Die Deutsch-Amerikaner und das Kaiserreich*)

Deutsche Landsleute! Vom stillen ehrwürdigen Boston haben Sie mich heute in Ihr junges kraftstrotzendes Chicago gerufen, von dem alten Stammsitz des reinsten Angelsachsentums zu dem gewaltigen Tummelplatz aller Völker. Und mit frohem Herzen bin ich Ihrem Rufe gefolgt, denn in dieser Feierstunde des Deutschtums empfinde ich lebhaft, wie der große Strom der deutschen Einwanderung das puritanische Boston fast unberührt ließ, Chicago aber für Hunderttausende von Deutschen eine neue Heimat geworden ist. Hier wahrlich ist der rechte Platz, deutsche Ehrentage zu feiern, und freudig danke ich es Ihnen, dass ich mich zu Ihrer deutschen Festschar heute gesellen kann und wieder einmal in der geliebten deutschen Sprache zu Deutschen reden darf.

*) Festrede, gehalten am 27. Januar 1908 in der „Germania" in Chicago. Oberst Halle präsidierte; Generalkonsul Wever, der unermüdliche Vorkämpfer für deutsche Geisteskultur in Amerika, brachte den Trinkspruch auf Präsident Roosevelt aus; der Präsident der Universität Chicago, Judson, brachte das Hoch auf den Kaiser aus und nach dem Bankett hielt ich die folgende Rede.


Freilich, wenn ich mich umschaue in dieser stolzen „Germania"-Halle mit ihren Flaggen und ihren Bildern aus Deutschlands größten Tagen, vor allem, wenn ich die Begeisterung sehe, die aus Ihren Augen leuchtet, dann scheint es mir, als wenn es hier nicht erst der Rede bedarf. Ein starkes lebendiges einheitliches Gefühl hat Sie heute zusammengeführt; in größerer Schar als je sind Sie herbeigeeilt, um Ihre Treue zum Deutschtum aufs neue zu bekunden; schon haben Sie jubelnd eingestimmt, als die deutsche Hymne Sie grüßte. Was bedarf es da noch der Rede, was bedarf es anderer Worte als des einen herrlichen Festrufs, nach dem unsere Seele heute stürmisch verlangt, des Festrufs: es lebe der Kaiser!

Und doch, wir würden keine rechten Deutschen sein, wenn wir wirklich uns heute nur dem überströmenden Gefühl überließen und gedankenlos gar nicht darauf achten wollten, dass wir da doch eigentlich vor einer seltsamen weltgeschichtlichen Frage stehen. Fast alle, die sich heute zur Kaiserfeier hier zusammengefunden, sind amerikanische Bürger und somit politische Republikaner. Wir paar, die wir auch in der Neuen Welt deutsche Staatsbürger bleiben, verschwinden in der gewaltigen Überzahl. Und nicht nur Zufallsrepublikaner wollen Sie sein, unbekümmert um die politische Gestaltung des neuen Vaterlandes, das Sie selbst oder Ihre Eltern erwählten. Nein, mit reinster und tiefster Begeisterung glauben Sie an die demokratische Republik der Vereinigten Staaten. Ihr lauter Beifall sagt es aufs neue: das stolze republikanische Bewusstsein ist es, das Sinn und Kraft Ihrer täglichen Arbeit gibt. Und trotzdem will Ihr Republikanergeist den mächtigen Monarchen feiern: wäre es unser würdig, über solchen Gegensatz stillschweigend hinwegzusehen? Würde es nicht scheinen, als wenn nur Unklarheit und Verschwommenheit solche Gegensätze vereinen kann? Oft genug hören wir es ja in allen Gassen, dass der Geist der Republik ein flammender Protest gegen die veraltete Monarchie sei. Ist es wahr, dass Sie sich selber untreu werden, wenn Sie der republikanischen Staatsform die Treue geschworen und doch mit Hochgefühl zur deutschen Kaiserkrone blicken? Wahrlich, wir werden der Weihe dieser Stunde nicht gerecht, wenn wir nicht furchtlos und klar diesem Widerspruch ins Auge schauen.

Und wenn sich so ernste Fragen für uns in den Vordergrund schieben, so bleiben wir ja nur der deutschen Art getreu. Hier im Lande feiert schon der Schuljunge das Nationalfest mit knallendem Feuerwerk und lautem Jubel. Der Deutsche empfindet anders. Als sich kürzlich von New York aus eine Vereinigung über das ganze Land hin bildete, dem wüsten Lärm am 4. Juli entgegenzuarbeiten, wurde ich gebeten, kurz darzulegen, wie die deutsche Jugend patriotische Tage feiert. Unser Feiertag, antwortete ich, ist Kaisers Geburtstag und aus frohen Jugendjahren blieb mir die alljährliche Feier in meiner Heimatstadt in dankbarer Erinnerung. In Feiertagsstimmung zogen wir zur geschmückten Schule; Lieder erklangen und in schlichter Weise führte die Rede des Lehrers uns zur Vergangenheit. Kein lautes Brüsten und kein hohles Prahlen: in weitausblickender historischer Rede wurde uns die Bedeutung des Tages vor die Seele geführt, und die Eindrücke solcher Stunden hafteten fürs ganze Leben. Ja, so soll es bleiben: wo Deutsche zusammenweilen, um nationale Ehrentage zu feiern, da gilt es, in ernstem Worte den Geist der Stunde festzuhalten, den Zusammenhang mit der Vergangenheit zu sichern und vor allem klarzustellen, mit welchem Rechte die Feierstunde unser Herz und unsere Seele fordert.

Mit welchem Recht, so steht die Frage heute vor uns, können wir des Kaisers Geburtstag hier inmitten eines Volkes feiern, das in jeder Faser seines Wesens republikanisch ist? Die Republik, in der wir leben, ist längst nicht mehr ein Experiment. Dass unser öffentliches Leben nicht frei von Schäden und Gefahren ist, weiß jedermann; aber kein Nörgler und kein Schwarzseher kann den Geist des Landes so völlig missverstehn, dass er die Heilung der Schäden von einer Zerstörung der republikanischen Staatsform erhoffen möchte. Im Gegenteil, wer Amerika versteht, weiß es wohl, dass die Schäden seiner Demokratie gerade dort liegen, wo der demokratische Geist nicht energisch und nicht konsequent genug durchgeführt wird; nicht durch weniger, sondern durch mehr Demokratie müssen sie beseitigt werden. Die politische Republik war niemals zuvor so fest gegründet, niemals zuvor so einstimmig anerkannt. Eine soziale Aristokratie mag sich herausbilden, eine politische Aristokratie ist eine Unmöglichkeit in Amerika; und jeder von uns fühlt es tief: die Monarchie gar wäre das Ende Amerikas.

Gedankenlosigkeit und Übereifer hastet nun von hier aus weiter: der Amerikaner glaubt an die Republik — er ist sich deshalb nur dann treu, wenn er überall auf Erden den Glauben an die Monarchie bekämpft und vernichtet. Der Amerikaner ist ein Priester der Demokratie — er soll seinen Glauben zu den politischen Heiden tragen. Wer Republikaner ist, muss in jedem Monarchisten seinen politischen Gegner sehn; wer die Freiheit kennt, muss die Knechtschaft überall verachten. Und mag der Amerikaner das deutsche Volk schätzen und würdigen, die deutsche Staatsform muss er mit flammender Überzeugung bekämpfen. Wollen das gar rechte Amerikaner sein, die des Kaisers Geburtstag feiern? Zwischen dem republikanischen Amerika und dem monarchischen Deutschland klafft eine unüberbrückbare Kluft. Wie oft haben wir alle so die Torheit poltern hören — wie oft hat der Unverstand so auf uns eingescholten. Und doch, solches Gerede hat uns Deutsche nur selten irregeführt. Nicht nur unser eignes Gemüt widersprach, sondern wir sahen wohl auch bald, dass gerade die besten und reifsten Amerikaner die Engherzigkeit, ja den Widersinn solcher Geschichtsauffassung durchschauten.

Der Tieferblickende weiß in der Tat, dass es keinen Sinn hat, nach der besten Staatsform im allgemeinen zu fragen. Republik und Monarchie sind nicht logische, sondern historische Probleme. Es wäre sinnlos, zu streiten, ob Dichtkunst oder Malerei die bessere oder höhere Kunst wäre; die göttliche Komödie kann nicht gemalt, die Sixtinische Madonna kann nicht gedichtet werden; ein jedes will seine eigene Form des Ausdrucks. Dass sicherlich Amerikanertum nur in der republikanischen Form sich ausleben darf, bedeutet nicht den geringsten Gegensatz gegen das Deutschtum, das die monarchische Form verlangt. Ja, wer vorurteilslos prüft, der wird finden, dass dieser äußerliche Unterschied zwischen Amerika und Deutschland nicht nur keinen Gegensatz darstellt, sondern vielmehr aus einer tiefen Wesensähnlichkeit beider Nationen hervorgeht.

Dass Deutschland und die Vereinigten Staaten viel Ähnliches und Verwandtes zeigen, wird ja meist anerkannt, aber die gemeinschaftlichen Züge werden zu oft auf der Oberfläche gesucht. Bald wird betont, dass beide einen Staatenbund darstellen mit künstlichem Gleichgewicht der bundesstaatlichen und der einzelstaatlichen Mächte. Bald wird der Schwerpunkt auf die glänzende wirtschaftliche Entwicklung gelegt; wie beide in wenigen Jahrzehnten ein unerhörtes Wachstum der wirtschaftlichen Kräfte erfahren, wie ihre Städte im Wettlauf vorangestürmt, wie die Industrie rastlos den Weltmarkt erobert. Wesentlicher aber dünkt mir ein andres: Wenn Deutschland und die Vereinigten Staaten einander gut verstehen können, so beruht es nicht auf der Ähnlichkeit äußeren Erlebens, sondern auf tiefer Seelen Verwandtschaft: gemeinsam ist beiden ein sittlicher Idealismus, der so einheitlich vielleicht nirgends wiederkehrt. Dort aber werden wir von sittlichem Idealismus sprechen, wo das Leben erfüllt ist von dem Verlangen, nicht zu genießen, sondern Aufgaben zu erfüllen, wo die Seele des Volkes nicht den Zufallszielen des Nutzens nachjagt, sondern nur das eine Ziel sucht, sich selber treu zu sein.

Das allein war der tiefste Sinn jenes Puritanertums, das an den Gestaden von Neu-England seine Zuflucht fand und dort zum Amerikanertum erstarkte. Gewiss ist Neu-England heute nur ein kleiner Teil des gewaltigen Staatenbundes, aber die Millionen und Millionen, die später in die Neue Welt geströmt, fanden jenen puritanischen Kolonistengeist als das Gegebene vor, dem sie sich unbewusst angepasst. Der sittliche Idealismus hat diesem Weltreich Sinn und Kraft und Einheit gegeben; nur von hier aus ist Amerika mit all seinen Grundwesenszügen wirklich zu verstehen. Gerade das aber ist auch der tiefste Sinn des Deutschtums. So hat vor heute hundert Jahren der deutscheste Denker, Fichte, die deutsche Seele verstanden. Sich selber treu sein wollen, das ganze Leben der Nation mit der eigensten Aufgabe erfüllen, das ist das sittliche Wollen, in dem Deutschtum und Amerikanertum sich in tiefster Wesensverwandtschaft begegnen, und solange diese grundsätzliche Übereinstimmung bestehen bleibt, kann von einem inneren Gegensatz beider Völker keine Rede sein.

Aber gerade aus dieser inneren Einmütigkeit erwächst äußerliche Verschiedenheit. Die Entwicklung und die Schicksale beider Völker waren zunächst so gänzlich ungleich und ungleiche Aufgaben standen vor ihnen. Gerade weil sie erfüllt waren von dem gemeinsamen Verlangen, das ganze Volkstum mit der eigensten Aufgabe zu durchdringen, gerade deshalb musste die Verschiedenheit der Aufgabe zu völliger Verschiedenheit der staatlichen Formen führen. Amerika wuchs aus freien Gruppen, zusammengeführt durch das Verlangen nach Gewissensfreiheit und persönlicher Unabhängigkeit; aus allen Völkern der alten Welt lösten sich die Selbständigsten los, um auf neuem Boden sich auszuleben. Ihr Volkstum wurde so zusammengehalten durch die Begeisterung für ein ideales Gemeinwesen, in dem jeglicher in Freiheit den höchsten Grad seiner persönlichen Leistung erreichen könnte. Es galt ein Neues zu schaffen, das die reichste Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen sollte. Das deutsche Volk dagegen, seit es seiner selbst bewusst ward, hatte ein Erbe zu pflegen. Das Gemeinsame lag in der wundervollen Eigenart des deutschen Geistes, wie er sich durch die Jahrtausende zur Geltung gebracht. Die deutsche Art sprach aus Familienleben und Gemeindesinn, aus Recht und Wirtschaft, aus Musik und Dichtung, aus Wissen und Kunst, aus Krieg und Spiel, aus Religion und Weltanschauung. Es war ein eigner köstlicher Ton — ihn fortklingen zu lassen in Reinheit und Fülle, das war die Verpflichtung für die deutsche Seele.

Das Bindende des amerikanischen Volkstums ist so das gemeinsame Zukunftsideal, das eigentlich Bindende des deutschen Volkstums die gemeinsame Vergangenheit. Zielpunkt für den Amerikaner ist die vollste Entfaltung der Persönlichkeit; die Nation als Ganzes ist um der einzelnen willen da. Zielpunkt für den Deutschen ist die Erhaltung des Volkes als eines Ganzen; die einzelnen haben sich der Ganzheit unterzuordnen. Und damit ist alles weitere gegeben. Ist die Nation da um der Persönlichkeiten willen, so Ist die wichtigste Tugend die Gerechtigkeit; ist aber der einzelne um der Nation willen da, so ist die höchste Tugend die Treue, Millionen eilten der Neuen Welt zu und lebten sich dort ein in diesen Glauben an den Selbstwert der Persönlichkeit; Millionen verließen die deutsche Heimat und trugen den Glauben an den Selbstwert des Volkes in treuem Gemüt weithin über alle Teile der Erde.

Aus dieser Verschiedenheit ergibt es sich aber denn auch von selbst, dass jedes der beiden Völker sein Oberhaupt in besonderer Weise finden muss. Liegt der Sinn der Nation in den einzelnen, so muss die Spitze des Staates durch Wahl gewonnen werden; die republikanische Form ist dann in der Volksaufgabe selbst notwendig gegeben: der Präsident schöpft seine ganze Kraft aus den Millionen Einzelpersönlichkeiten. Liegt aber der Sinn der Nation in der überkommenen Gesamtheit, so muss das Oberhaupt durch die historische Tradition bestimmt sein, hoch über allem Streit und Willenszwiespalt der einzelnen; die monarchische Form ist dann der einzig mögliche Ausdruck der nationalen Aufgabe: der Kaiser schöpft seine beste Kraft aus der Unabhängigkeit vom Willen der einzelnen. Die Kaiserkrone wird gerade durch diese Kampfentrücktheit zum Symbol des einheitlichen Ganzen, und jeder einzelne gewinnt seine Bedeutung dann erst selbst aus seiner besonderen Beziehung zu dem überragenden Symbol. Die Aristokratie, das Beamtentum, das Titel- und Ordenwesen, die staatliche Bedingtheit aller Berufstätigkeit, wird da nur Ausdruck dieser vielfältigen Abhängigkeit. Zu behaupten, dass die Republik Amerikas besser sei als die Monarchie Deutschlands oder umgekehrt, ist dann gerade so töricht, als wollten wir streiten, ob die Flossen der Fische besser sind als die Fittiche der Vögel; notwendig sind beide für die gesamte unabänderliche Lebensart. Wer in der Begeisterung für Präsident Roosevelt vorschlagen wollte, die Verfassung zu ändern und das unvergleichlich verehrte Oberhaupt als König zu krönen, der wäre ein Verräter an der Seele des Volkes; der Lebensnerv der Nation wäre schon vernichtet, wenn solch ein Wahn auch nur beraten würde. Und wenn eine törichte unhistorisch denkende Aufklärerei das Deutsche Reich unterjochen könnte und es durchsetzen würde, unseren Deutschen Kaiser einstimmig zum lebenslänglichen Präsidenten zu erwählen, so wäre scheinbar seine Macht und seine Bedeutung nicht eingeschränkt. In Wahrheit aber wäre alles zerfallen und zerkrümelt: was Symbol der Gesamtheit war, wäre zur Willenstat der einzelnen geworden, und der Sinn des Deutschtums wäre aufgehoben.

(Fortsetzung)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus Deutsch-Amerika
Münsterberg, Hugo Dr. (1863-1916) deutsch-Amerikanischer Psychologe und Philosph. Professor an der Harvard-Universität 1904

Münsterberg, Hugo Dr. (1863-1916) deutsch-Amerikanischer Psychologe und Philosph. Professor an der Harvard-Universität 1904

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