Brief X. Borshom, den 03.09.

Am 31.08. also waren wir gegen 12 Uhr Mittags in Tiflis angekommen. Das Hôtel de Londres ist vortrefflich; ich bestelle ein Bad und darauf ein Mittagsessen; beides war sehr gut, aber ließ auf sich warten. Die Wirtin entschuldigte sich, sie seien bestohlen worden und eben hätte man ihnen 25.000 Rubel zurückgebracht; das sei aber noch nicht Alles “et nous ne savons où donner de la tête”— morgen würden wir besser bedient werden. Wir wurden es auch. Man sagte in der Stadt, es seien ihnen im Ganzen 60.000 Rubel gestohlen worden. Der Wirt ist Koch beim Großfürsten-Statthalter gewesen. Als ich ihm mein Kompliment wegen des guten Essens machte, antwortete er mir: “Ah, mais c'est que je suis cuisinier, moi!” Seine pâte feuillelée und friture sind Kunstwerke ihrer Art und die Koteletten einer Antilope (Antilopa subgutturosa), auf der Speisekarte „chevreuil” genannt, empfehle ich der besonderen Aufmerksamkeit jedes Gastronomen.

Am Nachmittag machten wir uns daran unsere Empfehlungsschreiben abzugeben; es war aber noch die heiße Jahreszeit, während welcher die meisten Residenten Tiflis verlassen.


Wo ist der Direktor des Museums Dr. Radde?

In Sillameggi (in Estland) .

Der Oberlehrer Herr von Wahl? Auch verreist. Der Obrist Astafjeff? In Borshom. Der Adjutant des Großfürsten Obrist Baranow? Auch in Borshom. Dr. Dohrand, der neue Direktor des Tifliser meteorologischen Observatoriums? Der ist eben angekommen. Das Observatorium liegt in der deutschen Kolonie.

Dr. Dohrand war noch keine 14 Tage in Tiflis und konnte uns nicht viel über die Landesverhältnisse sagen, erzählte aber vieles Interessante von Chiwa, wo er anderthalb Jahre gewesen war. Einen älteren Residenten von Tiflis fanden wir in dem Dr. Sivers, Direktor der Tifliser Bibliothek und Stellvertreter des Dr. Radde am Museum von Tiflis.

Den Abend verbrachten wir im Club: sehr hübscher Garten mit Musik und Tanz; keine große élégance, aber Ordnung und Reinlichkeit überall, die heiterste Stimmung und eine sehr zahlreiche Gesellschaft.

Am 01.09. führte uns der Dr. Siversins Tifliser Museum: Hausgerät, einige Möbel, Trachten, Sättel, Waffen, Schmucksachen; Manches recht hübsch gearbeitet.

In andern Zimmern standen ausgestopfte Tiere, meist hübsch gruppiert: der Auerochse, Bos Urus, welcher in den Wäldern des nordwestlichen Kaukasus in vollkommener Wildheit vorkommt, hatte sehr kurzes wolliges und ausgeblichenes Haar, d. h. es war nicht dunkelbraun, sondern eher gelblich; sonst konnte ich keinen Unterschied zwischen diesem und dem litauischen Auerochsen bemerken. Die Abchasen nennen den Auerochsen Adombe.

In der Mitte des Saales stehen auf einem künstlichen Felsen und in sehr schönen Exemplaren: die Gemse aus Borshom und Abas Tuman, der Kaukasische Steinbock, — Aegoceros Pallasii — aus Swanetien beim Kasbek (der Alpensteinbock heißt Aegoceros Ibex), das sogenannte wilde Schaf, — Ovis Anatolica — vom Ararat. Letzteres hat aber durchaus keine Wolle; das Haar gleicht mehr dem Rehhaar, die gerippten und gewundenen Hörner gleichen wohl denen einiger Schafarten.

Der bärtige Steinbock, ebenfalls vom Ararat und dem kleinen Kaukasus, — Capra caucasica —; seine Hörner gleichen denen der Hausziege, sind aber von riesiger Größe. Man hat diesen Steinbock den Stammvater der Hausziege genannt.

Ich kann mich hierbei einer Bemerkung nicht enthalten.

Jetzt wo es an der Tagesordnung ist, nach der Abstammung der Tiere zu forschen, hört man nur zu oft behaupten, diese oder jene Art sei die Stammform einer gewissen anderen. Meist ist diese Behauptung nur durch eine gewisse Ähnlichkeit beider Arten begründet. Die Ähnlichkeit allein kann uns aber höchstens eine Verwandtschaft zweier Arten wahrscheinlich erscheinen lassen; genealogische Geschlechtsregister müssen anders begründet sein, um Geltung zu haben. Die neueren Ansichten der Abstammungstheorie sind sehr um ihren Kredit gekommen, weil man zu bestimmt von genealogischer Deszendenz redet und sie nur durch Ähnlichkeit begründet. Wollen wir als Beispiel diesen Fall näher untersuchen.

Von dem noch jetzt wild lebenden bärtigen Steinbock, und von der jetzt lebenden Hausziege bis zu ihrem gemeinschaftlichen genealogischen Stammvater liegen doch wohl annähernd gleich viel Generationen. Der jetzt lebende bärtige Steinbock ist also der Vetter der Hausziege, nicht ihr Vater. Er mag dem gemeinschaftlichen Großpapa in allen Stücken mehr gleichen, dadurch wird er aber doch nicht zum Vater der Hausziege. Wir haben auch durchaus nicht das Recht anzunehmen, dass zwischen dem jetzigen bärtigen Steinbock und dem gemeinsamen Stammvater gar kein Unterschied bestehe, zumal wir diesen wirklichen Stammvater gar nicht kennen.

Gern hätte ich mich mit dem Gestein der hiesigen Gebirgsarten näher bekannt gemacht, doch waren nur die zur Politur geeigneten Steine, Marmorarten, Obsidiane, und dergleichen in einem Glaskasten ausgestellt und gab der Katalog auch weiter nichts über andere Steinsammlungen an.

Erst nachträglich erfuhr ich, dass Dr. Sivers, welcher uns begleitete, eigentlich Mineraloge sei und mich gewiss gut hätte unterrichten können. Meine Taubheit wird mir noch manche interessante Auskunft so verloren gehen lassen.

Die Vögel waren in sehr hübschen Exemplaren vertreten und meist auch sehr gut ausgestopft, doch müssen auf dem Kaukasus noch weit mehr Vogelarten vorhanden sein.

Wir gingen darauf durch den Bazar. Wem Kaukasische Waffen und Geräte etwas ganz Neues sind, der wird hier manches Interessante finden können, meist muss man sich das wirklich Wertvolle aber erst bestellen.

Wir besuchten auch den botanischen Garten. Man konnte dort ein Glas sehr schlechten Kachetinerwein trinken; der eigentliche, botanisch-interessante Teil des Gartens war dem Publikum aber nicht zugänglich, weil der Direktor nicht in Tiflis anwesend war.

Zu Mittag hatte ich Gelegenheit, die hiesigen Krebse zu schmecken. Das Fleisch ist sehr weiß, fast durchscheinend, der Geschmack besonders rein, d. h. wie Forellenfleisch hat es eigentlich gar keinen Geschmack.

Am Nachmittage besuchten wir den Dr. Dohrand. Das meteorologische Observatorium ist recht vollständig montiert. Ich sah sehr schöne Haar-Hygrometer und einen selbstmarkierenden Barometer von einer höchst sinnreichen Konstruktion, die ich noch nicht kannte.

Wir gingen darauf noch in einen großen Garten, halb Park und halb Obstgarten, doch fand ich bis auf eine recht große Birnenart wider Erwarten nur mangelhaftes Obst.

Die große Trockenheit der Luft scheint der wesentlichste Grund dazu zu sein; alle Bäume müssen begossen werden; große Schöpfräder heben das Wasser aus der Kura, worauf es in kleinen Gräben im Garten verteilt wird.

Im Garten des meteorologischen Observatoriums sah ich Bäume, deren Blätter vollständig welk waren. Der alte Gärtner war in Verzweiflung; denn wenn der trockne Südwind, welcher eben wütet, acht Tage anhält, sollen die Bäume welche nicht bewässert werden, vertrocknen; erst heute hatte er Wasser für seinen Garten bekommen können.

Den Abend verbrachten wir beim Dr. Heinrich Struve, Direktor des Tifliser chemischen Laboratoriums. Er schenkte mir sein Werk über den Weinbau.

Eine sehr wesentliche Frage für den Kaukasus ist die Erhaltung des Weins. Erfahrungsgemäß verdirbt der berühmte Kachetiner meist schon im zweiten Jahr. Struve gab uns Wein zu schmecken, welchen er durch Erwärmen auf 60° Celsius haltbar gemacht hatte und der schon 8 Jahre bei ihm im Keller lag.

Die besseren Sorten des roten Kachetiner gleichen sehr dem roten Burgunder; ich würde gerne den Versuch gemacht sehen, den Wein durch französische Arbeiter ganz wie in der Bourgogne behandeln zu lassen. Struve meinte, dass in Bezug auf das Kellern und die Kellerarbeit solches gewiss von gutem Erfolg sein müsste. Was die zu pflanzenden Weinsorten und die Bearbeitung des Weinbergs betreffe, so seien die klimatischen Unterschiede aber zu groß, als dass man das französische System und den französischen Weinstock hier mit Erfolg einzuführen hoffen dürfe. Ich verweise in Bezug auf genauere Auskunft über den Weinbau im Kaukasus auf Struves Werk.

Nur eines eigentümlichen Systems muss ich erwähnen, welches die deutschen (schwäbischen) Kolonisten auf dem Kaukasus praktizieren. Sie pflanzen einen Weinstock am Fluss oder sonst derart, dass seine Wurzeln das Wasser erreichen und ziehen eine Ranke den Berg hinauf bis zu 200 Fuß weit an oder in der Erde. Von dieser werden in entsprechenden Abständen Ableger gemacht und Weinstöcke gebildet, aber ohne den alten Stock durchzuschneiden, so dass alle Weinstöcke einer aufsteigenden Reihe mit ihrer Wurzel zusammenhängen und durch dieselbe Wasser aus dem Fluss aufzusaugen vermögen. Die Beeren der dem Wasser zunächst liegenden Stöcke sollen die größten, die der entferntesten die kleinsten sein.

Am 02.09. fuhren wir mit dem 10 Uhr Zuge von Tiflis ab. Der Bahnhof ist jämmerlich, auch sind die Waggons recht schmucklos und schmutzig. Ich fragte, ob es Kaukasische oder Donische Steinkohle sei, mit der unsere Lokomotive geheizt werde. Es war englische, weil englische Kohle 28 Kop. das Pud in Poti koste, während Kaukasische in Kutais, wo die Bergwerke in der Nähe liegen, 40 Kop. zustehen komme und außerdem geringerer Qualität sei. Donische Steinkohle komme überhaupt gar nicht bis hierher. Dieses Factum ist für unsere Steinkohlenindustrie ebenso charakteristisch wie beklagenswert.

Wir fahren langsam, meist recht steil bergan.

Die Gegend ist bergig, ohne dass man das Hochgebirge sieht, und dürre wie die trockenste Wüste; nur in der Nähe des Flusses kommen Dörfer vor.

Bei der Station Kasanka sah ich zum ersten Mal die in hohe steile Felswände eingehauenen Zellen Wohnungen; sie sind hier allenthalben sehr häufig.

Einige Forscher halten sie für Klöster, andere glauben in ihnen Behausungen aus den ältesten vorhistorischen Zeiten zu erkennen, als der wilde Mensch sich gegen Raubtiere noch nicht anders zu schützen wusste, als durch eine für sie unerreichbare Wohnung.

Mir scheint, dass, wenn wir die menschlichen Nachbarn Raubtiere nennen dürfen, diese letzte Erklärung die richtige sein könnte.

Einsiedler benutzen diese Wohnungen wohl noch heute, auch als Klöster haben sie stellenweise gedient; doch kommen sie auch so vereinzelt vor, dass sie nicht allgemein diesen Ursprung haben können.

Wo Menschen hier im Kaukasus zwei Steine auf einander gelegt haben, da ist es niemals ohne den Gedanken geschehen, dass sie als Schutz gegen böse Nachbaren benutzt werden könnten; ebenso wird auch der Gedanke sich eine Wohnung derart in die Felswand zu hauen, dass man nur am Seil in dieselbe hinaufzukommen vermag, wohl den gleichen Ursprung gehabt haben.

Nachdem diese phantastische Idee zur Gewohnheit geworden, sind bei weiterer Durchführung schließlich ganze Kirchen und sogar Städte, mit Straßen zwischen den Häusern, in den Felsen ausgehauen worden. Wir fahren bei der Station Gory an den Ruinen eines solchen ausgehöhlten Berges vorüber. Eingestürzte Vorderfronten lassen große Hallen, kleine Wohnzimmer und schmale Straßen sehen.

In dem Städtchen Gory gibt die Ruine eines sehr ausgedehnten Schlosses mit zahlreichen viereckigen und runden Türmen, sehr hohen Ringmauern etc. davon Zeugnis, dass bis in die neueste Zeit Schutz vor Überfällen die wesentlichste Lebensbedingung ausmachte.

In jedem fruchtbaren Tale sieht man mehrere Schlossruinen auf einzeln stehenden Felsen. Das Gestein, so gut ich es aus dem Waggonfenster zu erkennen vermag, scheint loser Sandstein zu sein. Die Gegend ist ein Model für Diluvialformen; überall hat Wasser Kinnen und Schluchten eingegraben, die härteren Teile als Höhen zurücklassend. Nicht ein Baum oder Rasenhang hindert einen hier das nackte Gestein von allen Seiten zu sehen.

Die Kura, in deren Tal die Eisenbahn hinaufsteigt, ist, obgleich reich an Steinblöcken und Stromschnellen, doch verhältnismäßig so wasserreich und ruhig, dass man Holz aus der waldreicheren Gegend von Borshom in Flössen auf ihr transportieren kann. Wir begegnen mehreren dieser Flösse.

