Brief IV. Pjatigorsk beim Pastor Frackmann den 22.08.

Um 1 Uhr langten wir gestern auf der Station Mineralnija-Wody an.

Eine Kalesche brachte mich die 21 Werst bis hierher. Die mit gehackten Steinen bestreute Chaussee wurde möglichst vermieden und nebenbei auf dem harten Tschernosem gefahren, welcher eben von der Festigkeit eines gut ausgetrockneten Käse ist. Die Nagelköpfe der Hufeisen lassen auf ihm allenfalls noch einen Abdruck zurück. Gleise bilden sich aber nicht. An den Stellen, wo die Räder rollen, ist er metallisch glänzend; nicht das geringste Stäubchen löst sich von ihm ab.


Das Wetter und die Luft sind herrlich.

Die 5 Berge, von denen Pjatigorsk seinen Namen hat, hohe Kalkfelsen, sind um so malerischer, als sie ganz vereinzelt aus fast ebener Steppe aufsteigen. Auf ihnen wachsen die ersten Bäume, welche ich hier zu sehen bekomme, Eichengebüsch, wilde Apfelbäume, Pflaumen, Eschen, Ahorn etc. Bei der jetzigen strengen Bewachung kann daraus ein Wald werden. Man sieht hier deutlich die Wirkung der Feuchtigkeit spendenden Nebelwolken, welche an den Bergen hängen und im Gegensalz zur dürren Steppe den Wechsel der Vegetation bewirken. Mein Kutscher zeigt mir Shelesnowodsk hoch an einem Abhang, mitten zwischen dem grünen Gebüsch.

Wir fahren durch ein Dorf deutscher Kolonisten. Mehrere mit grüngestrichenem Eisenblech gedeckte Dächer geben mir wieder den Beweis von Wohlstand. Gepflanzte Akazienbäume beschatten die Treppen und große Gemüsegärten sind mit Dornenhecken umzäunt; — aber der Weg oder die Straße im Dorf ist, wie sie Gott geschaffen und die Ochsen wagen sie durchgraben haben. Zum Glück wird, wenn Alles zu ganz flüssigem Kot geworden, der Brei von selbst wieder eben und da, wo er austrocknet, ohne befahren zu werden, kommt keine Chaussee diesem Nivellement gleich. In einigen Straßen fließt in der Mitte in einem Graben klares Wasser aus den Bergen; dort wird aller Kehricht hineingeworfen und von der starken Strömung weggespült.

Wir müssen durch einige solcher Wassergräben fahren. Die Pferde versinken bis übers Knie, die Kalesche kippt; — aber daran ist hier ein jeder gewohnt. In Pjatigorsk, am Ende einer mit Akazien bepflanzten Straße, befindet sich die Wohnung des Pastor Frackmann. Weder er, noch die Pastorin sind zu Hause, sie sollen aber in einigen Stunden kommen. Ich gehe inzwischen in die Nicolajewsche Badeanstalt und nehme ein Mineralbad von 27°. Das Wasser der Quelle hat 32° R. Es enthält, wie man mir sagt, vor Allem Schwefel. Den Schwefelwasserstoff, den riecht man, dass ich davonlaufen wollte, aber das Wasser ist selten durchsichtig und klar, etwas grünlich smaragdartig schimmernd; es schmeckt salzig. Nach einem ganz guten Mittag in einem Hôtel fand ich den Pastor und die Pastorin zu Hause. Die Pastorin, geborene Seilheim aus Sangnitz, freut sich mich wiederzusehen, der Pastor macht einen großen Spaziergang mit mir den Berg hinauf zum großen Erdsturz, ein Bodeneinsturz im Berge; man hat seitlich einen Tunnel in den Kalkfelsen gehauen, so dass er jetzt eine hübsche helle Grotte bildet, in deren Fond eine Mineralquelle mit schaumigem, schmutzig grünem Wasser liegt. Ein Kaffeehaus daneben beweist, dass es „un but de promenade” der andere Zerstreuungen entbehrenden Badegäste ist.

Wir sehen ein großes Dorf unter uns in der Steppe. Eine Kasazkaja Staniza: die Kirche in der Mitte auf einem großen freien Platze; dann wersteweit Häusergruppen und kleine Höfe mit Korn und Heukuien; — Alles von einem Wall und Graben umgeben.

Das Land, welches zu solchen Dörfern gehört, ist in 12 Stücke geteilt, die man bei uns etwa Feldlotten nennen könnte. Zehn Jahre liegt es brach und trägt die Kräuter, welche der Wind säet. Dort weidet das Vieh und wird Heu gemäht.

Dann wird das Land nach der Regel der Nadjel-Wirtschaft unter alle Bewohner des Dorfes geteilt. Jeder bekommt einen langen schmalen Streifen; 2 Jahre wird Korn gebaut, dann lässt man es wieder liegen. Da bei diesem System sehr große Strecken Landes erforderlich sind, müssen die Leute oft 40 Werst fahren, um auf ihre Felder zu kommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti