Brief III. Waggon in der Steppe vor Pjatigorsk den 21. 08

In Nowotscherkask machten wir einen kleinen Spaziergang. Eine Akazienallee führt das steile rechte Ufer hinauf, gegen 175 Fuß hoch. Das linke Donufer bis an den Horizont ist schon vollkommene Deltabildung, — estnisch würde man es “Lucht” nennen, — eben und kaum über die zahlreichen Flussarme und flachen Wasserlachen erhaben, üppig grün mit Gräsern und Kräutern bedeckt.

Man sieht zahlreiche Herden weiden; einige Stellen sind gemäht und stehen in Knien; noch mehr Terrain kann nur Schnepfen und Enten Lebensunterhalt bieten.


Die Bahn führt unten am rechten Ufer dieser Niederung weiter. Wir sehen die ersten Weingärten, deren kleine, noch unreife Trauben verkauft werden.

Der Don, in mehrere Arme geteilt, vereinigt sich mit dem Aksay.

Wir kommen nach Rostow am Don.

Gutes europäisches Büffet.

Nach zwei Stunden fahren wir in sehr eleganten Salonwaggons, welche Waschbecken und, als seltene Ausnahme, auch Wasser im Reservoir haben, weiter.

Der Genuss sich mehrmals am Tage waschen zu können ist groß, wenn es heiß ist und man oft Arbusen isst, ohne eine Gabel dabei benutzen zu können. Von Rostow führt die Bahn auf zahllosen und endlosen Dämmen und Brücken über Wasserlachen, Flussbetten und Sümpfe. Dann kommt Steppe, meist ganz eben, so weit man im Dunkeln sehen kann. Sehr schmutzige kleine Stationen. Es wird Nacht.

Wir erwachen erst bei Tagesanbruch. Herrliche, warme Luft!

Es ist der Süden.

Die Steppe ist eben wie das Meer, zum Teil gemäht, selten geackert. Das Terrain hebt sich etwas; wir fahren in ein weites flaches Thal, in dem sich der Kuban auf breitem Kiesbett schlängelt; nach langer Zeit wieder einmal Steine.

Der Boden ist bald mit einer schwachen Schichte Tschernosem, der aber auch stark mit anderem Erdreich versetzt scheint, bedeckt, bald sandiger Lehm; die Vegetation aber ist ohne Unterschied sehr üppig.

Sehr große Dörfer liegen am Fluss; endlose Herden weiden allenthalben, auch 2 kleine Pferdetabune.

Heukuien sind sehr zahlreich.

Das Volk trägt die Kaukasische Tracht: lange Tscherkeski Papachi, den Dolch am Gürtel, oft auch Pistolen und die Schaschka.

Bei der Station Newinomisskaja stehen 2 Planwagen, wie sie mir unter dem Namen Krimmscher Kolonistenwagen wohl bekannt sind; daneben kauert eine kleine dicke Frau mit breitem Gesicht und verkauft frische Butter.

Was kostet die Butter? frage ich auf Deutsch: “Dreissig Kopiken”. Echt schwäbischer Dialekt, so weit ich es an den Lippen zu beurteilen vermag. Von der Wolga her sind zahlreiche deutsche Kolonisten auch nach dem Kaukasus gezogen.

Das Tal, in dem wir fahren, wird enger und ist noch bebauter und belebter als bisher.

Kurgani, die wir schon öfter gesehen, werden sehr häufig; einige sind recht groß und hoch, andere vom Vieh so weit abgetrampelt, dass sie eine nur eben erkennbare Bodenanschwellung bilden. Sehr viele Herden weiden im trockenen, von der Sonne ausgeblichenen Grase, das wohl noch aufrecht auf seiner Wurzel steht, aber ebenso trocken ist als wäre es auf dem Heuboden.

Die Landschaft hat durchweg eine falbe, einförmig gelblichbraune Farbe; nicht selten sind abgebrannte Stellen, wo die Funken der Lokomotive das trockene Kraut angesteckt haben; auch die Sleeper, auf denen die Schienen liegen, verbrennen mitunter, wie ausgewechselte verkohlte Stücke bewiesen.

Wir sehen Leute, die zur Feldarbeit ziehen: sie fahren große Wassertonnen, auf Ochsenwagen geladen, mit sich.

Das Dreschen geschieht, indem eine gezahnte Walze auf dem Getreide umhergefahren wird, wie bei uns in den Tennen; nur hier unter freiem Himmel.

Es ist herrlich warm. Im Waggon 19° Reaumur. Arbusen mit Weißbrot erweisen sich als höchst erquickend.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti