Brief VI. Aul Galantschosh, den 26.08.

Am 24.08. 7 Uhr Abends langten wir in Wladikawkas an.

Lebe wohl, Eisenbahn! trotz häufiger heißer Achsen hast du treu gedient; — ich werde ein andermal nachrechnen, wie viel Werst.


Sehr gute Fuhrmannsdroschken, reine Straßen mit gutem Mackadam, saubere Häuser machen in Wladikawkas auf den Ankommenden einen höchst vorteilhaften Eindruck. Eine breite Allee in der Mitte der Hauptstraße ist voller Spaziergänger, welche die frische Abendluft genießen.

Im Hotel angelangt schickte ich gleich meine Karte mit dem Empfehlungsbrief zum General S. mit der Frage, wann ich ihm meine Aufwartung machen dürfe.

Die Antwort, welche der Bote brachte, war unverständlich; jedenfalls redete er davon, dass, wenn ich es wünsche, der General gleich zu mir kommen werde, denn morgen verreise er.

Ich fuhr also gleich zu ihm und fand die Generalin allein; der General war bereits zu mir gefahren. Ich bestellte alle Grüße; inzwischen kam der General zurück. Er reist morgen auf zehn Tage in die Berge und schlägt mir vor ihn zu begleiten; es geht in Gegenden die von Reisenden noch niemals besucht worden sind.

“Ungemein gerne; — aber kann mein Reisegefährte der Bar. M. auch mit?”

“Ja, wenn er die Strapazen nicht fürchtet”.

Wir fahren zusammen ins Hotel, um es zu besprechen.

M. . . . ist ausgegangen. Nach langem Fragen erfahre ich, dass — Beer nach einer Badstube gefragt habe; am Ende der Stadt finde ich ihn endlich in der Wanne.

Kurz, die Liebenswürdigkeit des Generals wurde stark in Anspruch genommen, bis es abgemacht War, dass wir den andern Morgen um 18 Uhr zusammen aufbrechen würden.

Das Packen nahm etwas Zeit. Alles, was man ansieht, glaubt man brauchen zu können, und doch soll nur wenig mitgenommen werden.

Um 7 Uhr sind wir beim Generalen S. und um 8 Uhr fahren wir aus.

In einer mit vier Pferden bespannten Kalesche sitzen der General S., der Vizegouverneur T., mein Reisekamerad M. und ich: zwei Kosaken voran, einer hinten, ein Offizier zur Rechten des Wagens; — dann folgen noch einige Troiken mit Offizieren und dem Redakteur der Wladikawkaser Zeitung.

Wir fahren ohne Weg in der Steppe, durch die Kambileika; deren Strömung so heftig ist, dass die vier Pferde, denen das Wasser bis über die Brust reicht. Mühe haben den Wagen vorwärts zu bringen, dann noch durch mehrere kleine Bäche, den Bergen zu.

Die Kräuter wuchern hier in der Steppe mit besonderer Üppigkeit, oft 12 und 15 Fuß hoch: Nesseln, Disteln und verschiedene dornige Kräuter, Schilf, riesige Rosenbüsche etc.

An diesen Pflanzen ranken weißblühende Winden, Hopfen und Brombeerstauden, Alles eine zusammenhängende Masse bildend.

Wir kommen in ein Kosakendorf: — alte Kosaken in Tscherkeski und Papachi stehen in Fronte; — vor ihnen ein Tischchen mit Salz und Brot in der Gestalt von Wein, Schnaps, einem gebratenen Huhne und einem großen Weizenbrot.

Der General schmeckt vom Brot, trinkt auf das Wohl der Leute und spricht sehr freundlich mit ihnen; die Leute scheinen sich sehr geehrt zu fühlen.

Mir fällt die geringe Zahl der anwesenden Kosaken auf; — die andern sind alle im Kriege.

Der gleiche Empfang wiederholt sich bei einem zweiten Dorfe am Eingange ins Gebirge. Dieses Dorf ist vor 20 Jahren erobert worden. Von der ursprünglichen Bevölkerung scheint nicht viel übriggeblieben zu sein, man sieht jetzt nur Kosaken. Wir besteigen Alle kleine Kosakenpferde, unsere Eskorte ist gegen 100 Mann stark, immer Linienkosaken . Wir folgen einem Flüsschen; die Berge bedecken sich mehr und mehr mit Bäumen, wir sind bald in einem dichten Walde: Rotbuchen, Weißbuchen, Eichen, Ahorn verschiedener Arten, nur selten unser Acer platanoides, Eschen, Espen, Nussstrauch, Weiden, Berberitzen etc. etc. Das starke Holz ist meist herausgehauen, aber der Nachwuchs wuchert aufs üppigste. An der uns gegenüberliegenden steilen Talwand, wo man nicht so leicht ankommt, sieht man noch viele herrliche Baumstämme.

Die Blicke zurück in die Ebene und hinauf in die Berge sind sehr schön; — namentlich erquickt einen die frische Farbe des Laubes. Die Größe und Üppigkeit der Blätter gibt dem Ganzen einen etwas tropischen Anstrich. Eine Art Huflattich hat Blätter von mehr als 1 Meter Durchmesser; ein anderes Kraut mit Blättern wie Meerrettich wird stellenweise so groß, dass es an Bananen erinnert.

Nachdem wir während mehr als 2 Stunden immer steil bergan geritten sind, erreichen wir endlich die Passhöhe: ein Felsenkamm von kaum 20 Schritt Breite, 3.000 Fuß hoch, nach meinem Taschenbarometer. Der Blick nach jenseits, auf endlos zerklüftete Berge, dicht mit Wald bewachsen, ist ganz bezaubernd. Aus der Vogelperspektive gesehen, machen die aufquellenden Gipfel der Bäume einen ganz besonders üppigen Eindruck. Auch zurück hat man, von den grünen Talwänden wie ein Bild eingerahmt, eine hübsche Fernsicht in die Ebene.

Unter einem Laubdach, das mit Hopfengierlanden künstlich geschmückt ist, erwartet uns hier ein glänzendes Frühstück, welches der Regimentskommandeur der Kosaken dem General offeriert: Kaviar, Sardinen und dergleichen mehr, Forellen, Huhn, Schaffleisch, Äpfel, Weintrauben, dazu verschiedene Schnäpse, weißer und roter Kachetinerwein, Champagner. . . . Die Tafelmusik singen Kosaken. Einer tanzt dazu. Als Kastagnetten gebraucht er zwei Dolche, deren Klingen er vor und hinter sich an einander schlägt. Wozu der Dolch dem Kaukasier nicht alles zu dienen vermag!

Der Weg hinunter ist, wie derjenige hinauf es auch war, im Zickzack und zwar sehr steil. Diese Wege sind vor etwa 20 Jahren, als die Gegend erobert wurde, angelegt worden und so breit, dass 2 Reiter neben einander Platz haben. Für Kosakenpferde ist er recht gut passierbar, für andere Pferde aber doch recht gefährlich. Alle unsere Pferde sind, trotz der spitzen Steine, auf denen sie gehen müssen, unbeschlagen.

Der Wald scheint zur Zeit der Eroberung des Landes hier abgehauen worden zu sein, man sieht noch einzelne verkohlte Stubben von ganz erstaunlichen Dimensionen. Einige Stellen werden jetzt als Wiesen benutzt, das Meiste bedeckt sich aber bereits wieder mit Baumwuchs.

Wir kommen in ein schmales Tal, passieren einige kleine Dörfer, die alle mit Wällen und Gräben umgeben sind. Immer wieder Salz und Brot, aber in schlichterer Form; eine kleine Flasche gelblichen Branntweins, kein Wein mehr; anstatt Brot, Maiskuchen und frischer Honig; kein gebratenes Huhn mehr.

Hier sieht man das Blut der alten Bergbewohner schon reiner erhalten. Es sind Inguren, ein den Tschetschenzen verwandter Stamm. Kleine Leute, hager und mager; wovon sollten sie hier auch fett werden?

Ja, wenn Kurgäste ihre Molken trinken würden; aber dazu fehlt noch Vieles.

Ein alter Kerl hat eine Narbe senkrecht auf der Stirn, von der Nase bis ins Haar hinein; sie ist noch jetzt so tief, dass man den Finger hineinlegen kann; der Schädel muss vollkommen gespalten gewesen sein. Wie viel Chancen ihr Leben zu verlieren, haben diese alten Leute nicht alle durchgemacht und wie verschieden muss ihr Begriff über Recht und Eigentum von dem unsrigen sein, nachdem ihre Häuser jedesmal gebrannt, wenn der Feind durch das Tal zog und das wechselnde Kriegsglück bald die Bussen, bald ihre halbwilden Nachbarn aus den Bergen zu Herren des Landes machte.

Noch eine gute Stunde reiten wir im Tal und gelangen an seinem äußersten Ende zur kleinen Festung Alkun. Steinwälle, zwei Ausbaue an den entgegengesetzten Ecken zum Beschießen der Wallfronte, ein hölzerner Wachtturm. Seit 2 Jahren ist alles wieder in besten Stand gesetzt. Fünfzig Mann Infanterie bilden die Garnison. Der General inspiziert Alles, schmeckt von der sehr guten Bouillonsuppe der Leute; dann kommt unser Mittagsessen, im Genre des Frühstücks, endlos. Alles vortrefflich bereitet, von Leuten in langen Tscherkeski reinlich und gut serviert.

Wir steigen wieder zu Pferde, und reiten weiter, steil die Berge hinan. Die Festung könnte von oben mit Kanonen arg zerschossen werden, sie ist aber auch nicht bestimmt, gegen solche Angriffe sich zu halten. Bei Aufständen ist dieser längs dem Thal verhältnismäßig leicht zu erreichende Punkt aber gewiss eine wertvolle Stütze und guter Ausgangspunkt für weitere Expeditionen. Unser Weg wird steiler und enger, oft kann nur ein Pferd zur Zeit passieren. Es fängt an zu regnen, bald strömt es ganz gehörig; der Steg wird so schlüpfrig, dass die Pferde in allen Richtungen ausgleiten. Das wuchernde Kraut verdeckt einem oft den Rand des Abgrunds; mein Pferd tritt zweimal mit dem Hinterfuß hinüber, die drei anderen Beine genügen ihm aber vollkommen, um das Gleichgewicht zu erhalten.

Wir passieren kleine Bäche mit großen Steinblöcken im Grunde, über welche die Pferde stolpern. Das Schlimmste sind aber die Quellen; der lehmige Boden weicht unergründlich tief auf und nachdem unsere zahlreiche Avantgarde durchgeritten ist, sinken unsere Pferde bis an die Brust ein. Noch über ein Flüsschen setzen wir auf einer Brücke aus Stangen und Strauchwerk, wohl nur für uns gemacht, sie schwankt aber gewaltig, wie ein Schaukelbrett, dann kommt wieder ein Dörfchen (Aul). Die Einwohner stehen zum Empfang in Fronte, bringen aber kein Salz und Brot mehr. Es regnet in Strömen, wir gehen in eine der ganz merkwürdig reinlichen Hütten. Diele und Wände sind frisch getüncht, das flache Dach ist mit Lehm verschmiert, kein Fenster, ein kleiner Kamin, Filzstücke als Teppiche und Kissen darauf. Eine kleine Holzbank ist das einzige Möbel, welches sich über den Boden erhebt.

Jetzt soll der Weg sehr schlecht werden; ein aller und ein junger Ingusch reiten unmittelbar vor dem General. Sie und ihre Pferde sind für mich eine wahre Augenweide; diese Leute sitzen noch ganz anders im Sattel, wie die Kosaken.

Der Alte hat feine intelligente Züge mit einem tiefliegenden, aber strahlenden Auge und einer sehr feinen kleinen Adlernase. Er kehrt sich beständig zurück, um zu sehen, ob der General auch richtig reite. Wie er ihm die Stellen aussucht, wo er beim Zickzackreiten kehren muss; und wie gleichgültig es ihm dabei ist, wohin sein eigenes Pferd hintritt! Er soll eine sehr einflussreiche und angesehene Persönlichkeit sein, stand aber eben in Verdacht, einen Mord verübt zu haben. Sein Sohn war auf der Viehweide erschlagen und jetzt war der mutmaßliche Mörder desselben erdolcht worden. Der Verdacht lag auf ihm, ohne dass jedoch solches seinem Ansehen den geringsten Abbruch getan hätte. Der junge Kerl, welcher neben ihm reitet, hat noch keine Runzel im Gesicht; wenn er sich umsieht, sticht der große weiße Augapfel grell gegen seine glänzende braune Haut ab, wie bei einem Neger. Das ungezähmt Wilde, verbunden mit viel natürlichem Adel, finden in ihm ihren vollsten Ausdruck.

Ihre Pferdchen sind klein, aber kräftig und von den Kabardiner Kosakenpferden durchaus verschieden. Ihre Muskeln sind sehr trocken, jede einzeln hoch gewölbt. Wir reiten auf Stegen, die vom Vieh an den Berghängen eingetrampelt worden; stellenweise sind die Spuren eines vor 20 Jahren angelegten Reitweges noch erkennbar. Man hat für uns die Nusssträucher, welche so dicht wuchern, dass man kaum zu Fuß hätte durchkommen können, ausgehauen. Da das Vieh und unsere Pferde, Immer in dieselben Fußstapfen traten, so haben sich auf dem Stege tiefe Löcher gebildet; Alles ist voller Wasser; setzt das Pferd den Fuß richtig in die Mitte, so schadet es noch wenig, wenn es bis zur Brust versinkt; tritt es aber oben nebenbei auf und glitscht dann plötzlich hinein, so kommen Bewegungen zu Stande, welche besonders unangenehm sind, wenn man unter dem Steigbügel einen steilen Abhang sieht, auf dem weder Pferd noch Reiter, wenn sie einmal rollen, stehen bleiben können.

Ich scheine für mein Pferd zu schwer zu sein, die Flinte auf meinen Rücken wiegt auch noch 9 Pfund; mit der Nase. an der Erde bleibt es stehen, um etwas zu Atem zu kommen; an einer sehr steilen und schlüpfrigen Wand, die man gerade hinauf musste, fiel es auf die Kniee. Vielen Kosaken geht es nicht besser; einige müssen sogar stehen bleiben und die Sattelgurten losschnallen, um ihre Pferde etwas Atem schöpfen zu lassen. Dabei regnet es unaufhörlich, Wolken verhüllen und decken dann wieder teilweise unzählige Schluchten und scharfe Grate auf. Solche Gegenden habe ich noch niemals gesehen; wir sind so hoch, dass der Baumwuchs aufhört. Wieder ein kleiner Aul, Meridji. Die jetzigen Wohnungen sind Häuschen von etwa 1 1/2 Faden Breite, 3 Faden Länge und 8 Fuß Höhe, mit flachen Dächern, was sie noch winziger erscheinen lässt. Früher gab es hier auch große befestigte Wohnungen; jede war eine Art Turm, 4 bis 5 Faden im Quadrat, nach oben sich stark verjüngend, 1 Stockwerk hoch, in dem unten das Vieh stand und oben die Leute wohnten.

Sie bildeten förmlich kleine Festungen, welche hier, wo man mit Kanonen nicht leicht hinkommt, den russischen Truppen gewiss sehr unbequem gewesen sein müssen. Etwa eine Werst von da auf einem kleinen Platz, wo 3 Leinewandzelte aufgeschlagen stehen, und über 100 Mann Konvoi uns erwarten, machen wir Halt. Mein Barometer zeigt 5.000 Fuß Höhe. Der ganze Platz war bereits in tiefen Kot verwandelt, der nur mit Wasserpfützen abwechselte. Der General lud mich ein, in seinem Zelt mit ihm zu schlafen; ich trete hinein, versinke aber bis über die Knöchel im Lehm. Man hatte nach herkömmlichem Brauch das Gras mit einer Schaufel abgestochen. Ein Teppich in der Mitte des Zeltes war auch schon in den Grund getreten. Niemals habe ich mich mit so wenig Aussicht auf Gemütlichkeit zur Nachtruhe vorbereitet. Die Füße nass, die Knie nass, im Nacken war auch schon etwas, die Mütze wie ein Schwamm. Nun kommt das Gepäck an, was nicht in Gummi eingeschlagen war, — alles nass. Die große Gummidecke, die ich in Petersburg gekauft hatte, war ein wahrer Segen; indem ich sie auf die Erde breitete, schaffte ich wenigstens einen trockenen Platz, wo ich unsere 2 Säcke hinstellen konnte, als sie vom Sattel abgebunden wurden; meine Flinte musste ich schon im Zelt auf die nasse Erde legen. Aber es kam schließlich doch besser heraus, als die erste Aussicht voraussetzen Hess. Das Zelt war doppelt und Hess keinen Regen durch, ein kleiner Graben hinderte, dass Wasser von der Seite hineindrang, und in meinen großen Mantel aus Sanguszkoschem Kapuzinertuch gewickelt, schlief ich sehr süß, ohne aufzuwachen, die ganze Nacht.

Auch der General schien gut geschlafen zu haben; die andern Herren, welche in einem einfachen Leinzelt übernachtet hatten, waren aber alle etwas kleinlaut, so lange der Schlaf noch in den Augen und der Frost noch in den Gliedern war.

Um 6 Uhr waren nur 5 ½°R. Die Offiziere, welche uns mit dem neuen Konvoi entgegengekommen waren, sprachen davon, dass der Weg noch sehr viel schlechter sei, als bisher, sogar sehr gefährlich; an steilen Abgründen entlang seien nur sehr schmale Stege, ein Kosak sei hinabgestürzt, der Mensch habe sich retten können, das Pferd sei aber hinuntergerollt und umgekommen.

Man riet uns umzukehren.

Der General war anfangs unschlüssig, er sagte mir, er fühle dass auf seine Entscheidung die Verantwortung für das Leben jedes der Reisegefährten laste. Es wurde großer Rat gehalten. Ich sagte, dass ich den Weg nicht kenne und daher gar nicht beurteilen könne, ob der Kitt möglich sei; grundsätzlich sei ich immer geneigter für “vorwärts”.

Mittlerweile war die Sonne aufgegangen und ihre Wärme, so wie einige Gläser Tee brachten allgemein bessere Stimmung und besseren Mut. Die Beleuchtung der in der Nachtweiß beschneiten Abhänge um uns her, war herrlich, obgleich ohne Farbenspiel. Die ersten 12 Werst sollten guter Weg sein, dann aber 5 Werst schlechter Weg folgen. Man beschloss noch etwas zu warten, damit Wind und Sonnenschein den Weg abtrocknen könnten, dann die ersten 12 Werst jedenfalls zurückzulegen und, wenn erforderlich, dort zu übernachten.

“Dass wir so viel Konvoi mit uns führen, — 200 Mann, — scheint mir, trotz der im vorigen Jahr stattgehabten Unruhen, doch unnütz”, sagte mir gelegentlich M. . .

“Ich habe auch so gedacht, aber dass der General allein herkommen solle, um hier oben im Regen die Nacht zu schlafen, wäre noch weit nutzloser; der ganze Zweck seiner Reise scheint nur der zu sein, zu konstatieren, dass der Kaiser von Russland hier Herrscher sei; sonst kommen diese Eingeborenen wohl kaum dazu, darüber nachzudenken, und um die Macht Russlands ad oculos zw demonstrieren, muss sehr viel Konvoi mitreiten.

Da kommt ein kleiner Junge ins Lager gelaufen, er mag 6 Jahre alt sein. Solch ein Kind habe ich noch nicht gesehen, der hat Leben in sich! — nicht einen Moment steht er still, immer ist sein aufmerksames Auge auf etwas Neues gerichtet”.

“Sieht Dir der Jung nicht aus, fragte ich M. . ., als könne viel Regen und Kälte an ihn heran, ohne ihm etwas anzuhaben, man möchte fast fragen: was kann solch einen Jungen totmachen”?

Um 10 Uhr erst brechen wir auf; die Abwechslung der Schluchten und Berge war sehr mannigfach; auch nackte Felsen waren häufig, Baumwuchs selten und nur in Tälern. Ruinen alter viereckiger Türme waren sehr zahlreich, entweder in Engpässen oder auf vorspringenden Bergrücken am äußersten Ende des Grats angelegt, um nur von einer Seite erreichbar zu sein. Um sie her, wo früher Dörfer gestanden haben, ist die Vegetation besonders üppig. Scabiosa Arten und andere Kräuter, die ich nicht zu nennen weiß, sind oft so hoch, dass sie den Kopf des Reiters überragen, und so dicht, dass es schwer halten würde, durchzureiten. Wir wunderten uns, dass man nirgends gemähtes Gras sah; man sagte uns aber, dass die Heuzeit hier erst mit dem September beginne und Kavallerieoffiziere bestätigten die Behauptung, dass das Heu deshalb durchaus nicht hart werde.

Unser Weg führte meist in halber Höhe steiler Basenabhänge und war, wo er nicht durch Quellen sumpfig wurde, recht gut; mitunter gab es auch steile Schluchten hinunter und hinauf zu klettern. Eine Stelle war aber doch so sumpfig, das& das Pferd des Generalen stecken blieb; es machte einen Sprung zur Seite und während das linke Hinterbein noch fast bis zum Schwanz im Wege versank, hing das rechte frei über dem Abhang; es fand aber nach einigem Suchen doch einen Stützpunkt für diesen Fuß an dem steilen Hang und kam wieder zurecht.

Wir gelangten jetzt in ein 6.200 Fuß hoch gelegenes Tal, wo die alten Steintürme sehr zahlreich waren und namentlich die Zugänge zum Tal sorgfältig schlossen. Dieses Tal ist wohl kaum aus freier Wahl von den ersten Bewohnern desselben zur Wohnstätte auserwählt worden, sondern Krieg und Verfolgung werden sie immer höher und höher hinauf bis in diesen unerreichbaren und unwirtlichen Winkel gedrängt haben. Der Aul heißt Jalkaroy. Die Männer stehen in Fronte vor dem Dorfe. Ein alter Kerl mit rotgefärbtem Bart, auf einem vortrefflichen weißen Pferdchen, ist der Älteste des Dorfes. Mit Hilfe eines anderen Übersetzers, denn dieses sind Tschetschenzen, hält der General wieder eine Rede: es sei eine besondere Gnade des Kaisers, dass er, der Natschalnik, in den Aul komme, er komme nur um zu strafen oder zu belohnen. . . Darauf bekommt der Älteste eine große Medaille am Georgenbande um den Hals mit dem Portrait des Kaisers; auf der Rückseite steht. Er soll viel dazu beigetragen haben, dass dieser Aul ruhig geblieben, obgleich viele Emissäre dort versucht hätten, die Leute zu einem Aufstande zu veranlassen. In einiger Entfernung hinter dem Dorf steht, ebenfalls zu unserem Empfang, ein Trupp Frauen; sie scheuen sich offenbar, zu uns heranzukommen; wir gehen zu ihnen, die Meisten ziehen das Kopftuch über Mund und Nase. Eine alte Frau mit markierten Zügen tritt vor und spricht zum Generalen; es war die Frau des Ältesten. Der General antwortet durch den Übersetzer; darauf bekommt sie einige Goldstücke; auch mehrere andere Weiber werden beschenkt. Diese Maßregel ist gewiss wirksamer, um Frieden zu erhalten, als wenn ein halbes Dutzend übeldenkender oder aufständischer Kerle mitten im Dorf gehenkt worden wären.

“Zahlen diese Leute auch Abgaben?” fragte ich den Übersetzer. “

“Ja, hier in den Bergen einen Rubel jährlich für jeden Rauchfang, in den fruchtbaren Tälern 3 Rubel . “

“Aber wie hält man es mit der Rekrutierung?”

“Bis jetzt sind sie zum Militärdienst noch gar nicht verpflichtet worden, als Freiwillige aber dienen die jungen Leute wohl mitunter.”

Als seltene Ausnahme unter den Völkern des Kaukasus soll es bei den Tschetschenzen niemals einen Adel gegeben haben, d. h. keine sogenannten Fürsten. Die Familie scheint, so viel ich erfahren konnte, den wesentlichsten Verband der sozialen Organisation zu bilden; aber nicht nur der Vater und seine Kinder, sondern das ganze Dorf, der Aul, bildet die Familie. Es gibt im Ganzen gegen 80 solcher Familien.

Jetzt soll der schlechte Weg kommen. Nach kurzer Beratung mit den Dorfeinwohnern wird beschlossen, gleich weiter zu reiten. Wir folgen dem Lauf eines Flusses stromabwärts und gelangen am Ende des Tals an einen fast jähen Abgrund; der Fluss verschwindet zwischen Felsen zu unserer Linken; vor uns ist eine enge durch senkrechte Felsen eingeschlossene Schlucht, da sollen wir hinunter.

Der Steg, obgleich im Zickzack, ist unendlich steil; nur sehr langsam und widerstrebend gehen die Pferde vorwärts. Ich steige ab und gewinne dadurch Zeit, einige der auf beiden Talseiten sehr zahlreichen Hohlen zu besehen. Der Fluss hat offenbar ihrer viele gegraben, doch scheinen andere von Menschenhand im weichen Kalkfelsen ausgehauen, oder doch wohnlich gemacht worden zu sein; die meisten haben einen Eingang nur eben groß genug, dass ein Mensch kriechend hinein kann, erweitern sich aber darauf zu 10 bis 15 Fuß im Quadrat bei 7 bis 9 Fuß Höhe. Eine derselben hatte sogar eine seitlich durchgebrochene Fensteröffnung. Offenbar haben die Bewohner des Tals hier gelebt, wozu sie bis in die jüngste Zeit oft Veranlassung gehabt haben mögen, wenn ihre Häuser zerstört worden waren. Der Engpass in dem wir uns befinden, war wohl auch von der Ebene her, das Flüsschen hinauf, der Haupteingang zu ihrem Tal, welcher immer bewacht und verteidigt werden musste.

Wir steigen jetzt ohne Absatz gegen 1.000 Fuß steil hinab. Da, als wir um einen Felsenvorsprung biegen, sehen wir den Bach, dem wir anfangs gefolgt waren, sich in einem prachtvollen Wasserfall, an uns vorüber, in die Schlucht ergießen. Sehr schmal ist oft unser Steg, die Felswand auf der einen, der Abgrund mit dem schäumenden Bach auf der andern Seite. Weil der Boden aber nicht lehmig und schlüpfrig, sondern grandig ist, ist die Gefahr gar nicht so groß wie wir sie uns vorgestellt.

An einer Stelle, wo ein Felsenvorsprung das Tal ganz bis an den Fluss verschließt, steht wieder die Ruine eines viereckigen Turms. Das muss ein Schlüsselpunkt für das ganze Tal gewesen sein. Noch einige 100 Schritt reiten wir an der Felswand und das Tal hört ganz auf, nur der Fluss fließt noch in einer Spalte. Wir reiten in den Fluss selbst hinein, die Pferde bis zum halben Körper im schäumenden Wasser, langsam mit dem Fuß nach einem festen Punkt auf den Felsblöcken im Grunde sondierend. Da ist aber ein Wasserfall von etwa 4 Fuß Höhe, wie werden wir da hinunterkommen? Unser Führer kennt eine Stelle, wo der Abhang in halber Höhe eine Stufe hat, auf der die Pferde gerade eben mit allen 4 Hufen neben einander Platz finden können und dann vollends hinunterspringen. Den Himmel sieht man nur unmittelbar über sich; die Wand zu unserer Linken, gegen 2.000 Fuß hoch, mit mächtigen vorspringenden Schichten, welche über uns hängen, macht einen seltenen Eindruck von erdrückender Massenhaftigkeit, der uns selbst wie winzige Ameisen erscheinen lässt, denen so mancher kleine Riss der Erdrinde schon unübersteigbar wird. Beschreiben lässt sich so etwas nicht, man muss es sehen, um diesen Eindruck zu empfinden. Die Bergwand zu unserer Rechten ist mit üppiggrünen Büschen, Moos und allerhand Kräutern bedeckt. Der Kontrast gegen die nackten Felsen des linken Ufers macht aus dem Ganzen ein selten schönes Bild.

Beim Ausgang aus der Schlucht in ein sich etwas erweiterndes Tal, d. h. wo wieder betretbare Ufer neben dem Fluss waren, stand, wie ein Schwalbennest hoch am senkrechten Felsen angeklebt, wieder die Ruine eines viereckigen Turmes.

“Arme Leute! denkt man unwillkürlich; wie gejagtes Wild haben sie zu ihren Wohnstätten die unerreichbarsten Winkel aufgesucht, alle Lebensbedürfnisse hintansetzend, um kaum mehr als das nackte Leben zu erhalten; und doch hat man sie auch hier aufgesucht und ihre kleinen Festen sind jetzt alle Ruinen”.

Sie waren aber nicht anders zu zähmen. Seit Jahrhunderten von Raub, in vollkommener Unabhängigkeit lebend, musste, um dem ein Ende zu machen, alle Möglichkeit eines Widerstandes vernichtet werden. Die Zivilisation fordert unvermeidlich ihre Opfer; was sich ihr nicht anzupassen vermag, muss untergehen. Was nachgeblieben ist, — denn das Land ist offenbar früher viel stärker bevölkert gewesen, — das prosperiert jetzt schon vortrefflich und wird sich jedenfalls im Frieden, unter zivilisierter Herrschaft, besser befinden, als bisher im ewigen Kriege gegen Jedermann und von Jedermann bekriegt. Nur der angeborene Sinn für Freiheit und Unabhängigkeit, gepaart mit religiösem Fanatismus, lässt noch hier und da den alten Nationalhass auflodern. Dass aber nicht der ganze Kaukasus beim letzten Kriege in allgemeiner Revolution aufgestanden, ist der beste Beweis dafür, dass das Volk sich unter russischem Zepter wohler fühlt, als unter den früheren einheimischen Herrschern. Namentlich soll Schamil bei dem verzweifelten Widerstände, den er mit abwechselndem Glück der russischen Eroberung entgegensetzte, nur seine eigene Macht als Hauptziel im Auge, Eigentum und Leben der Leute auf das Schonungsloseste genutzt und seine Autorität nur durch die schrecklichste Grausamkeit aufrecht erhalten haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti