Brief XIII. Osurgeti, den 10.11. Sonntag.

Ich wollte schon um 3 Uhr Morgens aus Nowo-Senaki nach Zyrdidi ausfahren, der Posthalter riet mir aber davon ab; ich würde trotz meiner Kronspodoroschnaja doch keine Pferde bekommen, um 8 Uhr gehe aber die Diligence dorthin ab, mit der sei ich sicher anzukommen.

Ich fuhr also mit dieser Diligence II-ter Klasse, einer Art verdecktem char-à-bancs. Die 6 Plätze waren alle besetzt; für Gepäck gab es gar keinen Raum. Fürs Reisen zu Pferde eingerichtet, führt hier auch Niemand viel mit sich, ein paar Sattelsäcke, eine Burka, allenfalls einen Teppich und ein Kopfkissen; doch auch davon musste viel auf dem Schoß gehalten werden.


Gegen 30 Werst fahren wir in fast schnurgerader Richtung und ohne die geringste Steigung der Chaussee.

Dichtes Gebüsch von Weißellern mit rankendem Hopfen bedeckt die sumpfige Ebene. In beiden Chausseegräben steht Wasser; alle sonstigen Gruben, aus denen man Erde zum Bilden des Chausseedamms genommen hat, sind auch voller stehenden Wassers. Mitunter sieht man die Berge zu unserer Rechten; zur Linken scheint die Ebene sich weithin auszudehnen. Wir passieren oft Flüsschen auf sehr verfaulten und baufälligen Brücken, mehrere sind ganz eingestürzt und man muss nebenbei durch den Fluss fahren. Auf dem Kiesgrunde des Flusses ist das Fahren gar nicht so schlimm, aber das Verlassen der Chaussee und die einigen 50 Schritt im tiefen Lehm, bis es wieder gelingt auf den hohen Chausseedamm hinauf zu kommen, sind geradezu gefährlich. Bei einem größeren Fluss war die bisherige Fähre durch eine neue Brücke ersetzt; die Brücke war vortrefflich, aber an einer anderen Stelle gebaut, als wo die Chaussee an das Ufer kam. Wie die Reisenden und auch unsere Diligence von der Chaussee bis zur Brücke kommen sollen, das scheint weder die Ingenieure, welche die Brücke gebaut, noch diejenigen, welche mit dem Chausseedamm zu tun gehabt, etwas anzugehen. Und schlimm genug war die Passage; die Pferde versanken bis über den Bauch und die Bewegungen des Wagens waren dem entsprechend.

Das Ellerngebüsch war sehr dicht, aber nur etwa 28 Fuß hoch; ab und zu starrte aus diesem Dickicht das Gerippe eines hohen Baumes ohne Binde und Äste empor; einige von ihnen schienen Eichen zu sein. Den Grund dieses allgemeinen Aussterbens eines früheren Hochwaldes habe ich nicht entdecken können; da es ganz gleichmäßig auf beiden Seiten des Weges der Fall war, konnte es nicht das Stauwasser des Chausseedammes sein, welches solches veranlasst hatte.

Von Zeit zu Zeit sah man ein halbes Dutzend frischer blühender Kinder auf der Chaussee sitzen und konnte dann hinter dichtem Gebüsch am Graben eine kleine Lichtung sehen, auf der, immer noch unter Bäumen, Mais wuchs. Ein paar kleine Strohdächer Hessen Häuser mehr vermuten als sehen. In einer Ecke wucherten Weinreben auf den Ellern, so dass man vor Weinlaub die Ellernblätter nicht sah. Ein Zaun umgab das Ganze; dann stand noch allenfalls ein mageres Schwein am Graben mit einem langen Knüppel, der aufrecht am Halse angebunden war, damit es nicht durch den Zaun kommen könne; — und wieder sah man nichts als Ellerndickicht mit Hopfen.

Ich musste bei diesen kleinen Ansiedelungen an den Ausspruch des frommen Äneas denken: “Ehen und neue Gefild' betrieb die geschäftige Jugend.” Wo die Kinder so frisch und rosig gedeihen, da wird es fleißige Arme geben;— wir können den Ansiedelungen daher das beste Gedeihen prophezeien.

Gegen 11 Uhr fahren wir das rechte Ufer eines Flusses recht hoch hinauf und befinden uns in einer trockeneren Hochebene. Ausgehauener Wald wechselt mit großen Grasfluren, die stellenweise etwas den Charakter der Steppe annehmen.

Noch eine Stunde Fahrt und wir nähern uns Osurgeti. In beiden Chausseegräben fließt klares Wasser. Wir fahren in die Stadt. Der Weg teilt sich in 2 breite Straßen. In der Mitte neben den beiden Gräben, in welchen das Wasser murmelt, führt eine schattige Allee von 4 Reihen Platanen und Akazien, mehr als eine halbe Werst lang. Männer und Weiber haben auf Eseln die Landesprodukte zum Markt gebracht und die schattige Allee bildet “les halles centrales” des Ortes. In einem recht jämmerlichen Gasthaus stelle ich meine Sachen ab und schicke meinen Diener gleich, um Plätze für die am Nachmittag zurückkehrende Diligence zu belegen. Aber für heute und die beiden nächsten Tage sind schon alle Plätze besetzt; Postpferde können wir auch nicht vor dem andern Morgen 10 Uhr bekommen, und um 10 Uhr 24 Minuten schon geht mein Zug; wenn ich den verfehle, muss ich die ganze Tour nach Osurgeti aufgeben. Jetzt gilt es noch heute 4 Reitpferde auftreiben.

Im Wirtshaus nennt man uns einen Pferdevermieter; wir finden ihn auch richtig nach einigem Suchen; er besitzt aber nur ein Pferd; mit ihm zusammen wurde die ganze Stadt
durchsucht; um 4 Uhr hatten wir endlich 3 Pferde aufgetrieben, ein viertes war absolut nirgends zu haben. Da ich sehr wenig Sachen mit hatte, konnten wir sie zur Not auch auf unsere Reitpferde verteilen. Für diese 3 Pferde verlangten die Leute Anfangs 30 Rubel; nach entsprechendem Handeln waren sie aber auch mit 9 Rub. zufrieden.

Bevor ich ausritt, besah ich noch den Garten des Fürsten Mingrelski, der am Ende der Allee liegt. Der Garten war groß; Bäche und kleine Teiche mit klarem Wasser aus den Bergen tränkten den Boden und der Rest dieses Wassers war es, der in den Chausseegräben erst alle Haushaltungen des Ortes mit Wasser versorgte, um darauf dem ankommenden Reisenden schon auf dem Wege einen erquickenden Eindruck zu bereiten und zu sagen, dass er sich einem gepflegten Wohnort nähere.

Das alte geräumige Wohnhaus ist anspruchslos und sogar baufällig. Der Fürst Mingrelski lebt vorherrschend in Petersburg. Neben diesem Hause ist aber eben ein neues steinernes Schlösschen in orientalischem Styl gebaut worden und bis auf das Innere fast beendigt. Der Effekt ist sehr hübsch; gegen die dunkelgrünen Bäume des Gartens heben sich die blendend weißen Mauern besonders vorteilhaft ab, und machen einen Eindruck von Neuheit und Reinlichkeit, den ich hier im Lande schon lange vermisst.

“Wäre doch Jemand hier, der mir die vielen verschiedenen Bäume im Garten nennen könnte”, sagte ich halblaut; da öffnete sich ein großer Magnoliabusch, ein deutscher Gärtner legte die Magnoliasaat, die er eben gesammelt, aus der Hand, nahm mein Taschenbuch und schrieb mir die Namen aller Pflanzen auf, nach denen ich fragte.

Magnolia grandiflora. Der Baum stand frei auf ebenem Rasen, etwa 25 Fuß hoch, bis an die Erde kräftig beastet und mit dichtem Laub großer dunkelgrüner Blätter bedeckt; obgleich mit reifen Saatkapseln behängt, trug der Baum noch mehrere seiner prachtvollen Blüten, einer riesigen Tulpe oder noch mehr der Wasserlilie gleichend, etwa 5 Zoll hoch und wenn ganz geöffnet, 8 bis 10 Zoll im Durchmesser, von dem zartesten Weiß und einen besonders aromatischen, sehr feinen Duft verbreitend.