Im Waggon machten wir die Bekanntschaft des Staatsrats von Hagemeister, Chefs des Ingenieurwesens, eines höchst liebenswürdigen Herren, der mir den Plan für meine fernere Reise entwarf und uns auch für den Ritt aus Abas-Tuman nach Kutais Pferde entgegenzuschicken versprach.

Bei Michailowo verlassen wir die Bahn. Nach einer Fahrt von 28 Werst auf einer guten Chaussee, kommen wir gegen 6 Uhr Abends in Borshom an.

Die erste Frage, die man an uns richtet, wie wir aus dem Wagen steigen, ist, ob wir auf Verlangen des Großfürsten Statthalters herkämen. Das Zimmer, welches man mir anweist, ist so feucht und kalt, dass ich gleich Feuer im Kamin anmachen lasse. Wir wollen Reitpferde für den folgenden Tag haben, um die Umgegend zu besehen. Es gibt keine. So wollen wir einen Wagen mieten. Es gibt nur einen und der ist schon vermietet. Wir wollen essen. In einem sehr großen feuchtkalten Speisezimmer gibt man uns eine Speisekarte, wir wählen und bestellen schriftlich. Wir warten eine Stunde; dann kommt die Antwort, dass vom Bestellten nichts da sei, man verspricht, uns aber Omelette und Rindkoteletten. Es dauert noch 1/2 Stunde, dann erscheint der Kellner mit einer Flasche Wein. Er ist ganz untrinkbar. Ich nehme Brot und schneide mir ein sehr großes Stück von einem Käse, der auf dem Tisch steht. Da findet sich, dass dieser Käse das Privateigentum eines kaukasischen Fürsten ist; ich lasse mich ihm vorstellen und erhalte von ihm auch trinkbaren Wein.

Am Abend spielt Regimentsmusik, 60 Mann, im Kurgarten; es wird dort auch etwas getanzt.

Am folgenden Tage machen wir mehrere große Spaziergänge zu Fuß, da auch ein Fuhrmann, den wir endlich bekommen hatten, nicht weiter als bis zum Kursaal fahren darf. Das Wasser der Quelle erinnert an Karlsbad, ist aber nur lauwarm und schmeckt daher besonders widerlich. Ein Weg, der etwa eine Werst weit längs der Kura hinaufführt, ist sehr hübsch und schattig. Eine sehr pittoreske Brücke aus Stricken, welche von lebenden Baumstämmen aus eine leichte Bretterdiele tragen, führt über den Fluss. Zwei junge Damen, die eben hinübergehen, scheinen das Schwanken ebenso zu fürchten, als diese kleine Aufregung ihnen andrerseits Vergnügen bereitet.

Borshom ist die Sommerresidenz des Großfürsten Statthalters und sein Privatgut. Da Tiflis im Sommer vor Hitze und Staub unbewohnbar ist, ziehen auch viele der höheren Beamten zum Sommer aus Tiflis nach Borshom. Gegen Süden durch hohe Felswände geschützt, ist Borshom besonders kühl. Heute Morgen hatten wir nur 5° Reaum. mit kaltem Nebel. Die Mineralquelle macht es zu einem kleinen Badeort. Gegen 100 Villen, die teils den Personen, welche sie bewohnen, gehören, teils auf den Sommer vermietet werden, scheinen recht bequeme Wohnungen zu bieten. Ein Gasthaus gibt es aber nicht, die Reisenden steigen in dem sogenannten Kavalierhaus ab, weiches eigentlich für die unverheirateten Beamten und Personen aus dem Gefolge des Großfürsten bestimmt ist. Sehr hübsch ist das große Landhaus des Großfürsten in einem nach englischen Geschmack bepflanzten Garten. Der Rasen will wegen der Dürre nicht recht gedeihen; große wohlgepflanzte Baumschulen bilden aber einen angenehmen Kontrast gegen die Wildnis, welche man sich schon etwas gewöhnt hat allenthalben zu sehen.

Den 04.09. 5Uhr Morgens.

Nach einer Stunde Wartens auf der Post und gegen hohe Bezahlung haben wir endlich Pferde bekommen. Sie sind jetzt vor der Türe; wir fahren über Achalzich nach Abas Tuman. Von dort reiten wir am 05.09. nach Kutais, dann verlässt mich mein Reisegefährte M. um gerade nach Petersburg zurückzukehren. Ich bleibe noch etwa acht Tage länger hier, um zwischen Kutais und Poti einige Exkursionen zu machen. Da wir unser Gepäck nicht zu Pferde über die Berge transportieren wollen, schicke ich es mit meinem Diener Jakob nach Michailowo zurück und von dort per Bahn nach Kutais.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti