Von Tscheljabinsk nach Irkutsk

Die westsibirische Linie umfasst die Strecke von Tscheljabinst bis zum Übergang über den Ob bei Kriwoschtschekowo, die mittelsibirische reicht von hier bis nach Irkutsk. Der Luxuszug braucht für diese beiden Strecken die Zeit von einem Mittag bis zum Morgen des darauffolgenden fünften Tages. Hinterlässt die Fahrt über den Ural eine Fülle gefälliger und romantischer Eindrücke, die an den Harz oder Thüringen erinnern, so verändert sich der Charakter der Landschaft bis Irkutsk völlig. Die Bahn durchzieht auf einer Strecke von zweitausendzweihundertfünfzig Kilometern ausschließlich flaches Gebiet, dessen Charakter durch Wald und Steppe bestimmt wird. Die Bahn würde keinerlei Schwierigkeiten zu überwinden haben, wenn die mächtigen sibirischen Ströme nicht zu langgestreckten und kunstvollen Brückenbauten genötigt hätten.

Gerade die Flüsse waren es aber, die den Beginn der Arbeiten an verschiedenen Stellen erlaubten, so dass die Linie mit einer Schnelligkeit hergestellt werden konnte, die ohne Vergleich dasteht.


„Von den Angriffspunkten aus“ sagt Wiedenfeld in dem Buche, auf das wir uns schon vorher bezogen, „wird im neuerdings sogenannten teleskopischen Verfahren vorgerückt, wie es zuerst in großem Umfang beim Bau der amerikanischen Pazifikbahn ausgebildet worden ist und jetzt bei allen, durch unwirtliche weglose Gegenden führenden Erschließungsbahnen angewendet wird; der zuerst oberflächlich hergestellte Schienenweg bildet die Zufuhrstraße für die weiteren Teile, so dass der teure Landtransport fast ganz vermieden werden kann. Auch das Baupersonal wohnte bei der Erbauung der sibirischen Bahn, hierin dem Bau der transkaspischen Bahn folgend, zu großem Teil in einem Eisenbahnzuge, der mit dem Fortschreiten des Baues von der Lokomotive des Materialienzuges während des Entladens vorgeschoben wurde; man sparte dadurch erheblich an Wagen und hatte durch die Ausnützung der doch unter Dampf stehenden Lokomotive nur geringe Kosten für die Beförderung des Wohnzuges aufzuwenden.“

Von Tscheljabinsk ist die Anlage der sibirischen Bahn bis zu ihrem Endpunkt eingleisig, und es bedarf keiner besonderen technischen Vorbildung, um zu erkennen, dass sie, namentlich auf der Strecke bis Irkutsk, zu schnell und ohne genügende Berücksichtigung des lebhaften Verkehrs gebaut ist, der sich auf ihr alsbald entwickeln sollte. Die Zahl der Ausweichstellen ist allerdings eine so große, und der Aufenthalt auf den Stationen, wo ein Zug von der entgegengesetzten Richtung erwartet wird, eine so lange, dass damit eine Gefahr für die Sicherheit des Verkehrs nicht verbunden ist. Die Konstruktion der Brücken über die sibirischen Ströme, die aus dem Innern Asiens hervorbrechen und sich den Weg zum Nördlichen Eismeer bahnen, verdient umso mehr Anerkennung, als sie mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Das Bett dieser Flüsse schwillt im Frühling außerordentlich an, tritt über die flachen Ufer und überschwemmt das Land in weitem Umkreise. Wegen der Schifffahrt musste man hohe, steinerne Pfeiler in dem starken Gefälle des Wassers errichten und die Bogenspannung der Brücken ungemein weit ausführen. Auch diese entsprechen dem eingleisigen Betrieb der Bahn, und es dürfte große Mühe verursachen, sie später für ein zweites Gleis zu verbreitern. Modelle von ihnen waren in der russischen Abteilung der letzten Pariser Weltausstellung mit der Anlage der Caissons, die in die Flüsse gesenkt wurden, den Granitpfeilern und den eisernen, vergitterten Bogenführungen zu sehen.

Die Brücke über den Tobol bei Kurgan ist 470, die über den Ischim bei Petropawlowsk 235 Meter lang. Unmittelbar vor Omsk führt eine 685 Meter lange Brücke über den Irtysch. Noch hundert Meter länger ist die Eisenkonstruktion, die bei Kriwoschtschekowo über den Ob errichtet ist. Am imponierendsten macht sich der sechs Bogen umspannende Brückenbau bei Krassnojarsk, der sich hinter der hübsch gelegenen Stadt in einer Länge von 925 Metern über den Jenissei hinzieht.

Daneben finden sich aber auf der West- und mittelsibirischen Strecke über Bäche und schmale Schluchten auch eine Anzahl Holzbrücken, die beständig ausgebessert werden müssen, um den lebhaften Eisenbahnverkehr aushalten zu können. Sie werden aber bereits in großer Anzahl in eiserne umgewandelt, so dass auch dieser Mangel, der sich übrigens bei dem Bau der amerikanischen Pazifikbahn anfänglich ebenfalls bemerkbar gemacht hat, in nicht zu langer Zeit beseitigt sein wird.

Brücke über den Jenissei.
Brücke über den Tobol.

In ähnlicher Weise sucht man auch den Unterbau der Gleise an solchen Stellen, wo er sich als zu schwach erwiesen hat, zu verbessern. An einzelnen Strecken hat man mehrere Werst lang ganz neue, höhere Dämme neben den alten niedrigen aufgeschüttet, die bei starken Regengüssen leicht unterspült wurden.

Von den Naturgewalten, mit denen man beim Bau der sibirischen Bahn zu kämpfen hat, konnten wir uns später in der Mandschurei ein Bild machen. Dort hatte bei der Station Schache ein furchtbares Unwetter getobt, mit unaufhörlichen Regengüssen einen kleinen Fluss anschwellen lassen und dadurch einen Damm, der sein Bett einschloss, zerrissen. Die Gegend wurde in wenigen Stunden meilenweit unter Wasser gesetzt, das massive Stationsgebäude zum Teil aus dem Fundament gehoben, zum Teil abgebröckelt und zerbrochen. Ein ganzes Dorf war dabei zerstört worden, und die armen Bewohner wateten bis an die Hüften im Wasser, um zu retten, was möglich war.

Aber schon früher, hinter Omsk, waren wahre Ströme von Regen herniedergestürzt, die uns zwar gegen Hitze, Staub und Mücken schützten, aber für die Sicherheit der Fahrt bedenklich zu werden schienen. Die Dämme wurden in kurzer Zeit derartig ausgewaschen, dass die Schwellen zum Teil freilagen und man mit dem Spazierstock oder Regenschirm in den lehmigen, weichen Boden tief hineinstoßen konnte. Der Regen strömte immer heftiger hernieder, so dass man weder aus den Stationen spazieren gehen noch auch durch die beschlagenen Fenster ins Freie sehen konnte.

Unsere Petersburger Exzellenz, welche den Goldsuchern an der Lena in ihre Geschäftsbücher sehen soll, macht ein trübes Gesicht und spricht von der Möglichkeit, dass wir unter der Last des Zuges auf einem Boden, der nicht einmal durch Schotterung befestigt ist, recht ungemütlich abrutschen könnten. Aber schneller, als wir es hoffen durften, lacht uns wieder die Sonne, und auch in der Landschaft vollzieht sich eine charakteristische Veränderung. Die Heide, die so lange vorgeherrscht hatte, bedeckt sich mit Sträuchern. Die Bäume treten erst vereinzelt, dann gruppenweise hervor, bis sich der Birkenwald zu beiden Seiten der Bahn schließt.

Bei der Anlage der sibirischen Bahn fällt es auf, dass sie die größeren Städte, die dadurch miteinander verbunden werden, nicht in allen Fällen unmittelbar berührt, sondern zwischen ihnen und den Stationen einen oft beträchtlichen Zwischenraum lässt.

Während der Fahrt hat man das Gefühl, dass der Schienenweg bis nach Irkutsk in einer einzigen geraden Linie angelegt ist, die von Westen nach Osten führt. Mehrere Meilen weit erblickt man aus den Ausweichstellen nach beiden Richtungen das Gleis als eine immer mehr zusammenlaufende Doppellinie bis zum Horizont. Wird in der Nacht ein Zug erwartet, so erkennt man die rot leuchtenden Augen der Lokomotive, die entgegenkommt, als kleine, im Dunkeln aufblitzende Punkte oft zwanzig Minuten lang, bevor sie in die Station einrollt.

Erst auf der Karte bemerkt man, dass diese anscheinend gerade Linie eine Menge Schwingungen macht und langsam auf- und niedersteigt, ohne dass die Passagiere es merken. Hinsichtlich der Annäherung an die Städte hat man die Entscheidung nur davon abhängig gemacht, inwieweit sich Schwierigkeiten, die mit der Bodenformation und dem Lauf der Flüsse zusammenhängen, am besten überwinden ließen. Bald musste man einen Sumpf umgehen, bald erwies sich die Überbrückung der Ströme in unmittelbarer Nähe der Stadt als schwierig.

Bei kleineren Ortschaften hat man es nicht für lohnend erachtet, sich bei der Anlage der Bahn nach ihnen zu richten, sondern angenommen, dass sie, soweit es ihre Entwicklungsfähigkeit erlaubt, ihr allmählich von selbst zustreben werden. In anderen Fällen hat man es für zweckmäßiger gehalten, lieber Zweigbahnen zu bauen, anstatt mit der Hauptlinie einen Umweg zu machen. Auf diese Weise entgeht den Passagieren der Anblick mehrerer Städte, die für die Entwicklung Sibiriens von Bedeutung sind.

Nur die lange Reihe von Baracken, die für die Auswanderer aufgeschlagen sind, und die Menge von Männern, Frauen und Kindern, die mit Säcken, Körben und Bündeln ein armseliges Nachtquartier in den Schuppen oder im Freien beziehen, lassen darauf schließen, dass sich hier ein Mittelpunkt für die Landverteilung und Ansiedelung befinden muss. Als charakteristisch fällt es ferner auf, dass auf jeder Station eine Annahmestelle für die vom Staate eingeführten Sparkassen eingerichtet ist. Sie haben großen Anklang bei der russischen Bevölkerung gefunden. Ihre Einnahmen erfahren von Jahr zu Jahr eine bedeutende Steigerung und liefern zum Teil die Mittel für den weiteren Ausbau der sibirischen Bahn.

Schon Tscheljabinsk liegt, wie erwähnt, von der eigentlichen Stadt entfernt und wird mit ihr durch ein Birkenwäldchen verbunden. Da es sich hier um einen lebhaften Kreuzungspunkt der Eisenbahn handelt, wo die Auswandererzüge zusammengestellt werden, war es wichtig, ein offenes Terrain zu finden, auf dem man sich mit der Anlage der Gleise, den Wagenparks, den Maschinenwerkstätten, den Arbeiter- und Auswandererbehausungen, je nachdem der Verkehr sich steigert, nach allen Richtungen frei entwickeln konnte.

Kurgan hat über zehntausend Einwohner und liegt am rechten Ufer des Tobol. Der Name der Stadt erinnert an die runden, zur Form eines Hügels oder Kegels aufgeschichteten Gräber, die sich im südlichen und östlichen Russland, vor allem aber in Sibirien und Mittelasien finden. Im Innern sind sie mit Stein oder Holz ausgebaut und enthalten Skelette von namhaften Heerführern und Fürsten aus längst entschwundener Zeit. Der Schmuck von Bronze, Silber oder Gold, mit dem man die Toten in die Erde senkte, sollte ihnen als Zeichen weltlicher Macht und Herrlichkeit bleiben, bis unsere Zeit, von Forschertrieb oder Gewinnsucht beseelt, den Toten die Ruhe störte, genau so, wie es bei unseren Hünengräbern der Fall war. Eine schöne Sage steht mit dieser Stadt in Verbindung. Es heißt, ein reicher Tatarenfürst habe seiner schönen und zärtlich geliebten Tochter nach ihrem Tode einen solchen Kurgan errichten lassen, der von rohen Händen wiederholt nach Schätzen durchwühlt wurde. Die Verstorbene habe den Schimpf, der ihr angetan wurde, nicht ertragen können. In einer klaren Sommernacht habe sie sich plötzlich aus dem Grabhügel erhoben, sei in einem silberglänzenden Wagen durch die Luft davongeflogen und dann in einem benachbarten See verschwunden.

Gegenwärtig bildet Kurgan einen wichtigen Platz für den Transport der Butter, die in dieser Gegend gewonnen wird. Man erblickt auf den Stationen ganze Reihen von Wagen, in denen die Butter, in Eis verpackt, nach dem europäischen Russland verschickt wird. Sie gelangt dann über Libau oder Petersburg nach Kopenhagen, wo sie als dänische Butter besonders in England ein weites Absatzgebiet findet.

Stadt Kurgan.

Ebenso weit von der Eisenbahnstation ist Petropawlowsk entfernt. Die Stadt wurde im Jahre 1752 zum
Schutz gegen die Überfälle der Kirgiskaisaken am Ufer des Ischim angelegt und auf den Namen der beiden Apostel Peter und Paul getauft. Bald entwickelte sich hier ein wichtiger Sammelpunkt für die Handelsartikel, die aus Mittelasien von der Bucharei bis nach China eingeführt wurden.

Unter den 20.000 Einwohnern befinden sich 35% Mohammedaner. Ein besonderer Tauschhof wurde eingerichtet, der aus hundertsiebenunddreißig kleineren, steinernen Buden besteht. Sie sind durch ein großes Dach miteinander vereinigt und öffnen ihre Läden nach dem inneren rechtwinkligen Platz dieser merkwürdigen Anlage, wo die Erzeugnisse Russlands gegen die Asiens ausgewechselt werden. Außerdem besitzt Petropawlowsk große Schlächtereien sowie Anstalten für die Verarbeitung von Tierprodukten, Gerbereien, Wollwäschereien, Talgsiedereien usw. Kurgan, die vorher erwähnte große Station für die Butterausfuhr nach dem Westen Europas, und Petropawlowsk sind gegen zwei Kilometer von der Stadt entfernt.

Um nach Omsk zu gelangen, muss man sich einer Zweigbahn bedienen, die vom Bahnhof nach der über drei Kilometer weiter gelegenen Hauptstadt des früheren Generalgouvernements Westsibirien mit ihren fünfzigtausend Einwohnern führt.

Die Gründung und Entwicklung von Omsk fällt in die spätere Zeit der Kolonisierung von Sibirien. Erst zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erkannte man die Bedeutung des Punktes, wo der Om sich in den Irtysch ergießt. Die Nachrichten, die über den goldhaltigen Boden dieser Gegend in Petersburg einliefen, veranlassten Peter den Großen, dorthin eine Spedition auszurüsten. Die ersten hölzernen Befestigungen wurden im Jahre 1717 am linken Ufer des Om angelegt, erwiesen sich aber bald als unzureichend. Es wurde daher im Jahre 1765 eine neue Festung nach dem Baubanschen System und an der jetzigen Stelle, dem rechten Ufer des Om, angelegt. Die Stadt besteht auch gegenwärtig mit wenigen Ausnahmen — das Kadettenhaus ist ein Steinbau — aus hölzernen, einstöckigen Häusern. Eine Brücke verbindet die beiden Teile der Stadt miteinander. Der Boden ist sandig und salzhaltig, die Lust trocken, das Klima im allgemeinen ungesund. Die Temperatur ist starken Schwankungen unterworfen. Heftige Winde und viele Niederschläge machen den Aufenthalt in dieser Gegend wenig angenehm.

Omsk bildet gegenwärtig den Sitz für die Verwaltung des Steppen-Generalgouvernements und des Gebiets Akmolinsk. Unter den dreizehn griechisch-katholischen Kirchen verdient die Nikolaikirche eine besondere Beachtung, weil sich in ihr eine Fahne Jermaks, des Eroberers von Sibirien, befindet. Sie wurde aus Beresow hierher gebracht und zeigt auf der einen Seite den Erzengel Michael, auf der andern den heiligen Demetrius, beide zu Pferde.

Bemerkenswert ist auch das Museum der kaiserlichen geographischen Gesellschaft wegen seiner Sammlung von Fischen, Vögeln und Säugetieren verschiedener Art, seiner Funde aus der Urzeit, den Gerätschaften der eingeborenen Bevölkerung und der eingewanderten Bauern sowie der Erzeugnisse der Hausindustrie. Durch den Irtysch ist für Omsk eine wichtige Wasserstraße geschaffen. Mehrere Karawanenwege nehmen hier ihren Anfang. Von entscheidender Wichtigkeit für den Zuwachs der Bevölkerung und die geschichtliche Bedeutung der Stadt ist jedoch die sibirische Bahn geworden.

Unsere Gedanken eilen zu der Stätte hinüber, wo in der ehemaligen Festung der große Dichter F. M. Dostojewski von 1849—1853 unfreiwillig weilte. Wegen seiner Teilnahme an der Petraschewskischen Verschwörung verhaftet, zum Tode verurteilt und auf der Richtstätte begnadigt, hatte Dostojewski in Omsk namenlose Leiden zu erdulden. Er wurde beim Brennen und Stoßen von Alabaster mit dem Drehen von Schleifsteinen beschäftigt und musste bei dem Bau einer neuen Kaserne Ziegel über den Festungswall schleppen.

Aber die Schmach, die ihm angetan war, vermochte nicht die geistige Kraft zu brechen, die in ihm lebte, sondern fachte sie nur zu dichterischer Glut an und erfüllte seine Phantasie mit einer Fülle rührender Gestalten, denen er in seinem unübertrefflichen Werk „Memoiren aus einem toten Hause“, worunter das Zuchthaus zu verstehen ist, dauerndes Leben geliehen hat. Man hat die Spuren dieser grausamen Justiz, die Russland über einen seiner geistigen Führer verhängte, verwischt, denn das Haus, in dem Dostojewski als Sträfling lebte, ist nicht mehr vorhanden. *)

*) Vgl. des Verfassers „Russische Literaturbilder“, Berlin 1899. Verlag des Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur.

Auch der Anblick von Tomsk wird den Augen des Reisenden entzogen, der sich auf der sibirischen Bahn befindet. Um diese Stadt zu erreichen, muss man auf der Station Taiga die Zweigbahn besteigen, auf welcher der Zug die etwa zehn Meilen weite Strecke in drei und einer halben Stunde zurücklegt.

Bekanntlich ist Tomsk Universitätsstadt, und zwar die einzige in Sibirien, mit einer juristischen und einer medizinischen Fakultät sowie mit wertvollen wissenschaftlichen Sammlungen. Vor allem sind das archäologische, das zoologische und mineralogische Museum sowie das botanische Kabinett im Laufe der Jahre zu wichtigen Pflanzstätten ernster Forschung geworden.

In der Stadt, die zweiundfünfzigtausend Einwohner zählt, ist es einer Anzahl namhafter Gelehrter gelungen, nicht nur den vierhundert Studenten als Vorbild für gelehrte Forschungen zu dienen, sondern auch die Schätze, die Sibirien in sich schließt, zu verdienter Anerkennung zu bringen und dadurch dem Unternehmungsgeist neue Bahnen zu erschließen.

Bemerkenswert ist auch die Zusammenstellung der Bibliothek, die mit der Universität verbunden ist. Wir finden darin die umfangreiche Büchersammlung des russischen Dichters Shukowski, bekannt als Erzieher Alexanders II. und hervorragender Übersetzer der deutschen Klassiker, und die Bibliothek unseres verstorbenen Rudolf von Gneist, die nicht weniger als zehntausend Bände und Broschüren aus der von ihm so glänzend vertretenen juristischen Wissenschaft umfasst.

Tomsk
Tomsk. Universität.


Nach Tomsk sind auch die Bergwerksverwaltung und Goldschmelze, die sich früher in Barnaul befanden, überführt worden. Die Städte, die mit der Eisenbahn unmittelbar verbunden sind, entbehren nicht des landschaftlichen Reizes oder des charakteristischen Aufbaues.

Am wirksamsten macht sich Krassnojarsk, die Hauptstadt des Gouvernements Jenissei, am Ufer des gleichnamigen Stromes, wo sich eine Bevölkerung von siebenundzwanzigtausend Einwohnern niedergelassen hat. Der Jenissei gewährt an dieser Stelle ein imponierendes Bild mit seiner Breite von über einem Kilometer, seinen malerischen Windungen und den Inseln, die aus dem Wasser hervorragen. Außerdem ist der Fluss zu beiden Seiten von bewaldeten Höhen umgeben, die in das Panorama eine beständige Abwechslung bringen.

Krassnojarsk liegt am linken Ufer des Jenissei, der an dieser Stelle einen Nebenfluss, die Katscha, in sich aufnimmt. Die Bahn fährt um die Stadt herum. Man erkennt die Kirchen mit den vergoldeten Spitzen und inmitten der Häuser den Stadtpark, auf den die Bewohner besonders stolz sind, weil er besser als irgendein anderer in Sibirien erhalten und gepflegt ist. Während wir weiterfahren, bleiben wir mit der Aussicht auf die sich immer mehr verkleinernden Häusergruppen noch eine Weile in der Nähe des Flusses und gleiten über ihn dann auf einer langen, eisernen Brücke hinweg, während die Höhenzüge sich uns zur Rechten noch eine Weile fortsetzen.

Die Brücke über den Jenissei ist zweifellos die schönste, die wir beim Überschreiten der sibirischen Ströme überhaupt kennen gelernt haben. In sechs mächtigen Bogen legt sich dieses stolze Bauwerk über den Strom, der kurz vorher, von Bergen eingeengt, mit so raschem Gefälle dahineilt, dass an den granitenen Pfeilern mächtige Eisbrecher angebracht werden mussten.

Eine literarische Überraschung bietet sich etwa eine halbe Meile von der Stadt in dem Landhause oder wie die Russen sagen, „Datsche“ Tarakanowka. Ihr Besitzer, G. W. Judin, ein eifriger und fachkundiger Bücherinhaber, hat darin eine Bibliothek von mehr als 100.000 Bänden gesammelt. Die Sammlung von Werken über Sibirien lässt erkennen, welchen breiten Raum die Beschreibung von „Neu Russland“ zwischen dem Ural und dem Stillen Ozean in der Literatur aller modernen Kulturvölker einnimmt.

Es folgt ein warmer Sommertag, der uns mit dem Duft des eben gefallenen Regens und der uns begleitenden Wälder erfrischt. Bald werden wir aber von den Moskitos belästigt, gegen die sich die Arbeiter auf der Strecke Netze über das Gesicht ziehen. Zwischen Nischne Udinsk und Tulun hinterlässt die Gegend einen immer mehr kultivierten Eindruck. Wir begegnen kleinen und größeren Dörfern und Ansiedelungen, die von Auswanderern eingehegt worden sind. Die Felder sind beackert oder in Weideplätze umgewandelt.

Dann folgt mit Tulun wieder eine größere Station, wo ein Dutzend Lokomotiven in einem Schuppen stehen und ein Güterzug mit Steinkohle, die in dieser Gegend bis nach Irkutsk hin gefunden wird, uns entgegenfährt. Die Station Sima, zu deutsch Winter, zeigt uns ein lächelndes Sommerantlitz. Sie bringt uns in die Nähe des Flusses Ja — nicht so auszusprechen wie die Braut vor dem Traualtar dem Pfarrer antwortet, sondern wie der Esel schreit, — und zeigt, dass hier wieder größere Kohlenlager vorhanden sein müssen. Wir beschäftigen uns mit dem Gedanken, ob wir mit unserer Verspätung seit Tscheljabinsk, von der bisher nur zehn Stunden eingeholt sind, den Anschluss an den Expresszug finden werden, der die Fahrt jenseits des Baikalsees fortsetzt. Der Oberkondukteur fragt bei der dortigen Station Myssowaja telefonisch an und erhält die Antwort, dass wir mit Ungeduld erwartet werden.

Das Ufer der Angara auf dem Wege zum Baikalsee.
Am Angarafluss.

Sehr hübsch wirkt der Anblick von Irkutsk, wo die Stunde Aufenthalt uns die Möglichkeit gewährt, zu Fuß oder mit einem Wagen die Anlage der Stadt wenigstens in allgemeinen Umrissen kennen zu lernen. Sie liegt wie auf einem großen, uns zugeneigten Teller da, so dass man schon aus dem Coupé ihre ganze Anlage und die Verteilung der Hauptgebäude erkennen kann. Sie werden alle überragt von den fünf Kuppeln und dem freistehenden Glockenturm der Kasanschen Kathedrale, in der Mitte eines großen Platzes.

Die Bahnhofsanlage liegt in einer Senkung, und eine lange, hölzerne Brücke, von der man den lebhaften Verkehr mit den ein- und auslaufenden Zügen beobachten kann, führt über die schnell fließende Angara hinweg zur Stadt. Sie besitzt ein sehr inhaltreiches Museum der kaiserlich geographischen Gesellschaft, das für die Archäologie Ostsibiriens von großer Bedeutung ist und dem auch aus der Flora Chinas wichtige Zuwendungen gemacht worden sind. Das Theater, das im Jahre 1897 vollendet wurde, ist ein überraschend schöner und gelungener Bau, und am Ufer der Angara befindet sich das Haus des Generalgouverneurs.

Drei Stunden fahren wir dann noch am Ufer der Angara einher, bis wir den Baikalsee erreichen, der wegen seiner Lage und Landschaft sowie seiner originellen Verkehrseinrichtungen ein selbständiges Glied im Rahmen der sibirischen Bahn bildet und infolgedessen eine besondere Betrachtung verlangt.

Dass Eisenbahnfahrten von so langer Dauer wiederholt auch außerhalb der Stationen unterbrochen werden, darf niemanden wundernehmen. Die Ursachen hierzu waren verschiedener Natur. Einmal hielten wir, nachdem wir uns eben in Bewegung gesetzt hatten, infolge des Geschreis und der lebhaften Gestikulation eines Bahnbeamten wieder an, der auf eine bestimmte Stelle unseres Zuges hindeutete.

Als sie näher untersucht wurde, ergab es sich, dass ein Bauer unter dem Waggon auf einem eisernen Schutzbrett zwischen den Rädern Platz genommen hatte, um die Reise in dieser gefährlichen Lage als blinder Passagier mitzumachen. Er wurde mit einigen derben Schimpfworten davongejagt, und wir konnten die Reise fortsetzen.

Sehr drollig machte es sich ein anderes Mal, als der Lokomotivführer die Maschine zurückdrehen musste, weil ein Bahnwärter sich mit seiner roten Fahne auf die Schienen gesetzt hatte und, da ihm die Zeit vermutlich zu lang wurde, eingeschlafen war. Ein Stock, der auf seinem Rücken und weiter hinunter geschwungen wurde, brächte ihn wieder zum Bewusstsein seiner Pflicht. Mehrere von den sibirischen Hunden, die auf den Stationen nach Abfällen aus dem Speisewagen suchten, wurden von den Rädern gepackt und sofort getötet.

Eines abends wurden wir durch einen heftigen Ruck erschreckt und fürchteten, dass einer unserer Passagiere aus dem Zuge gestürzt sei. Die Möglichkeit eines solchen Unfalls war in keiner Weise ausgeschlossen, da die Coupétüren sowohl von den Schaffnern wie von den Passagieren oft lange Strecken offengelassen wurden, was für das Einströmen frischer Luft ebenso zweckmäßig, wie bei dem Verkehr innerhalb der Züge, in dem sich auch Kinder aufhielten, höchst bedenklich war. In Wahrheit hatte sich aber nur ein Schaf auf das Geleis verirrt und den Ruck hervorgerufen. Ähnliche Störungen, unter denen wir aber nicht zu leiden hatten, sollen durch die Rinderherden hervorgerufen werden, die wir in Gruppen von oft fünf- bis sechshundert Stück neben dem Gleis erblickten.

Überraschend war der Blumenreichtum, den man während der Fahrt beobachten konnte. Wir sahen zu beiden Seiten der Bahn eine Fülle von blauen und gelben Primeln, sowie zahllose Glockenblumen sprießen, die in mannigfaltiger Zusammenstellung als liebliche Augenweide wirkten. Große Büschel wurden davon, während der Zug auf den Stationen hielt, auf den Feldern gepflückt und schmückten unseren Tisch im Speisewagen bei jeder Mahlzeit.

Die eigentlich charakteristische Blume, die alle anderen an Schönheit und Größe übertraf, und die während des größten Teils der Fahrt unsere treue Begleiterin blieb, gehörte der Gattung der Steinbreche an, mit dem botanischen Namen Saxifraga crassifolia. Sie bildet eine der beliebtesten Zierpflanzen Sibiriens und trat in unabsehbaren Beeten schon am Ural zutage, um uns dann bis jenseits des Baikalsees und sogar in die Mandschurei hinein nicht wieder zu verlassen. Diese Blume hat einen hohen, fleischigen, rötlichen Schaft, ihre Blätter sind breit und eiförmig, ihre Blüten von auffallender, dunkelrosa-roter Farbe. Sie setzen sich derartig an dem Stengel an, dass sie in ihren Abstufungen und Verkleinerungen dem Bau einer chinesischen Pagode nicht unähnlich sehen. Die Russen nennen sie „Honigtau“ (Medjanka), trocknen ihre Blumen und machen daraus eine billige Sorte Tee.

Es war ein reizendes Bild, diese Steinbreche überall, auf Wiesen und Anhöhen, in Gräben und Schluchten zu beobachten, wie sie die zarten, rosig schimmernden Köpfchen aus dem Gras und Gestrüpp hervorstreckten und uns freundlich zuzunicken schienen, wenn der Wind darüber hinwegwehte. Wir hatten uns an dieses farbige Leben so sehr gewöhnt, dass wir die Blumen ungern entbehrten, wenn sie auf kürzeren Strecken zu verschwinden schienen.

Aber sie kehrten immer wieder und hörten erst in der Mitte der Mandschurei auf, nachdem sie von ihrer frischen Farbe zuletzt viel verloren hatten und ins Bräunliche hinüberspielten.

Eigentümlich berührten die vielen Waldbrände, die wir in den sibirischen Sommernächten beobachten konnten. Unsagbar schön wirkte der klare Sternenhimmel, den wir nach allen Seiten bis zum Horizont verfolgen durften. Mit einer Schärfe und Deutlichkeit, wie sie dem Stadtmenschen sonst selten zum Bewusstsein kommt, traten die Gruppen der himmlischen Gestirne wie Fackeln aus dem dunkeln Firmament hervor, und Freund Jupiter hatte seine Lampe so wirkungsvoll herausgehängt, dass man danach hätte greifen mögen.

Schweigsam und geheimnisvoll zogen weite Waldgebiete an uns vorüber, als lange, schwarze Streifen. Plötzlich brach zwischen den Bäumen ein Schein hervor, der immer stärker aufleuchtete und aus dem eine dichte Rauchwolke emporwirbelte. Das Element griff schnell um sich. Man konnte erkennen, wie die Flammen von einem Baum zum andern hinübersprangen, bis sie endlich ein ganzes Waldgebiet in wild aufschlagende Lohe verwandelt hatten.

Die Ursachen dieser Waldbrände sind sehr verschieden. Zum Teil werden sie durch die Funken hervorgerufen, die aus den mit Holz geheizten Lokomotiven in weitem Umkreis geschleudert und vom Wind oft weit fortgetragen werden. Zum anderen Teil sind sie die Folge der Trockenheit, die in vielen Gegenden herrscht, wenn die Sonne Wald und Wiesen ausgedörrt hat.

Oft wird aber auch das Gestrüpp mit den Stümpfen ausgestorbener Bäume angesteckt, wenn man den Boden für die Landwirtschaft bearbeiten will. Von anderer Seite wurde sogar mit Bestimmtheit behauptet, dass in einzelnen Gegenden die Jäger ganze Strecken im Wald einfach selbst anzünden, damit durch den Brand das Wild hervorgescheucht werde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China