Der Ginka-Baum oder Salisboria conifera. Eine Larix-Art mit besonders feinen Nadeln, welche im Winter abfallen; sonst gleicht der Baum ebenso der Zypresse, wie die gewöhnliche Lerche der Abies excelsa (DC) .

Der Johannisbrotbaum.

Der Kirschlorbeerbaum.

Eine Babylonia.

Der Quittenbaum mit seinen einem großen Kantapfel gleichenden Früchten.

Der Tulpenbaum, Cysslomeria Japonica.

Der Zuckerahorn mit gekerbter Rinde, die wie Korkrinde aussieht und mehr als zollweit, so flach wie ein Hahnenkamm, an den jüngsten Trieben haftet.

Die Korkeiche etc. etc.

Ich fragte nach Früchten. Pfirsiche sollen nicht gedeihen; Äpfel erwiesen sich als höchst jämmerlich; Trauben fanden wir an Ranken, die in hohem Unkraut versteckt auf der Erde lagen, es war dieselbe aromatische Traube, welche ich schon in Kutais gegessen und auch hier auf dem Markt hatte kaufen können.

Der Ritt nach Nowo-Senaki war nichts weniger als angenehm. Als ich mein jämmerliches Pferdchen bestieg, wäre es fast umgefallen. Etwas lahm, gegen Nagaikahiebe vollkommen apathisch, nur wenn ich von der einen und mein Diener von der anderen Seite peitschten, setzte es sich in Trab; ein wahrer Liliputanertrab, der auch nicht dauerte; aber im Schritt ging es. Wir brauchten für 42 Werst 8 Stunden und langten recht müde um 2 Uhr Morgens in Nowo-Senaki wieder an. Mit einiger Mühe bewirkte ich Einlass in das kleine Passagierzimmer der Poststation, wo andere Reisende sich eingeschlossen hatten.

Um 10 Uhr ging der Zug ab und brachte mich in glühend-heißen Waggons nach Samtredi. Ich lief gleich zur Post, um der Erste zu sein, welcher nach Pferden fragte. Es galt rasch vorwärts zu kommen; ich sollte unterwegs noch einen Besuch beim Fürsten Eristow machen, und um morgen früh aus Osurgeti weiter zu kommen, mussten die Reitpferde dort noch heute Abend bestellt werden.

Die Station war aber leer; Pferde gab es wohl im Stall, aber keine Menschen. Nach einer halben Stunde Schreiens und Wartens erschien endlich anstatt des Klagebuches die Troika.

Auf einer entsetzlich holperigen Chaussee ging es verhältnismäßig rasch vorwärts. Wir fuhren über einen Fluss auf einer Floßbrücke, da die stehende Brücke eingestürzt war.

Die Ebene war bis hierher meist bebaut, vorherrschend Mais, doch kamen auch ungeackerte Strecken häufiger vor. Hin und wieder sah man einzelne Maulbeerbäume. Hier und da an einem trockenen Ellernstamm rankte ein Weinstock.

Wir fahren wieder ins Gebirge. Es ist der sogenannte kleinere Kaukasus Mingreliens. Die Chaussee wird entsetzlich; Gruben von 2 und 3 Fuß Tiefe mit großen aus dem Grunde herausgegrabenen Steinblöcken. Stellenweise wird der Weg gebessert, das heißt man schüttet 1/2 Fuß hoch gehackte Steine darauf, doch hält das nicht vor, nachdem er einmal so weit durchgefahren worden; was gestern frisch beschüttet ist, wird heute schon von Kanonen, die alle Tage passieren, wieder durchwühlt. Da kommt uns auch eine Batterie entgegen; die armen Pferde keuchen und recken sich; es freut mich aber sehr, eine aus dem Kriege kommende Batterie in so musterhafter Ordnung und gutem Zustande zu sehen; Geschirr und Pferde sehen besser aus, als ich es bei den per Eisenbahn aus Frankreich zurückkehrenden Truppen 1871 in Berlin sah. Unter den Leuten fallen mir viele stämmige Gestalten auf; es scheinen meist Kleinrussen zu sein; sie sind reinlich und ordentlich gekleidet, meist in weißen Hemden. Wie viel endloser Qual könnte man den Pferden und Menschen ersparen wenn der Weg in gutem Stande gehalten wäre! Ich hatte den schmalen Weg verlassen müssen. Mein Wagen stand neben einem Duchan, in dem Wein zu haben war, der, wenn auch nicht besonders schmackhaft, doch sehr trinkbar war. Ich erwartete, dass bei der großen Hitze die durstigen Soldaten sich hier etwas erquicken würden, aber nicht einer verließ die Fronte; einige Feigen, die ich ihnen gab, während der Zug stehen musste, weil eine Kanone in einer tiefen Grube im Wege stecken geblieben war, nahmen sie mit vielem Dank an. Es fiel mir auf, dass nicht einer der Leute auch nur Spuren von Krankheit oder Mattigkeit zeigte; bald darauf sah ich es aber anders. Ein langer Zug mit weißer Leinwand überdeckter Büffelwagen, auf jedem ein rotes Kreuz. Die armen Kranken mit blassen, magern Gesichtern steigen aus und werfen sich, ohne eine schattige oder sonst bequeme Stelle aufzusuchen, mit dem Ausdruck höchster Apathie auf den Boden. Sie haben offenbar schon viel gelitten und Abgestumpftheit, mit Mattigkeit gepaart, spricht aus jeder Bewegung. Wer im Fahren auf Equipagen ohne Ressore Erfahrung hat, weiß, dass so lange man munter bleibt und die aufrechte Stellung einzuhalten vermag, das Fahren gar nicht so schlimm ist; wird man aber vor Müdigkeit faul und lehnt sich an oder sinkt man gar bis zu einer liegenden Stellung zusammen, dann werden die Stöße des Wagens empfindlich, und wenn man schließlich mit dem Kopf oder sonst schmerzhaften Stellen des Körpers an die Holzteile des Wagens ankommt, ist man bald bedeutend verletzt. Wenn nun Krankheit schon ohnehin alle Kräfte dem Körper entzogen hat, muss es eine Tortur sein, auf Ochsenwagen über solche Wege wie diese gekarrt zu werden. Welch’ ein Segen wird für diese Leute der Eisenbahnzug sein, wo sie zu jeder Zeit mindestens einen Trunk Wasser und vor allem Ruhe finden werden.

Die Büffelwagen halten den ganzen Weg besetzt und alles Schreien meines Postillons ist ebenso fruchtlos, als wollte er Berge zum Ausweichen bringen. Zum Glück ist die Station so nah, dass ich sie zu Fuß erreichen kann.

Ich fahre noch an mehreren Zeltlagern vorüber, überall fällt die Ordnung auf den ersten Blick auf, Offiziere reiten hin und her, erteilen Ordre und scheinen eifrigst für die Bedürfnisse ihrer Soldaten zu sorgen, welche bereits in Ruhe lagern.

Auch eine Batterie, welche Rasttag hält, steht auf einer kleinen Ebene am Wege. Ein altes zweistöckiges Fürstenschloss ist ganz mit Militär besetzt; zwei lange Holzbaracken daneben stehen leer, aber unten am Fluss in 2 großen Waschküchen herrscht Leben wie in einer Fabrik.

Auf der nächsten Station frage ich nach dem Fürsten Eristow. Man fährt mich auf einem Nebenwege durch unendlich tiefen Kot und Gruben, in denen ich beinah stecken bleibe. Als wir angekommen, kann der Wagen nicht bis vor die Türe, da drei Falken auf kleinen Krummhölzern dort sitzen. Auf dem großen überdachten Perron vor dem Hause befinden sich gegen 30 Personen, meist in der Tracht griechisch orthodoxer Geistlicher; durch die offene Tür sehe ich im großen Saal eine eben verlassene Mittagstafel mit vielen Gläsern und Flaschen. Es ist nicht die Wohnung des Fürsten, sondern er bewirtet hier den Archimandriten, welcher von Tiflis aus eine Rundreise macht. Da der Fürst seinen Besuch nicht verlassen konnte, ließ er mich durch einen jungen Mann bis zu seiner Wohnung, etwa 3 Werst von da, begleiten. Von dort hat man eine recht hübsche Aussicht. So weit man sehen konnte, waren die breiten Täler rings umher gut kultiviert; es waren wie immer meist Maisfelder, dazwischen eine Tabakspflanzung und am Abhang sehr selten ein kleiner Weinberg. Als wir weiter fuhren, begegneten wir mehreren Jagdgesellschaften, auch einzelnen Jägern, alle mit Falken auf der Faust. Erst um 9 Uhr Abends langte ich in Osurgeti an. Der Fürst Lewon Dawidowitsch Gurieli und der Kreischef Baron Heyking, denen ich durch den Fürsten Zeretelli empfohlen war, versprachen mir Pferde zu besorgen. Sie sagen mir, ich brauchte nicht schon morgen auszureiten, da ich in einem Tage bis Poti kommen könne, das Übernachten in Nikolajewskaja sei wegen der Fieberluft gefährlich und ein Unterkommen so gut wie gar nicht vorhanden. In der Nacht zu reiten sei ebenfalls nicht ratsam, da Raubüberfälle im Walde, den ich zu passieren hätte, wohl vorkämen. Wenn ich einen Tag länger bleiben wolle, könne ich mit einem General nach Batum reiten und von dort zu Schiff nach Poti gehen. Doch würde ich dann erst Mittwoch in Poti sein, und das Dampfschiff in die Krim geht schon Dienstag Morgen. Um das Schiff nicht zu versäumen, muss ich also Batum aufgeben.

Ich speiste heute beim Fürsten Gurieli. Die Pfirsiche, welche zum Dessert serviert wurden, waren die ersten guten, die ich auf dem Kaukasus gesehen; es können, hier wenigstens, also doch welche wachsen und vielleicht bei entsprechender Behandlung noch viel bessere als diese. Auch sehr schöne Feigen und dieselben würzigen Trauben, welche ich schon mehrmals in dieser Gegend gegessen, wurden aufgetragen. Man nennt diese Trauben hier Elisabethtrauben; der Fürst Woronzow soll dieselben während seiner Statthalterschaft auf dem Kaukasus eingeführt haben. Überhaupt habe ich oft den Namen des Fürsten Woronzow mit viel Anerkennung als Administrator von Allen, die sich seiner noch erinnern, nennen hören.

Der Kaffee wurde im Garten getrunken. Wir saßen in einer Weinlaube; es war ein weiter Raum, der von einem hohen Gerüst aus Stangen überdacht und mit Weinlaub so dicht bedeckt war, dass kein Sonnenstrahl durchdrang. Große blaue Trauben hingen so dicht herab, dass man mit den ausgespannten Fingern immer zwei berühren konnte; lange schattige Gänge waren noch reichlicher mit Trauben behängt; an vielen Stellen berührten sich dieselben fast. Das Wasser in einem Brunnen des fast ebenen Gartens stand kaum einen Fuß unter der Oberfläche des Bodens; die Wurzeln des Weinstocks müssen also ganz im Grundwasser liegen.

Das Volk hier sind Mingrelier. Ihre Tracht ist von der auf dem übrigen Kaukasus gebräuchlichen wesentlich verschieden: Schuhe, wie gewöhnlich ohne untergenähte Sohle, wenn die Mittel es irgend gestatten, Kamaschen, die wie hohe Reiterstiefel fast das ganze Bein bedecken, sehr eng anschließende Hosen, die aber um die Hüften in endlosen bauschigen Falten enden, eine eng anschließende Jacke mit engen Ärmeln, die unten von einem breiten Gurt umschlossen wird, welcher oft rund um den ganzen Leib Patronen enthält, da auf der Brust keine Patronentaschen angebracht sind. Auf dem Kopf tragen sie niemals etwas Anderes als den Baschlik allein, welcher am Tage wie ein Turban zusammengewunden wird und dann recht kleidend ist. Nicht selten liegt der Baschlik auf der Schulter und der Kopf ist ganz bloß. Den jungen Burschen steht diese immer einfarbige, meist ganz schwarze Tracht vortrefflich; sie sehen so flink und gelenkig darin aus. Die Nase ist stark vorspringend und fein, nicht immer gekrümmt, die Augen und Haare sind schwarz oder dunkelbraun. Hätte ich doch meinen photographischen Apparat mit mir und etwas mehr Zeit! Diese Eigenschaften, die ich für das Mingreliergesicht eben hervorgehoben, finden sich am Ende bei allen Kaukasiern; und doch sind Unterschiede vorhanden, welche die neue Erfindung der zusammengesetzten Portraits, d. h. Projektion mehrerer Bilder verschiedener Personen auf dieselbe photographische Platte, gewiss gut wiedergeben würden. (Siehe hierüber Zeitschrift Nature Nr. 448, 1878).

Durch den Frieden und den bedeutend gehobenen Verkehr werden jetzt unter russischer Herrschaft auf dem Kaukasus die Scheidungen der einzelnen sehr zahlreichen Völker zum großen Teil aufgehoben; es wäre für anthropologische Forschungen daher von großem Wert, wenn solche Portraits von den verschiedenen Rassen angefertigt würden, bevor die Vermischung zu große Fortschritte macht.

Am Nachmittage begleitete mich der Sohn des Fürsten Gurieli, ein hübscher munterer Knabe von 15 Jahren, auf einem Spazierritt. Er ist eben zu den Ferien nach Hause gekommen und soll in einigen Tagen wieder nach Petersburg zurückkehren, wo er im Kadettencorps erzogen wird. Wie weit doch Eltern ihre Kinder von hier fortschicken müssen, um ihre Bildung zu ermöglichen!

Ich ritt auf dem Passgänger des Fürsten, einem bewährten hochdämpfigen Kabardiner. Wir schlugen den Weg nach Batum ein. Mein junger Cicerone hatte Papier und Bleistift mitgenommen, um sich mir verständlich machen zu können: “Diese Erdwälle “, schrieb er mir auf, “waren eine Batterie gegen die Türken; denn jene Berge dort, 5 Werst von hier, waren schon die türkische Grenze. Die Holzkreuze neben dem Wege bezeichnen die Orte, wo Verwundete auf dem Transport gestorben und beerdigt worden sind. Hier standen große Baracken; sie sind aber abgebrannt; es war ein ungeheuer großer Feuerschaden”.

Wir kamen an einen Berg, auf dessen ebenem Gipfel ein großes Feldlager eingerichtet war, in welchem die vorüberziehenden Truppen rasteten. Lange Dächer aus Strauch, Stroh, Farnkraut und dergleichen, baufälligen Ziegeleischeunen nicht unähnlich, beherbergten die Soldaten, einige Leinzelte die Offiziere. Die Aussicht von diesem Berge ist herrlich. Sehr malerisch machte sich ein Trupp Soldaten, welcher längs einer gegenüberliegenden mit dichtem Buschwerk bewachsenen Bergwand abmarschierte; die weißen Hemde der Leute stachen grell gegen das dunkele Grün ab und auf dem gewundenen Wege bewegt sich der lange Trupp wie eine riesige Schlange.

Rings um das Lager, in welchem Tausende von Menschen gerastet hatten, befand sich im hohen Farnkraut eine breite Zone, in welcher die Riechorgane auf das Empfindlichste affiziert wurden. Das bei allem, was jetzt über Gesundheitspflege im Felde geschrieben, gesprochen und wohl auch schon getan wird, für das Unschädlichmachen dieses Übels nichts geschieht, wundert mich geradezu. Und hierfür gerade wäre es am leichtesten durch tiefe verdeckte Gruben zu sorgen. Wissenschaftliche Beobachtungen und die Statistik haben zur Genüge nachgewiesen, dass die Krankheiten bei Weitem mehr Soldaten hinraffen als feindliche Kugeln, und faulende Stoffe in der Nähe der Lager die Brutstätten für diese Krankheiten sind.

Wie alle Abende, so zog auch heute ein Gewitter herauf, dem erst in der Nacht der Regen folgte.

Doch nun ist es für mich hohe Zeit schlafen zu gehen, denn schon um 3 Uhr Morgens reite ich aus, über Nikolajewsk nach Poti.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti