Brief XV. Waggon Poti-Tiflis den 13.09.

Ins Gasthaus zurückgekehrt, frage ich nach dem Fahrplan der Eisenbahn. Nichts Derartiges ist vorhanden.

“Weiß jemand, wann der Zug nach Tiflis geht?”


“Um 9 Uhr 15.”

“Nach welcher Uhr?”

“Nach der hiesigen.”

“Wie viel ist die hiesige Uhr?”

Durch die eben gemachte Erfahrung gewitzigt, bin ich schon um 8 Uhr am Bahnhof. Man hatte bereits zum zweiten Mal geläutet. Der Stationschef ist aber sehr liebenswürdig; meine Sachen werden sogar gewogen und empfangen, noch bevor mein Diener die Billette hatte nehmen können; wir fahren ab. Zwei junge Frauen im Waggon bekreuzigen sich mit beiden Händen. Das sieht aber gar nicht wie ein Gebet aus, sie sind wohl froh den angenehmen Ort Poti hinter sich zu haben. Ich habe aber diese Stadt und alle ihre Annehmlichkeiten ja noch gar nicht beschrieben. Ich sagte schon, dass die ganze Gegend durch rechtwinklig sich schneidende Straßen in große Quadrate geteilt ist. Mehrere dieser Quadrate sind große Wasserlachen, in denen Schilf und Strauchwerk wächst; kleinere Lachen sieht man fast in jedem Hof. Zu beiden Seiten der Straße sind breite Gräben, in denen das Wasser etwa 1 Fuß tief steht; grobes Schilfgras, welches der Papyrusstaude gleicht, wächst darin und zahllose Frösche treiben dort ihr Wesen. Ihr Gequak soll des Nachts dem Fremden keinen Schlaf gönnen und nervöse Personen zur
Verzweiflung treiben. Meine Taubheit hilft mir über diese Unannehmlichkeit hinweg; aber dass dort sehr viele Frösche leben, kann ich auch bezeugen. Wenn man plötzlich an einen Graben tritt, stürzen Tausende sich mit einem Sturm ins Wasser, dass es förmlich Wellen schlägt.

Wo nicht kleine gusseiserne Brücken die Gräben passierbar machen, ist das Kreuzen der Straßen oft schwierig. Kurz, stagnierendes, faulendes Wasser und was damit zusammenhängt all und überall. Um halb sechs, so wie sich die Sonne dem Untergange zuneigt, wird eine feuchte Kälte, nach der vorhergegangenen Hitze, sehr fühlbar. Ich gehe in mein Zimmer; dort zeigt der Thermometer noch 19° Reaum., dennoch schließe ich alle Fenster. Jetzt, erst gegen 6 Uhr, langen unsere beiden Führer mit dem Packpferde an, ohne von Räubern ausgeplündert worden zu sein. Die Kellner im Hôtel hatten meinem Diener bereits allerhand Räubergeschichten erzählt, die auf diesem Wege sehr häufig vorkommen sollen; die kleinen Holzkreuze am Wege, welche wir wohl bemerkt, sollen die Orte bezeichnen, an denen Reisenden zuerst das Leben und dann diejenigen Dinge, welche diese Räuber brauchen können, abgenommen worden. Ausdrücke wie „la bourse ou la vie“ seien hier nicht üblich; da Alle bewaffnet reisen, würde der Räuber leicht selbst an seinem Leben Schaden nehmen können, wenn er sich erst auf Parlamentieren einließe. Was daran wahr ist, kann ich nicht ergründen; interessanter ist es jedenfalls, es zu glauben.

Übrigens will ich die Gelegenheit wahrnehmen, um die Reisenden sehr ernstlich vor den Räubern zu warnen, aber nicht um ihretwillen, sondern um der Räuber willen.

So z. B. erzählt Professor Petzholdt, beim Fahren in der Steppe sei ihnen die Zeit, welche sie gebraucht, um die Station zu erreichen, einmal gar zu lang vorgekommen, sie hätten sich allerlei Gedanken gemacht, dass der Postillon vom Wege abgekehrt sei und sie einer Räuberbande zufahre. Als es bereits dunkel geworden, hält der Postillon plötzlich mitten in der öden Steppe an; ein wild aussehender, bis an die Zähne bewaffneter Tatar kommt herangesprengt. Ihr Verteidigungsplan ist rasch entworfen: Petzholdt's Reisegefährte soll den Postillon übernehmen, er selbst zieht den Revolver und will erst den Räuberhauptmann erschießen. Was ergab sich? Der vermeintliche Räuberhauptmann war der Stationshalter; sie standen vor der Station, welche, aus einer unterirdischen Grube bestehend, die in der Dunkelheit von ihnen nicht bemerkt worden war.

Ein anderes Mal übernachtet Professor Petzholdt in einem alten Kloster im Gebirge. In der Nacht hört er Lärm, steckt ein Zündhölzchen an und sieht einen riesigen Kaukasier, die Hand am Dolchgriff, neben seinem Bett.

Es war eine Ehren- und Leibwache, die man ihm zugeschickt hatte.

Die Eisenbahn befindet sich auf dem rechten Rionufer, während Poti auf dem linken Ufer liegt. Eine prachtvolle eiserne Brücke führt über den Fluss zum Bahnhof; auch die letzte Niete an dieser Brücke ist aus England gebracht. Die großen Laternen aus weißem Milchglase, stehen so dicht, wie es nur in London üblich ist; aber nur wenige von ihnen bezeugen durch den berußten Zustand, dass ein Petroleum-Lämpchen in ihnen zu brennen pflegt.

Selten ist mir der Kontrast zwischen öder Wildnis und hoher Kultur so auffallend neben einander erschienen, als hier die beiden Rionufer neben dieser Brücke.

Unser Zug fährt über eine gute Stunde in sumpfigem Walde; der Eisenbahndamm hat offenbar das Wasser noch höher angestaut, als es ohnehin hier gestanden haben mag. Nicht nur die großen Bäume, sondern auch alles Unterholz ist auf große Strecken hin ausgestorben. Waldbrände haben trotz des Wassers hier auch gehaust. Es macht einen ganz besonders traurigen Eindruck, hier, wo die Natur so viel Pracht und Üppigkeit entwickelt, jetzt die schwarz verkohlten Gerippe einstiger Baumriesen aus dem schlammig grünen Wasser emporstarren zu sehen.

Erst während der zweiten Stunde Eisenbahnfahrt wird der Boden trocken; Maisfelder wechseln mit Ellerngebüsch ab, auch Basenflächen kommen vor. Dann kommt ein langes Stück sehr fruchtbaren Landes. Nur in der Lombardei habe ich ähnlichen Reichtum gesehen.

Felder, die zwei und drei Ernten jährlich geben, zwischen den Feldern Maulbeerbäume und am Maulbeerbaum der Weinstock, allenthalben kleine Flüsschen, die aus den Schneebergen kommen und daher namentlich in der heißen Zeit wasserreich sind. Es könnte Alles ein Garten, ein Paradies sein, aber wie viel Jahrhunderte lang fließen nicht schon diese Flüsschen und wehen die feuchtwarmen Winde; die Menschen aber üben sich im Halsabschneiden und der größte Teil des Landes bleibt Wildnis! Wollen wir hoffen, dass die russische Herrschaft jetzt den Frieden erhalten und den Einwohnern die nötige Sicherheit des Eigentums geben wird, um den Schatz aus ihrem Acker zu graben.

Im Altertum lesen wir wohl vom Reichtum der Kolchischen Ebene, aber die Wogen der Völkerwanderungen des Orients, welche hier am Kaukasus gebrandet, haben allen Wohlstand immer wieder vernichtet.

Von der Station Karali an fahren wir steil bergan; die Steigungen betragen 45 pro mille, während die steilsten Steigungen der Semmeringbahn nur 32 pro mille ausmachen, d. h. 45 Zoll Steigung auf 1.000 Zoll Länge der Bahn. Biegungen gibt es hier von 60 Faden Radius=420 Fuß engl., während man sonst nicht gern kleinere Radien als 300 Faden nimmt. Der Zug geht sehr langsam, so dass einem das Stehen auf dem Perron des Waggons durch den Zugwind nicht verleidet wird und man die herrliche Landschaft bestens gemessen kann. Dem Lauf der Kwirila folgend winden wir uns zwischen Bergen in einer engen Schlucht. Das Wasser der Kwirila ist wunderbar klar, so dass ich sogar aus dem Waggon die silberglänzenden Flanken der Forellen sehen kann; es gibt ihrer unendlich viele, auf alle 2 Quadratfuß Wasserfläche mindestens einen Fisch. O, selten reiches Paradies für einen Forellenangler!

Ich hatte so viel Fische gesehen und am Ende doch aus einer Entfernung, aus welcher man nicht mehr erwarten darf, welche im Wasser zu bemerken, dass ich zweifelhaft wurde und mich geirrt zu haben meinte. Im Hôtel de Londres in Tiflis hatte ich aber am anderen Morgen Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, dass ich mich durchaus nicht getäuscht. Im Hofe des Hôtels befindet sich ein Reservoir, in welchem Forellen gehalten werden. Wenn die Fische ruhig sind, bedarf es eines sehr scharfen Auges, um ihren grauen Rücken von dem Grunde des Bassins zu unterscheiden; sie haben aber die Eigentümlichkeit beim Schwimmen sich mitunter auf die Seite zu werfen und wenn dann das Sonnenlicht im richtigen Winkel zum Beobachter auf die silbernen Schuppen ihrer Flanke fällt, blitzt für einen Augenblick ein so heller Lichtstrahl auf, als käme er vom blanken Spiegel eines optischen Instruments. Das ist es, was man auch aus dem Waggonfenster sehen kann, ohne die Augen eines Reihers zu haben.

Nach der reichen geackerten Ebene sind jetzt auch die bebauten Täler verschwunden; Wälder, die anfangs nur die Berggipfel bedeckten, reichen bis ins Thal hinab. Eine Schlucht, durch die wir fuhren, war besonders schön. Unendlich hohe Bergwände, die uns allerseits umgaben, so steil, dass man nur nackte Felsen zu sehen erwarten durfte, waren mit einer Decke üppigen Laubwerks bedeckt, aus welcher nur hier und da eine Felsenspitze, eine glatte Wand oder das Rinnsal eines Bergbaches sichtbar wurden. Nur sehr selten zeigte sich noch ein kleines Maisfeld; auch einen mikroskopisch kleinen Weinberg sah ich neben einer Station, an so steiler Bergwand angelegt, wie ich es sonst nur am Rhein gefunden habe. Es ist nicht unmöglich, dass hier gerade auf den trockenen Felsen bei der noch immer feuchtwarmen Luft und der vielen Sonnenwärme ein besonders schöner Wein erzielt werden könnte. Jetzt steigen wir so steil bergan, dass an unserm Zuge vorn 2 Lokomotiven ziehen und hinten eine stößt. Am äußersten Ende des Tales, in dem wir fahren, liegt auf dem schmalen Kamme eines einzeln stehenden scharfen Grates ein recht großes Dorf. Kleine Felder, an den Berghängen zerstreut, sehen aus, als könne man nur auf Strickleitern zu ihnen gelangen; immer wieder Beweise der ewigen Kämpfe und Fluchten bis in die unzugänglichsten Winkel. Auch diese Leute haben wohl einst in der fruchtbaren Ebene gelebt und sind bis an den äußersten Rand des bewohnbaren Landes hinaufgedrängt worden. Sie gedeihen aber trotz der schwierigen Kämpfe mit einer kargen Natur ganz gut, weil sie hier vor Überfällen sicherer sind als in der reichen Ebene. Die Erscheinung ist hier auf dem Kaukasus, so weit ich ihn gesehen, ganz allgemein. Die reichen Ebenen am Fuß des Gebirges sind verhältnismäßig menschenleer und in den unwirtlichsten Schluchten der Berge gedeihen Dörfer und besteht sogar eine Art roher Kultur, welche sich namentlich in der Anfertigung von Waffen seit undenklichen Zeiten berühmt gemacht. Hier in diesen Verstecken des Kaukasus war es auch wahrscheinlich, wo die Erfindung, welche jetzt das menschliche Leben auf dem ganzen Erdball so mächtig beeinflusst, gemacht wurde, aus dem Erz Eisen und Stahl zu bereiten.

Das Flüsschen, dessen Bett die Bahn bisher stromaufwärts gefolgt ist, versiegt; wir müssen an der Passhöhe der Bahnlinie sein. So ist es. Nach einigen Minuten steigen wir langsam bergan, dann folgen wir einem anderen Flussbett stromabwärts; alle Räder werden gebremst. Wir sind bei der Station Poni. Jetzt geht es fast immer bergab, nicht einen grünen Grashalm mehr sieht man, Alles ist dürre diesseits des eben überschrittenen Höhenzuges.

Das Tal der Kura lässt in sehr charakteristischer Weise die Bodenformation sehen, welche mir bei den Tälern im Kaukasus vielfach aufgefallen ist. Das von den Felsen gebildete Tal ist bis zu bedeutender Höhe mit Schichten von Kies, Sand und Lehm gefüllt; die oberste Schichte ist schwarzer fruchtbarer Tschernosem. In diese Schichten haben die Flüsse ihre tiefen und breiten Betten, deren Grund aber meist unfruchtbarer Kies oder Sand ist, hineingegraben. Es entstehen auf diese Weise doppelte Flusstäler; die Sohle des höheren ist reich kultiviert; dort auch liegen alle Dörfer, während die dem Fluss zunächst liegende Talebene vollkommen wüst ist.

Es wird dunkel.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti