Brief II. Waggon im Kohlendistrikt der Donischen Kosaken den 20.08.

Gestern Abend passierten wir noch einen Wald gegen 50 Werst lang, auf dem flachen linken Ufer der Woronesch. Es liegt hier gar kein Tschernosem oder er ist sehr stark mit Sand und anderem Erdreich vermischt. Nachdem wir auf einer langen Brücke über das bei Hochwasser überschwemmte flache linke Ufer und schließlich auch über den FIuß gefahren waren, langten wir in der Stadt Woronesch an. Auf dem bewachsenen hohen rechten Ufer gelegen, von Gärten, Baumschulen und Parks umgeben, macht der Ort einen besonders angenehmen Eindruck nach der nie enden wollenden Ebene.

Wenn man irgend längere Reisen im südlichen Russland zu machen Gelegenheit hat, fällt es einem auf, dass fast alle Flüsse ein hohes rechtes Ufer, (Bergufer) und ein flaches linkes Ufer, (Wiesenufer) haben.


Bei einiger Aufmerksamkeit wird man erkennen, dass es daher kommt, weil das Wasser der Flüsse nach rechts drängt; die stärkere Strömung und die größere Tiefe des Flussbetts befinden sich am rechten Ufer, welches vom Wasser abgespült wird und daher steil ist, während das abgespülte Erdreich teilweise wieder auf dem linken Ufer in flachen Sandbänken abgelagert wird. Deshalb ist dieses Ufer so niedrig, dass es vom Hochwasser weithin überflutet wird, was den üppigeren Graswuchs und den Namen “Wiesenufer “ zur Folge hat. Die meisten Städte und Dörfer, welche auf dem rechten Ufer liegen, laufen Gefahr, namentlich wenn das Erdreich locker ist, untergraben zu werden und in den Fluss zu stürzen, während die älteren, auf dem linken Ufer liegenden Ortschaften vom Fluss verlassen worden sind und jetzt oft recht weit ab, landeinwärts liegen. Den Grund zu dieser merkwürdigen Erscheinung hat der kürzlich verstorbene Dr. K. E. von Baer in höchst sinnreicher Weise erklärt. Die Erde dreht sich am Äquator mit einer Geschwindigkeit von 91.680 Fuß in der Minute, gleich 1571 3/4 Werst in der Stunde. Je näher zum Pol, desto geringer wird diese Geschwindigkeit, weil der Umfang der Erdkugel von Breitengrad zu Breitengrad abnimmt, und am Pol ist die Geschwindigkeit gleich Null.

Wir wissen ferner, dass wenn ein Körper einmal in Bewegung gesetzt ist, er diese Bewegung beibehält, wenn ihm kein Hindernis in den Weg tritt. Andrerseits muss ein gewisser Druck auf einen Körper, der in Ruhe ist, ausgeübt werden, wenn er in Bewegung gebracht werden soll. Ebenso ist entweder ein Hindernis oder ein Impuls erforderlich, wenn es sich darum handelt, die Geschwindigkeit, mit der sich ein Körper bewegt, zu vermindern oder zu vermehren.

Denken wir uns ein Wasserquantum, das sich in der Nähe des Pols befindet und an der langsamen Drehung um die Erdachse teilnimmt, von dort zum Äquator versetzt; um in ebenso schnellen Umlauf um die Erdachse zu geraten, wie die Ufer, zwischen denen es sich jetzt befindet, wird dasjenige Ufer einen Druck gegen dieses Wasser ausüben müssen, von dessen Seite her die Bewegung stattfindet. Wir fühlen das Gleiche, wenn wir auf einen fahrenden Wagen aufsteigen; der Wagen reißt uns die Füße nach vorn weg und wir müssen uns halten, um nicht zu fallen. Steigen wir dagegen aus einem fahrenden Wagen aus, so schlägt unserem Körper, welcher der Bewegung des Wagens folgt, der stillstehende Boden die Füße in der entgegengesetzten Richtung weg, als laufe der Boden dem Wagen entgegen. Bewegt sich das Wasserquantum, von dem wir oben sprachen, vom Pol zum Äquator hin, so muss es, von seiner bisherigen Teilnahme an der langsamen Rotationsbewegung auf eine geschwindere gebracht werden und es wird bei der Drehung unserer Erdkugel von Westen nach Osten das westliche Ufer sein, welches den dazu erforderlichen Druck auf das Wasser auszuüben haben wird .

Für solche Flüsse, welche von Norden nach Süden fließen, ist das westliche Ufer das rechte, daher ist für diese Flüsse das rechte Ufer dasjenige, welches von der Strömung angegriffen wird.

Fließt ein Fluss dagegen von Süden nach Norden, — ich rede hier immer nur von Flüssen der nördlichen Halbkugel — so drehte sich sein Wasser im oberen, dem Äquator näher liegenden Laufe mit größerer Geschwindigkeit um die Erdachse als im unteren Lauf. Das Wasser muss daher in dieser Bewegung durch das östliche Ufer gehemmt werden, wird also gegen dieses Ufer andrängen. Bei Flüssen, die von Süden nach Norden fließen, ist das östliche aber wiederum das rechte Ufer.

Daher also kommt es, dass die auf der nördlichen Halbkugel in der Richtung der Meridiane, oder annähernd so, fließenden Flüsse, sie mögen nun nach Süden oder nach Norden fließen, immer nach rechts drängen.

Auf der südlichen Halbkugel findet aus den nämlichen Gründen das Umgekehrte statt, d. h. die Flüsse, welche nach Norden oder nach Süden fließen, drängen nach links.

Da die Flüsse Russlands vielfach der Richtung der Meridiane annähernd folgen, sehen wir sie dort, wo sie diese Richtung haben, auch immer an ihr rechtes Ufer drängen und wo das Erdreich locker ist, wie in den Steppen, kann man ihr Vordringen nach rechts von Jahr zu Jahr deutlich sehen.

Die Woronesch hat auf diese Art bedeutende Strecken Landes durchwählt und die obere Erdschichte, den Tschernosem, entweder ganz weggespült oder mit anderem Erdreich vermischt; nur selten sieht man Punkte, welche der Fluss inselartig umgangen zu haben scheint, auf denen noch eine Schichte Tschernosem liegt.

Von Woronesch fährt man wieder über dieselbe Brücke auf das linke Ufer des Flusses zurück. Darauf schlägt die Bahn eine südliche Richtung ein. Die meisten Bahnlinien im südlichen Russland folgen dem linken Ufer der Flüsse, weil das angeschwemmte Land hier verhältnismäßig eben ist, während die Steppe des rechten Ufers der Flüsse durch tiefe Schluchten, Owragi, gekerbt ist, welche das Schneewasser im losen Erdreich gegraben hat, was eine Menge Brücken notwendig machen würde.

Den Don passieren wir gegen 8 Uhr Abends;— es ist bereits ganz dunkel.

Zwischen den Feldern schieben sich schon große Strecken unbebauten Landes ein.

Es wird Nacht.

Das Schlafen im Waggon war ich schon so gewohnt, dass ich erst bei Sonnenaufgang wieder erwachte. Ein dicker Nebel verhüllte Alles; der Tau fiel so stark, wie ich es bei uns kaum jemals beobachtet.

Der Temperaturunterschied der Luftschichten muss also ein sehr bedeutender sein.

Als der Nebel sich verzogen, lag die Steppenlandschaft in ihrer charakteristischen Einförmigkeit vor mir: hellgrau starrten einzelne verdorrte Kräuter empor, obgleich undicht, durch ihre Gleichförmigkeit doch wie ein farbloses Tuch Alles bedeckend.

Man darf sich die Steppe aber nicht vollständig eben vorstellen; wie im offenen Meere sich langsam lange Wellen ohne Kamm und Absturz heben und senken, so liegen hier die Täler, von etwa 5 bis 10 Werst Breite, durch flache Hügel getrennt.

Wir kommen an ein Flüsschen, dessen Tal wir folgen; es ergießt sich in den Sewerny Donez. Die Täler beider Flüsse sind mit kurzen Unterbrechungen ein zusammenhängendes Dorf; am Wasser ist also die Gegend durchaus nicht unbewohnt. Alle Häuser sind Masanki d. h. die Wände aus Weidenruten geflochten und mit Lehm verschmiert; nur selten, wo sich Kalkstein im hohen rechten Ufer findet, auch aus Stein gebaut; immer schneeweiß getüncht, immer sehr klein, namentlich sehr niedrig, aber sehr rein.

Das Volk ist munter und lustig; ganze Haufen kommen zur Eisenbahn. Die im Zuge befindlichen Kosaken geben den Vätern und Weibern Nachrichten von ihren Söhnen und Männern, welche im Dienste sind. Heute hat das Besuchen der Bahnhöfe sehr große Dimensionen angenommen, da es Sonntag ist.

Wir fahren an einigen Kalkfelsen mit fast senkrecht stehenden Schichten vorüber. Bald darauf sehen wir die ersten Steinkohlengruben, anfänglich sehr vereinzelt und primitiv mit Göpelbetrieb, dann immer häufiger; oft zeugt ein langer Schornstein von Dampfbetrieb.

Eine Eisenfabrik, Ziegeleien und Kalköfen beweisen steigende Bedürfnisse und Produktionsfähigkeit der Gegend; schon lange hatten wir nichts derartiges gesehen.

Bei der Station Schachtnaja ist eine ganze Stadt von Minen in Betrieb. Grün gestrichene Blechdächer zeugen von einigem Wohlstande.

Eine Menge schwarzer Kohlenarbeiter und geputzter Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm, nehmen den ganzen Bahnhof ein.

Ich sehe nicht einen Betrunkenen; — aber alle Frauen essen Kürbissamen.

Jede Spur russischer Nationaltracht ist verschwunden; die Frauen tragen Jacken und Röcke aus leichtem Baumwollenzeuge mit einem dreieckig zusammengelegten Tuche auf dem Kopf.

Ein Zug weißer Waggons des roten Kreuzes kommt an und hält neben unserem Zuge.

Die Leute scheinen es sehr gut in diesen Waggons zu haben.

Das Volk klettert über unseren Zug, um näher an jenen zu kommen und sich von den Erlebnissen des Krieges erzählen zu lassen.

Die Stationen sind sehr häufig, durchschnittlich nur 11 Werst von einander.

Wir sehen eine Eisenbahnlinie bauen, die Donezbahn; sie wird speziell für die Kohlentransporte dienen. Ein alter Herr im Waggon erzählt viel von der Mangelhaftigkeit der jetzigen Bahn: man könne nicht einen Kontrakt auf Kohlenlieferung mit bestimmtem Termin abschließen, weil die Bahn aus Mangel an rollendem Material ganz unberechenbare Zeiträume zum Transport nötig habe; auch gingen nicht selten 10 bis 25% der Kohlen unterwegs verloren. Nach dem defekten Zustande der Frachtwaggons zu urteilen, welche ich selbst gesehen, scheint diese Klage durchaus nicht übertrieben.

Die Gegend ist sehr belebt, Züge von 60 und mehr Ochsenwagen, Reisende zu Fuß und zu Pferde sieht man allenthalben.

Das Zugvieh, welches nur damit gefuttert wird, was es in der Steppe am Wege findet, ist in dieser Jahreszeit, wo Alles verdorrt, sehr mager.

In der Nähe der Dörfer sieht man gewöhnlich einige Pferde grasen. Die Tabune, sagt man mir, seien aber alle auf dem linken, grasreichen Don-Ufer.

Viehherden und zwei Merino-Herden sah ich wohl in dem dürren Grase der Steppe weiden.

Die Bahn folgt dem Tal des Aksay auf dessen linkem flachen Ufer; auch hier hören, den Fluss entlang, die Häuserreihen kaum jemals auf.

Die Steppe selbst ist völlig baumlos, nur hier und da im Dorfe stehen einige Weiden und Pappeln.

Das Terrain ist recht kupiert, es ziehen Schluchten vom Tal aus, in dem wir fahren, nach beiden Seiten in die Steppe hinein. Merkwürdig wenig Ackerbau sieht man: hier und da ein Hirsefeld oder eine Gruppe Heukuien; meist wächst und trocknet das Kraut je nach Regen oder Sonnenschein. Ich erkenne Wermutarten, großblütige Kamillen, Kümmelarten, wo es höher wird, Kletten und Disteln.

Wenn wir das Flusstal gelegentlich verlassen, behält die Steppe denselben Charakter wie im oberen Laufe des Don: — lange flache Täler, durch eben so flache Hügel getrennt.

Mir ist Alles so neu, dass ich über Langeweile nicht klagen kann, das einförmige Birken-und Ellerngebüsch von Moskau bis Petersburg, Pskow und Wilna ist schlimmer; doch mag eine langsame Postfahrt, wenn man tage- und wochenlang nur Steppe sieht, eine Tortur sein.

Wir passieren den Aksay und sind in Nowotscherkask.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Petersburg nach Poti