Brief XVI. Wladikawkas, den 15.09.

Am 13-ten Abends langte ich in Tiflis an, am 14-ten machte ich einige Abschiedsbesuche und fuhr um 2 Uhr Mittags mit einer Diligence ab, welche ein Offizier mit mir gemeinschaftlich mietete. Vor Mzchet sah ich einige in hohe Felswände gegrabene Zellenwohnungen, welche ich auf der Herreise nicht bemerkt hatte.

Die letzte Station vor der Passhöhe gingen wir fast ausschließlich zu Fuß und langten auf graderen, aber oft sehr steilen Bergpfaden noch vor unserm Wagen, der den endlosen Serpentinen der Chaussee folgte, zur Station.


Beim roten Kreuz auf der Passhöhe kam uns als Gruß aus der nordischen Heimat ein eisiger Sturmwind aus Nordost entgegen. In Tiflis hatten wir noch von der Hitze zu leiden; mein Thermometer zeigte jetzt nur+6° R.

Trotz aller Gewohnheit an die nächste Nähe der Abgründe, knöpfte ich die Lederschürze meines Sitzes auf, um nötigenfalls abspringen zu können, denn von der Passhöhe an fuhren wir wieder nur mit 2 Pferden, welche die schwere Diligence weder beim Bergabfahren zu halten, noch beim Bergauffahren guterdings zu schleppen vermochten. Man verliert zu viel von der nötigen Gemütsruhe, um die schöne Landschaft zu bewundern, wenn man mit Pferden fährt, welche, eben geprügelt, weil sie nicht anzogen, endlich mit verzweifeltem Bäumen sich ins Geschirr werfen, es zerreißen und nun so den Wagen halten und lenken sollen.

Tausende von zweirädrigen Karren mit einem Pferde oder, wenn die Last groß ist, mit mehreren Paar Ochsen und Büffeln bespannt, versperren die ohnehin nicht sehr breite Straße; manche Holzachse dieser Karren brach, wenn sie mit den massiven Rädern unserer Diligence in Kollision geriet. An unserem Wagen wurden beide Tritte abgerissen, ein Fenster eingeschlagen, aber dennoch langten wir gegen 2 Uhr Nachmittags mit heiler Haut auf der Station Kasbek an. Der Gipfel des Kasbek war nur teilweise in Wolken gehüllt. Ich beschloss daher hier zu übernachten und am folgenden Morgen zum Kasbekgletscher hinaufzusteigen.

Die Frequenz auf diesem Wege ist sehr bedeutend; es waren vom Morgen bis 2 Uhr Mittags bereits 110 Postpferde von dieser Station abgegangen. Der Stamm beträgt nur 90 Pferde, 20 waren also schon zweimal angespannt worden. Bis zum Abend langten noch gegen 20 Reisende an, welche hier übernachteten. Die Lasttiere, Büffel, Ochsen und Pferde, welchen man durchschnittlich auf der Fahrt von einer Station zur anderen begegnet, taxiere ich auf etwa 500 Häupter. Alles Petroleum, welches in Transkaukasien gebrannt wird, kommt aus Baku nicht direkt nach Tiflis, sondern macht den weiten Umweg über Astrachan, Zarizin, Rostow und Wladikawkas um von dort per Arba über den Kaukasus wieder auf dessen Südseite zu gelangen; — ein schlechtes Zeugnis für die Kommunikationsmittel zwischen Tiflis und Baku.

Das Unterkommen im oberen Stock der Station Kasbek soll für gewöhnlich ganz erträglich sein; jetzt war aber eben Alles frisch gestrichen worden und alle Reisenden mussten zusammen im Speisesaal schlafen.

Der üble Geruch im Speisezimmer, über den ich schon auf der Hinreise geklagt, war jetzt so arg, dass, wenn ich nur die Möglichkeit gehabt hätte, draußen ein Feuer anzumachen ich lieber unter freiem Himmel geschlafen hätte; da die Nacht aber recht kühl war und ich eben aus heißen Ländern kam, fürchtete ich mich zu erkälten.

Ich machte dem Wirte eine Bemerkung wegen des Schmutzes. Als Entschuldigung wies er auf einen Haufen zerrissener Papiere, die eben aus dem Kanzeleizimmer ausgefegt worden waren und jetzt im Vorhaus lagen. “Sie sehen, es wird aufgeräumt und Alles wird frisch gestrichen werden”.

“Ja, aber wie lange ist die Kanzlei nicht aufgeräumt worden, dass sich so viel Papierschnitzel in ihr ansammeln konnten; ein Pferd genügt nicht, um sie mit einem Mal abzufahren! Ist dieses Zimmer, seit es zum letzten Mal gestrichen, überhaupt jemals ausgekehrt oder gar gewaschen worden”? — Er zuckte mit den Achseln und griff nach der Schnapskaraffe, um einige der anderen Reisenden zu bedienen. Am 15-ten war ich schon um 3 Uhr Morgens draußen; die bestellten Reitpferde kamen aber erst nach einer Stunde. Eine Wolke liegt wieder auf dem Kasbek und verhüllt Alles; ich reite dennoch aus. Die Luft ist frisch; es ist so dunkel, dass man nur vorsichtig reiten kann.

Ich bin etwa eine halbe Stunde geritten, als die Wolken sich teilen. Der mächtige schneebedeckte Gipfel des Kasbek, von der aufgehenden Sonne bereits beleuchtet, während noch Alles in vollkommenste Dunkelheit gehüllt ist, liegt vor mir. Vom weißen Schnee schien förmlich Licht auszustrahlen. Ich kann dieses Licht nur mit dem des Mondes vergleichen.

Der Effekt ist ganz überwältigend! Auch die zerklüfteten, mit weißen Schneeadern, wie mit einem Netz, bedeckten Bergwände des rechten Terekufers in unserem Rücken erschienen, von diesem Licht beschienen, besonders schön, während der Grund des Tales vor Dunkelheit fast schwarz ist.

Nach einem recht mühevollen Ritt und langem langsamen Steigen zu Fuß bin ich endlich nach 2 1/2 Stunden an dem Ort, den mein Führer als das Ziel unserer Exkursion bezeichnet. Ich stehe auf einer Höhe von 8.100 Fuß, am Rande eines steilen Abhanges. Auf der andern Seite des Tales steigen die steilen rötlich-gelben Abhänge des Kasbek in die Höhe.

Das Gestein ist ein poröser Andesit-Tuf. Im Tal schlängelt sich, wie ein weißer Fluss, der Gletscher. Oben, wo er bei dem ewigen Schnee seinen Anfang nimmt, ist er blendend weiß, je weiter talwärts, desto mehr treten Steintrümmer zu Tage.

Der ganze Berg, auf dem ich stehe, ist nichts als ein Haufen solcher Steintrümmer, welche der Gletscher aufgetürmt und in die er sich darauf selbst wieder ein tiefes Bett gegraben hat.

Diese Exkursion ist, wenn man das Glück hat den Kasbek unbewölkt zu sehen, eine der lohnendsten, die ich kenne, man muss sie aber, wenn irgend möglich, vor Sonnenaufgang machen; später, wenn die Sonne alle Berge beleuchtet ist der Effekt ein ganz anderer, namentlich verlieren die Berge des rechten Terekufers viel von ihrer landschaftlichen Schönheit, wenn die Sonne über sie weg einem in die Augen scheint.

Man kann sich hier die Bewegung des Gletschers lebhaft veranschaulichen. Es ist eine den Abhang hinunter sinkende Eismasse; am unteren Ende schmilzt sie beständig ab, oben wird von den steilen Hängen des Bergkegels immer frischer Schnee nachgeschüttet. Der bedeutende Druck verwandelt die tiefer liegenden Schneeschichten in Eis; das Wasser des schmelzenden Schnees sickert in die unteren Schichten, gefriert dort und trägt durch seine Bewegung talwärts zum Fortrücken der ganzen Masse bei. Weil Eis die Eigenschaft besitzt, dass seine Stücke bei einer Temperatur von null Grad zusammenfrieren, wenn sie fest aneinandergedrückt werden, so verschwinden die Risse, welche sich gelegentlich bilden, auch wieder und das Ganze gleicht vollkommen einer sich langsam fortbewegenden Flüssigkeit.

Nach Tyndall rücken die meisten Gletscher der Schweiz während des Sommers in ihrer Mitte mit einer Geschwindigkeit von 3 Fuß am Tage vorwärts.

Beim Hinabsteigen achtete ich besonders auf die Steine mit glatten Flächen. Einige sind offenbar an der Sohle des Gletschers glatt geschliffen und auf manchem finde ich auch die bekannten Schrammen, welche entstanden sind, indem harte spitze Steine, die in das Gletschereis eingefroren waren, über sie wegrutschten und sie schrammten, wie wir Glas mit einem gefassten Diamanten ritzen.

Es war mir nicht klar, weshalb diese Schrammen meist nur kurz sind; ich glaubte, sie müssten doch in der ganzen Länge der glatten Felsenflächen fortlaufen. Seitdem ich Tyndalls Ansichten über die Beweglichkeit der Eismassen kennen gelernt, glaube ich, es so verstehen zu können, dass der spitze Stein, so fest er auch im Eise sitzt, wenn er auf den Felsen trifft, den er schrammt, bei anhaltendem Drucke doch ins Eis hineindringt. Das heißt, der Gletscher verhält sich in Bezug auf den eingefrorenen Stein ebenso, wie in Bezug auf einen Felsen, der ihm im Wege steht, nämlich gleich einer flüssigen Masse; er umgeht den Felsen und gestattet dem Stein in seine Eismasse einzudringen.

Ich weiß nicht, ob die Wärme, welche bei dem bedeutenden Druck entstehen muss, hier ebenfalls eine Rolle spielen könnte.

Um 9 Uhr war ich wieder auf der Station und um 10 Uhr fuhren wir weiter.

Wunderschön sind die Berge, zwischen denen sich der Weg schlängelt. Ich bedaure nicht, denselben Weg über den Kaukasus nochmals zu fahren. Ist es die Beleuchtung oder sonst etwas, aber sie kommen mir noch großartiger vor, diese himmelstürmenden Felsen von Dariol.

Da fliegt etwas durch die Luft, senkrecht von oben nach unten; ich halte es anfangs für einen großen Raubvogel, der sich auf seine Beute stürzt; die Geschwindigkeit nimmt aber so zu, dass ich mit den Augen nicht zu folgen vermag; jetzt kommt es auf einem Felsblock am Wege an und zerschellt zu Staub: es war ein Stein, der herabfiel.

Mächtige, meist aufrecht stehende sechseckige Säulen bilden oft die Felsen neben dem Wege. Die meisten Proben, die ich von diesen sechseckigen Säulen mitnahm, bestimmte Professor Grewingk als Andesit. Nur das Stück einer sechseckigen Säule aus Abas-Tuman von gelblichgrauer Farbe nannte er vulkanischen Tuf.

Sehr hübsch sehen blankpolierte bläuliche Steinblöcke im Terek aus; es ist feinkörniger Diorit.

Weiter unterhalb sah ich mehrere Eingänge zu Höhlen an beiden Ufern des Flusses. Ich halte es für wahrscheinlich, dass man hier Nachrichten aus den Zeiten des ältesten menschlichen Daseins in diesem Lande finden könnte. Dieses Terektal ist der hauptsächlichste durch den Kaukasus führende Weg, auf dem wandernde und sich bekriegende Völker, wie einzelne Reisende, einen harten Tribut an Toten der unwirtlichen Gegend gezahlt haben. Noch heute übernachten die Leute auf ihren Reisen unter überhängenden Felsen oder in Höhlen; darum sind die Felsen an solchen Stellen vielfach von den Nachtfeuern geschwärzt. Mancher Wanderer mag in alten Zeiten, von Kälte und Müdigkeit überwältigt oder von einem Schneesturm überfallen, sich hier niedergelegt haben, ohne wieder zu erwachen und mancher verwundete Krieger neben seinen Waffen verblutet sein.

Der reißende Fluss hat, durch Schnee und Erdstürze gedämmt, oft hoch steigen müssen, um sich dann, mit gesammelten Kräften, Erde und Steine mit fortreißend, wieder ein tieferes Bett zu graben. Dabei hat er gewiss in mancher Höhle Gerippe und Geräte vergraben. Sehr oft sind mir im ganzen Kaukasus Täler aufgefallen, in denen unter ähnlichen Verhältnissen Menschen- und Tierüberreste in den zahlreichen Höhlen vergraben worden sein könnten, wie zum Beispiel im Tal des Podkuschek, zwischen Pjatigorsk und Kislowodsk, welches den Weg aus der Steppe zu den grasreichen Hochebenen bei Barmamud bildet.

Dass uns die Größe einer Höhle danach angegeben wurde, dass sie 1.000 Stück Vieh solle fassen können, zeigt, dass noch heute das Vieh in solche Höhlen getrieben zu werden pflegt.

Das enge Tal, mit den unerklimmbaren Bergen zu beiden Seiten, trägt manche Spuren des kriegerischen Treibens in demselben. Viereckige Türme sind nicht selten und meist wohlerhalten, da die Grusiner sich freiwillig der russischen Herrschaft unterworfen haben. Eine ausgedehnte Ruine auf einem einzelnen Felsen, der das ganze Thal vor dem Engpass von Dariol beherrscht, zeugt davon, dass in alter Zeit sich auch bedeutendere Kräfte hier zentralisiert hatten. Die Sage nennt dieses Schloss die Residenz der auf dem Kaukasus vielfach in Sagen verherrlichten Königin Tamara.

Jetzt stehen das ganze Tal entlang kleine russische Forts mit Kasernen. Zur landschaftlichen Schönheit der Gegend trägt ihre einförmige Architektur nicht bei; mag es ihnen dafür vergönnt sein, der immer wieder zerstörten menschlichen Arbeit in diesem Lande durch Erhaltung des Friedens Entwicklung zu ermöglichen!

Bei der nächsten Station Lars wurde sehr langsam umgespannt; ich fand Zeit zu einem kleinen Spaziergang und rate Jedem, den Punkt aufzusuchen, auf welchem ich gestanden. Die Stationsgebäude zur Linken, die Richtung nach Wladikawkas im Rücken, sagte ich der sich nochmals eng zusammenziehenden Schlucht Lebewohl. So hoch sind die Felsen nicht wie in Dariol, aber doch noch sehr schön. Hier links liegt ein Berg, der Jedem, welcher Lust hat Steinböcke zu jagen, ein Bild des Jagdterrains geben kann, das ihn erwartet. Es wird Vielen die Lust darnach vergehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti