfürst den Täuflingen schenkte, und die heilige Handlung ging ohne Störung von statten. Die polnischen Priester verfuhren übrigens hierbei sehr summarisch. Die Litauer wurden zu vielen Tausenden an die Flüsse befohlen, und hunderte hier in einem Zuge getauft. Die so zusammen Getauften erhielten demnach einen und denselben christlichen Namen, so dass in einem Dorfe die Männer sämtlich Peter, in einem andern Paul oder Jakob hießen.

Ausgerottet war damit das Heidentum nicht; es verkroch sich nur tiefer und lebt als Aberglaube noch hie und da in dem unwissenden Volke. Von seinen Gebräuchen behauptete sich in Litauen und Russland am längsten der Schlangenkultus. Noch im sechzehnten Jahrhundert war es dort bei vielen Landleuten üblich, sich in einem abgelegenen Winkel des Hauses eine Schlange zu halten; der Bauer hegte und pflegte sie, weil er überzeugt war, sie bringe ihm Glück, und es könne ihm das Schlimmste zustoßen, wenn er sie vernachlässige oder gar tödte.15)

Übrigens haben sich in Russland weit ärgere Dinge dieser Art aus uralter Zeit vererbt. Die Sekte der Skopzen, die sich selbst verstümmeln, um geschlechtslos und dadurch heiliger zu werden, ist nichts als ein Rest asiatischen Heidentums, welches schon bei den Scythen am Dnepr und Don sich Eingang zu verschaffen suchte.

Damals hießen solche Schwärmer Priester der Cybele und sie waren in den griechischen Städten am schwarzen Meere wohlbekannt. Die Idee, aus welcher ihr Wahnwitz entsprang, nahm später die Form der christlichen Ascese an. Nun können dergleichen Tollheiten selbst in einem verhältnismäßig leicht zu beaufsichtigenden Lande im Stillen unglaublich lange Zeit bestehen, wie denn in Böhmen die Sekte der Adamiten, welche dort im fünfzehnten Jahrhundert ihr Unwesen trieb, wenn man der Volksstimme Glauben schenkt, noch vor wenigen Decennien nicht vollständig ausgestorben war. In Russland aber gibt es der Schlupfwinkel und Hintertüren unzählige, und in seinen Ungeheuern Räumen kann allerlei Unkraut ungesehen oder doch unbehelligt fortwuchern. Denn, wie der Russe sagt: „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit.“

Was wir im Staats- und Gesellschaftswesen mittelalterlich nennen, hat es in Russland eigentlich nie gegeben. Dort, wo der Fürst unumschränkt über jeden und über alles gebot, wo die Gesetze von jeher mit den Worten begannen: „Ich euer Herr befehle“ und mit den Worten schlössen: „So will ich es und nicht anders,“ dort konnten Hierarchie und Feudalwesen keine Stätte haben. Die russische Geistlichkeit war reich und angesehen, sie hatte durch ihr Amt und als Trägerin der Wissenschaft über die Laien ein großes geistiges Uebergewicht, und sie übte daher auf die Gesinnung und Stimmung der Nation -viel Einfluss. Aber dem Herrscher gegenüber war ihre Macht ein Nichts.

Noch weniger durfte es dem russischen Adel beikommen, gegen den Großfürsten einen eigenen Willen geltend zu machen. Doch er hatte nicht einmal einen solchen; nachdem die Waräger in der scythisch sarmatischen Masse der Nation untergegangen waren, bewegte kein freier frischer Luftzug mehr den geistigen Dunstkreis, der auf ihr lag. Der Sinn der Bojaren und Knäsen war und blieb sklavisch. Die ersten christlichen Großfürsten entlehnten dem Abendlande die Ritterfahne des heiligen Georg, des Lindwurmtöters, und erhoben sie zum Reichspanier; aber ein russisches Rittertum hat sich nie gebildet. Der Edelmann beharrte in seiner Rohheit; er unterschied sich in Bildung, Sitte und Neigung sehr wenig von den Bauern, die vor ihm im Staube lagen, gleichwie er hinwieder die Füße des Großfürsten küsste. Übrigens, wie sollten hochfliegende Ideen in Köpfe geraten, welche von Jugend auf abwechselnd die Untertänigkeit und die Trunksucht zu Boden senkten! und wie sollten Leiber sich recht in ein Stahlgewand schicken, welche das Klima den größten Teil des Jahres hindurch nötigte, einen Pelz zu tragen! Nein, für glänzende Turniere, für abenteuerliche Ritterfahrten und dergleichen phantastische Dinge war der russische Bojar nicht geschaffen.

Doch blieb das Reich nach Einführung des Christentums von den Einwirkungen des Zeitgeistes, der in Westeuropa herrschte, nicht völlig unberührt. Der Anblick der zahlreichen Staaten, die dort blühten, bestärkte die Ruriks in einem Entschlüsse, den schon die Natur der heimischen Verhältnisse zu rechtfertigen schien. Ihr Reich hatte einen so gewaltigen Umfang, dass es von einer einzigen Stelle aus sehr schwer zu regieren war, zumal bei so mangelhaften Verkehrsmitteln, wie sie damals zu Gebote standen. Sie wendeten daher den Grundsatz der Erbteilung auch auf den Staat an; doch sollte der Älteste des Hauses das Haupt der Dynastie sein, dem seine Brüder und Vettern, obwohl in ihren Fürstentümern souverän, ein moralisches Übergewicht einzuräumen hätten. Bereits Wladimir der Heilige traf bei seinem Tode (1015) diese Einrichtung, und sie dauerte dann Jahrhunderte lang. Das russische Reich war durch sie dem Namen nach ein Seniorat, in der Tat aber ein Haufe von selbständigen Kleinstaaten. Bürgerkriege im Innern, Schwäche nach außen — das waren auch hier die Folgen des Teilwesens. Nur selten glückte es einem kräftigen Großfürsten, diese Ordnung der Dinge zu durchbrechen und mit Gewalt die Einheit des Reiches wiederherzustellen; aber nach seinem Tode wurde dann doch wieder geteilt. Die Kleinstaaterei war jetzt für Russland die Regel, die Zusammenfassung zur Großmacht die Ausnahme.

Die glänzendste Ausnahme dieser Art bildet die Regierung Jaroslavs I. (1025 — 1054); sie gehört zu den schmeichelhaftesten Erinnerungen der Russen. Durch seine glücklichen Waffentaten gegen die Tschuden oder Finnen in Liefland, gegen die Petschenegen, die Vorfahren der Kirgisen, am Don, gegen die Czazaren am Kaukasus, von denen die Tscherkessen stammen, und selbst gegen die mächtigen Polen erweiterte Jaroslav sein Reich bis auf 50000 Quadratmeilen; es erstreckte sich nun vom Eismeer bis zum Kaukasus und bis zur Bukowina. Der Beherrscher einer solchen Ländermasse musste die Augen der Welt auf sich ziehen, und in der Tat beginnt unter Jaroslav I. Russlands politischer Verkehr mit dem Westen und die Verschwägerung seiner Dynastie mit den Königen des Abendlandes. Der Hof von Kiew war jetzt die Zufluchtstätte fremder Magnaten; verbannte Prinzen aus Skandinavien, England, Ungarn genossen hier die weltbekannte Gastfreundschaft des Großfürsten.

Dabei war Jaroslav ein guter Regent. Er Ließ den ersten russischen Gesetzcodex abfassen und begründete das Gerichtswesen auf die Gesetze. Er zog aus Byzanz Maler, Bildhauer, Baumeister ins Land, er stiftete Schulen und Kirchen und verewigte sich besonders in seiner Residenz durch zahlreiche Prachtbauten.

Einen großen Teil ihrer Bedeutung verdankte die uralte Stadt Kiew freilich auch ihrer regen und mannigfachen Handelstätigkeit , die von der Lage des Ortes begünstigt wurde. Denn hier liefen die Hauptstrassen des Reiches zusammen, und nach dem Meere bot der Dnepr einen Weg, die „griechische Strasse“, die schon in grauer Vorzeit von Handelsschiffen war befahren worden.

Der Russe nennt Kiew das heilige, weil ihm hier zuerst das Licht des Christentums aufging; er nannte es aber einst auch sein Konstantinopel, so herrlich erschien ihm die Stadt mit ihren vergoldeten Toren, ihren vierhundert Kirchen und ihren hohen Mauern. Dennoch verlegte einer der Nachfolger Jaroslavs im Jahre 1169 seine Residenz nach der Stadt Wladimir, und seitdem sank Kiews Sonne; sie ging unter in dem Mongolensturm, den das nächste Jahrhundert brachte. Dann wurde Kiew gar dem Reiche entfremdet und kam an Litauen und Polen. Es ist wieder russisch geworden, doch die ehemalige Herrlichkeit kehrte nicht zurück. Allein dem Russen blieb diese Mutter seiner Städte ehrwürdig, er zählt sie in seiner Erinnerung noch immer gern zu den Wunderwerken der Welt. In diesem Sinne zeigte einst die Kaiserin Katharina II., als sie im Winter 1787/8 zu Kiew Hof hielt, den fremden Diplomaten die Stadt und fragte, wie ihnen dieselbe gefalle. Der österreichische Gesandte, Graf Kobenzl, rief begeistert: „Das ist ein remarkabler Anblick!“ Der Gesandte Frankreichs, Graf Segur, bemerkte fein: „Die Ansicht dieser einst großartigen Stadt weckt neben den Erinnerungen an die Vergangenheit in den begonnenen neuen Gebäuden Hoffnungen für die Zukunft.“ Der englische Gesandte, Fitz Herbert, sagte sehr trocken: „Das ist ein recht trauriger Ort, dieses Kiew, wo man nur Ruinen, Klöster und Kutten sieht!“ — *)

Von Kiew hat die russische Kirche ihren Ursprung genommen; aber die Wiege des russischen Staates stand in Nowgorod. Doch ist diese Stadt nicht bloß deshalb von weit höherer politischer Wichtigkeit gewesen; sie besitzt eine eigene große Geschichte. Auch um sie hatte Jaroslav I. erhebliche Verdienste; denn wenn der Markt am Wolchow jetzt bald der Mittelpunkt des Handels von ganz Nordeuropa wurde, so verdankte er seine Blüte den freien Institutionen, welche ihm jener Großfürst verliehen hatte.

*) Wenigstens das Höhlenkloster bei Kiew, und besonders die Höhlen (Petscheren), in welchen die Heiligen, ihrer siebenundvierzig, begraben liegen, wird man immerhin als sehenswert bezeichnen dürfen. Diese Petscheren sind unterirdische Gänge, die, bald zur Rechten, bald zur Linken sich wendend, siebzig oder achtzig Klafter lang das feste weislichrote Erdreich durchsetzen. Der Boden ist mit Ziegeln gepflastert; zu beiden Seiten in den Wänden wölben sich Nischen, in denen die offenen Särge stehen. Aus einem jeden Sarge ragt eine entblößte schwarzbraune Mumienhand hervor; der übrige Körper ist verhüllt; ein Papier an der Wand über dem Sarge zeigt in großen Buchstaben den Namen des Heiligen an. Hie und da in kleineren Nischen sind auf Schüsseln und unter Glasglocken heilige Hirnschädel zu sehen. Diese tun zuweilen Wunder, indem sie schwitzen und einen Wohlgeruch von sich geben. Auch die Erde hat hier Wunderkraft. Der Russe schabt ein wenig von den Wänden ab und gebraucht diesen Staub als Medicin wider allerlei Krankheiten.16) Die Zellen, in welchen die frömmsten Troglodyten gehaust, sind zugemauert, bis auf ein kleines viereckiges Loch, in welches der Besucher das übliche Trinkgeld steckt.

Die Stadt Nowgorod hat lange Zeit eine Rolle gespielt fast wie ein nordisches Venedig. Sie vermittelte den Verkehr zwischen Asien und Europa, und für alle Waaren, die der Westen nach Nordund Osteuropa sandte, war sie der Hauptstapelplatz. Ihre Kaufleute bahnten sich durch die dunkeln Wälder des Ural den Weg nach Sibirien und wussten ihre Verbindungen bis Persien und Indien auszudehnen; sie machten ihre Geschäfte mit Kiew und mit Wisby, mit Byzanz und Lübeck. Der deutschen Hansa war Nowgorod eng verbündet; unter den fremden Kaufleuten aller Nationen, die sich in Nowgorod angesiedelt, waren die deutschen „Gäste“ bei weitem die zahlreichsten und angesehensten. 17) Die alte Slawenstadt erhielt durch sie ein halbgermanisches Gepräge; es gab in ihr schon im dreizehnten Jahrhundert ein eigenes Quartier der Deutschen, und eine der ältesten Strassen hieß die preussische. Im vierzehnten Jahrhundert, zur Zeit seiner größten Macht, zählte Nowgorod eine halbe Million Menschen, und alles Land zwischen dem Ladogasee und dem weißen Meere gehorchte der reichen gewaltigen Stadt. ,,Wer kann wider Gott und Nowgorod!“ sagt ein altes slawisches Sprichwort. Die Zersplitterung Russlands in einen Staatenbund begünstigte diesen Aufschwung, Nowgorod bildete tatsächlich eine Republik, Dafür war es aber auch die starke Vormauer Russlands gegen die deutschen Schwertritter und gegen die Schweden.

Die Verfassung dieser Handelsstadt war eine Art demokratischer Militärdiktatur. Die Possadniks oder Bürgermeister und ihnen untergeordnet die Tausendmänner oder Bezirksvorsteher waren zugleich Feldherren und Richter, und diese Behörden wurden von den Bürgern gewählt. Der Fürst, ein Rurik, hatte wenig zu sagen; die Stadt beschränkte ihn nach Belieben. Mit großer Verwunderung berichten daher die russischen Geschichtschreiber : „Die Fürsten und Bischöfe in Nowgorod mussten sich vor das Gericht der Volksversammlung stellen; denn die Nowgoroder glaubten, alle weltliche und geistliche Gewalt gehe von dem Volke aus!“