Brief XIV. Poti, den 12.09.

Die wenigen Stunden, die ich schlafen wollte, wurden mir durch Ungeziefer sehr verleidet. Um halb drei schon war ich auf dem Hof und meine Bündel waren geschnürt; die bestellten Pferde, welche an andern Orten immer sehr pünktlich erschienen waren, kamen aber zu meinem nicht geringen Ärger erst um halb fünf. Es war noch vollkommen finster. Ich kann nicht oft genug wiederholen, wie köstlich hier die Morgenluft ist. Man atmet mit vollen Lungen, als wolle man Vorrat sammeln für den ganzen Tag und für unser nordisches Klima. Der Weg führte anfangs durch Zeltlager, wo die Soldaten sich auch schon zum Ausmarsch bereit machten; dann kam das ewige Ellerngebüsch mit rankendem Hopfen und den großen abgestorbenen Bäumen, wie bei Sugdidi. Kleine Lichtungen waren mit so dichtem Rasen bedeckt, wie ich ihn nur in Schottland gesehen habe, ein Beweis dafür, dass die Luft hier reich an Wasserdunst ist und Niederschläge häufig sind. Auf der zweiten Hälfte des Weges sah ich mehrere Verschanzungen, welche wohl den Zweck gehabt hatten, das Vordringen der Türken, von Nikolajewsk aus, auf diesem Wege zu verhindern; auch ein verlassenes großes Lager passierten wir, wo die Soldaten den ganzen Winter unter Dächern aus Schilf und Farrenkraut gelebt hatten.

Ich hatte nur einen Mann als Führer engagiert; aus Furcht vor Räubern waren ihrer aber zwei mitgekommen. Da der eine zu Fuß ging und mit den Pferden nicht Schritt halten konnte, war sein Kamerad auch nachgeblieben. Ich mochte um ihretwillen aber keine Zeit verlieren; eine kleine Chaussee diente mir als Wegweiser, denn der benutzte Weg führt immer neben ihr her. Weil hier ausschließlich unbeschlagenes Zugvieh gebraucht wird, vermeidet man wo möglich die mit gehackten Steinen bestreuten Straßen. Zahlreiche Flüsschen kreuzen den Weg; die Brücken sind in einem Zustande, welcher das Vermeiden derselben sehr wünschenswert macht. Da der Boden der Bäche aber nicht mehr Kies, sondern unergründlich tiefer weicher Lehm ist, repariert sich ein Jeder, so gut er kann, mit Ellernstöcken und Strauchwerk die Stellen, wo frühere Reisende durchgefallen sind. Mein Pferd hat bei diesen Brücken wahrscheinlich schlechte Erfahrungen gemacht, denn die Nagaika muss immer erst stark in Anwendung kommen, bevor es sich entschließt, dieselben zu betreten. Es versteht aber mit merkwürdigem Geschick die Löcher zu vermeiden, indem es mit dem Hinterfuß genau auf denselben Punkt tritt, welchen es mit dem Vorderfuß vorher untersucht und betreten hat.


Wir mochten etwa 20 Werst geritten sein, da hob sich das Terrain plötzlich etwas. Vier oder fünf Bretterhäuschen und ebenso viel lange Strohdächer lagen am Abhang. Auf dem höchsten Punkt stand ein Kosak und sah mit ruhigem Blick in die Ferne. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes zu urteilen, muss er aufs Meer sehen. So war es auch. Die Bodenerhebung war der Uferwall; jenseits befand sich erst eine lange Lache faulen stehenden Wassers, dann kam eine zweite Düne und darauf die Brandung des Schwarzen Meeres. Für den Bewohner der Ebene ist es immer ein erquickender Blick, wenn er nach längerem Aufenthalt in den Bergen wieder einmal freie offene Fläche vor sich sieht anstatt der, wenn auch herrlich schönen, auf die Dauer aber ein beengendes Gefühl erzeugenden Berge. Wie frei atmete ich auf, als die glatte Meeresfläche und der freie Horizont vor mir lagen! Am Schwarzen Meer sind wird also; — aber wo ist Nikolaewskaja? So weit das Auge die gerade Küste zu verfolgen vermag, sieht man nicht ein Haus. Der Kosak belehrt uns darüber, dass Nikolaewskaja nirgends anders sei, als wo wir eben ständen, man müsse nur nicht sagen “hier ist Nikolaewskaja,” sondern “hier war Nikolaewskaja”; denn die Türken haben es ja zerstört.

Keinen Stein auf dem andern zu lassen, muss ihnen nicht viel Mühe gemacht haben, denn es scheinen hier überhaupt keine Steine gewesen zu sein. Holzkohlen lagen allerdings reichlich umher.

Ein Flüsschen mündet hier; vorgelagerte Sandbänke scheinen die Einfahrt für Schiffe sehr zu erschweren, während die vollkommen buchtenlose Küste sonst gar keinen geschützten Ankerplatz bietet. Nur 2 große Bote, die etwa 2 1/2 Fuß tief gehen mochten, lagen am Ufer.

Von den Kosaken bekam ich 2 Pfund Fleisch zu meinem Schaschlik, auch etwas Mais für meine Pferde. Nach einer Rast von 2 Stunden ritt ich weiter. Der Weg geht immer das Meer entlang; dichter Wald tritt bis auf 100 Schritt ans Ufer, so dass im Sturm der Schaum der Wellen bis auf die Bäume spritzen muss, wodurch sie wie eine geschorene Hecke dicht, und je näher zum Meer, desto niedriger wachsen. So undurchdringlich dieses Dickicht, vom Meer aus gesehen, auch scheint, so sieht man doch, wenn der Weg gelegentlich hineinführt, dass der Wald nicht wesentlich dichter ist, als im Innern des Landes. Auch hier sieht man die eigentümliche Erscheinung des zweifachen Waldes: der Hochwald sehr undicht, meist Rotbuchen; und unter ihnen ein Gewirr dichten Unterholzes, darunter eine Menge Bäumchen und Büsche, die ich weder kenne, noch im Gebirge gesehen habe. Nicht wenig war ich erstaunt, auch die Kalina (virbumum opulus L.) hier zu finden, welche ich für einen ausschließlich nordischen Busch hielt. Werde ich den Buxbaum (buxus sempervirens L.), welcher hier wachsen soll, erkennen? “Das muss er sein!” die Blätter sind dieselben wie am bekannten Bux, welcher bei Gartenwegen und Blumenbeeten im südlichen Europa so häufig als Einfassung dient, und die hellgraue Rinde kenne ich von den Klötzen her, die ich zu Maschinenlagern, in Petersburg gekauft habe. Meist sind die Stämmchen in der Nähe des Weges nur bis 2 Zoll dick, ich sah aber doch einige von 5 Zoll Stärke bei 20 Fuß Höhe; der Stamm ist aber keineswegs gerade, sondern jeder Jahrestrieb scheint einer anderen Richtung zu folgen. Der Uferwall ist meist höher als das dahinter liegende Flachland, so dass das Regenwasser nicht bis ins Meer abfließen kann, sondern sich in großen Lachen ansammelt. Oft ist es der tief ausgefahrene Weg, welcher die Pfützen bildet; das Dickicht zu beiden Seiten macht ein Ausweichen unmöglich und mehrmals musste mein Pferd eine halbe Werst weit in dem wie eine Spinatsuppe bis auf den Grund grünen Wasser waten.

Ich habe bei einer gelegentlichen Besprechung über die desinfizierende Wirkung des Wassers darauf aufmerksam gemacht, dass ein instinktives Gefühl uns sagt, wenn wir an einen murmelnden Bach kommen: “hier ist gut sein!” Und gerne setzen wir uns dort nieder, um zu rasten. Ich glaube nicht, dass es nur Einbildung war, wenn mich beim Reiten in diesem Schlammwasser ein ganz besonderer Ekel überkam, ohne dass irgend ein übler Geruch bemerkbar gewesen wäre. Ich hätte mich für keinen Preis neben einer solchen Pfütze lagern mögen.

Mitunter reite ich auch unmittelbar am Meeresufer, wo die Wellen den Sand noch bespülen und ihn einigermaßen hart machen; doch sinkt das Pferd auch hier zu tief in den Sand ein, um bequem vorwärts kommen zu können. Der Ufersand ist vollkommen schwarz; es ist Magneteisensand mit nur wenigen Quarz- und Feldspatkörnchen. Das wird wohl dem Schwarzen Meer seinen. Namen gegeben haben. Wenn man von einem Schiff aus senkrecht in die Tiefe sieht, muss das Wasser auf diesem dunklen Grunde besonders schwarz erscheinen. Muscheln fand ich hier keine am Ufer, sah aber zwei gallertartige Tiere, fast durchsichtig, etwas opalartig schimmernd, so groß wie meine Hand mit ausgespreizten Fingern; auch sie hatten fingerartige Verlängerungen nach allen Seiten. Das eine lag auf dem feuchten Sande und schien von der Brandung ans Ufer geworfen zu sein, das andere schwamm im Wasser in der unmittelbaren Nähe des Ufers.

Von Ruinen oder sonstigen alten Bauwerken habe ich nichts gesehen. Etwa 6 Werst nördlich von Nikolaewsk, wo der Weg ausnahmsweise einmal gegen eine halbe Werst weit vom Meere führt, und ein alter Uferdamm für ihn durchgegraben ist, sah ich tief im Inneren dieser alten Düne zahlreiche Ziegeltrümmer. Sie mögen den Ort bezeichnen, wo Uferbauten standen in einer Zeit, als der Spiegel des Schwarzen Meeres noch viel höher war und dieser Uferwall von der Brandung über die Ziegeltrümmer aufgeworfen werden konnte.

Ich hatte gefürchtet, dass es während der Mittagsstunden in der brennenden Sonne auf dem schwarzen Sande unerträglich heiß werden würde, der frische Seewind vermochte aber meist immer so viel Kühlung zu schaffen, dass ich nicht zu klagen hatte; nur wo der Weg durchs Dickicht führte, war es schwül, obgleich man im Schatten war.

Mehrere Fähren, die wir zu passieren hatten, hielten uns sehr auf, endlich gegen 3 Uhr erreichten wir Poti. Rechtwinklig sich schneidende Straßen, breite Gräben voll stehenden Wassers auf beiden Seiten, sehr vereinzelt stehende Häuser, Türen und Fenster meist mit Brettern vernagelt.

Wir reiten schon eine halbe Stunde durch solche Straßen; das einzige lebende Wesen, dem wir begegneten, war ein magerer Hund. Endlich erreichen wir bewohnte Straßen und das mir empfohlene Gasthaus Golosowski.

Flottoffiziere sitzen eben beim Mittag und Kachetinerwein. Auch ich wurde aufs Beste bewirtet; etwas schmutzig ist natürlich Alles, aber darauf muss man sich hier schon gefasst machen. Nun zum Dampfschiffcomptoir, um Billete zu morgen zu nehmen. Da erfahre ich, das Dampfschiff sei schon heute Morgen abgegangen, das nächste gehe erst Sonnabend. Es ist also für diese Woche unmöglich in die Krim zu reisen.

“Aber kann ich nach Batum fahren?”

“Passagierschiffe gehen dorthin nicht, Kronsdampfer wohl. Sie müssen aber, um mitfahren zu können, erst einen Erlaubnisschein von der Polizei, dann einen von dem Kommandanten erbitten und sich, damit versehen, an den Kapitän des nächsten absegelnden Kronsschiffes wenden.”

Bevor ich solches unternehme, gehe ich zum Telegraphenbüro und finde dort die Nachricht, dass meine Frau mir nicht in die Krim entgegenkommen kann. Dieser Umstand machte das Maß voll, ich gebe die Krim ganz auf und gehe über Tiflis zurück.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti