Von Moskau nach Tscheljabinsk

Wir haben den sibirischen Eisenbahnzug zunächst nicht nach den einzelnen Strecken, sondern in seinen beiden, vorläufig noch getrennten Teilen von Moskau bis zum Baikalsee, und vom Baikalsee bis nach Dalny als Ganzes zu schildern versucht. Wir betonten dabei, dass eine Reise von so riesiger Ausdehnung etwas ganz Anderes bedeute als bei uns. Man wird sich bei dem Gedanken an eine so lange Fahrt im ersten Augenblick vielleicht etwas unbehaglich fühlen und sich einen rollenden Kerker vorstellen, in dem man der persönlichen Freiheit beraubt ist. Jedenfalls ist es aber ein „fideles Gefängnis“. Die innere Einrichtung lässt nichts zu wünschen übrig, und die Gefälligkeit des Aufsehers und seiner Gehilfen macht die Fahrt durchaus erträglich.

Man sucht sich einzuleben, betrachtet seine Mitreisenden mit neugierigen oder misstrauischen Blicken und stellt Dutzende von Fragen an den Kondukteur, der die Bettklappe herunterlässt und das nächtliche Lager mit frischen Bezügen zurechtmacht. Auf dem Gange vernimmt man eine mehrsprachige Unterhaltung, öffnet die Coupétür und lugt nach den fremden Gesichtern aus. Man erfährt, dass eine Gruppe von Passagieren eine Reise um die Welt unternommen habe.


Man sieht, wenn der Zug sich Sonnabends spät abends in Moskau in Bewegung setzt, im Geiste bereits das Ende der sibirischen Bahn und denkt an China und Japan, zu denen von ihrer letzten Station eine verhältnismäßig kurze Strecke führt. Drei Tage Fahrt auf der Eisenbahn oder zu Schiff mehr oder weniger spielen überhaupt keine Rolle. Es handelt sich ja um den größten Kontinent der Erde, den man in einer Fahrt durchqueren soll. Dann denkt man wieder an das Zunächstliegende, an die europäische Reise bis zum Ural. Wenn der sibirische Zug auch bereits in Moskau seinen Anfang nimmt, erwartet man das Seltsame und Überraschende doch erst nach dem Überschreiten dieses Gebirges.

Indessen gibt es auch bis dahin genug zu sehen. Man verschläft Tula, die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements, aus der die bekannten Stahl- und Eisenwaren hervorgehen, und gelangt am Sonntag früh nach der Kreisstadt Rjashsk, die einen Kreuzungspunkt für die Bahnen nach Rjasan und Koslow bildet. Beim ersten Frühstück kommt man sich im Speisewagen schon etwas näher.

Die Gegend hinterlässt einen sehr behaglichen Eindruck. Wogende Getreidefelder umgeben uns, und dazwischen liegen große Dörfer, die in ihrer Bauart an das Leben in Südrussland erinnern. Vor allem steht auch die Pferdezucht in dieser Gegend auf anerkannter Höhe. Hinter Morschansk, wo die Bahn auf einer eisernen Gitterbrücke über die Zna eilt, entfaltet sich dasselbe Bild der Fruchtbarkeit im Wechsel von Feldern, auf denen das Korn bereits in voller Reife steht, und anmutig sich hinziehenden niedrigen Hügelketten.

Leider macht uns die Julihitze viel zu schaffen. An diesem Sonntag steigt unser Thermometer mittags bereits auf fünfundzwanzig Grad Reaumur. Wir wollen etwas lesen und schreiben, aber es ist unmöglich, denn alsbald fallen uns die Augen zu und die Hände in den Schoß. Erst der Abend bringt ein wenig Kühle, wenn wir nach der ansehnlichen Stadt Pensa kommen, wo dem Dichter Lermontow, der den Kaukasus in so genialen Schöpfungen verherrlicht hat, in dem schattigen Square neben der Kathedrale ein bronzenes Standbild errichtet ist. Nun heißt es aber aufpassen, um die schönen Partien an der Wolga nicht zu verschlafen. Zu diesem Zweck lassen wir uns in der Nacht von Sonntag zu Montag bereits um zwei Uhr des Morgens wecken. Unter dem leicht bewölkten Himmel ziehen bei einer silbergrauen Beleuchtung, die unserer erwartungsvollen Stimmung entspricht, mehrere kleinere Stationen, an denen wir nicht halten, vorbei. Schon gehen die Bauern mit Spaten und Hacke zu ihren Feldarbeiten aus. Ab und zu trabt ein Pferdchen in der Deichsel an uns vorbei. Überall erwacht die Natur zu frischem Leben, regen sich die Menschen zu erneuter Tätigkeit.

Unser Zug ist bereits an der Grenze des Gouvernements Ssimbirsk angelangt und rollt am linken Ufer des Flusses Ssysran einher. Er erreicht die Kreisstadt gleichen Namens und kommt dann in die Nähe des rechten Wolgaufers. Der heilige Strom der Russen, der das Reich in seiner ganzen Ausdehnung durchstießt, der in der Geschichte und Sage des Landes eine so große Rolle spielt und in Dichtungen und Liedern so vielfach verherrlicht wird, liegt als spiegelglatte Fläche vor uns. Wir schauen auf ihn aus den Fenstern unseres Zuges tief herab, der an dieser Stelle ganz langsam fährt. Die Ufer, auf denen das Geleise gelegt ist, sind hoch und fallen steil zum Fluss hinab. Sie bestehen außerdem nur aus lockerer Erde, so dass stärkere Erschütterungen die Massen leicht herabrutschen lassen könnten. Der Laie hat das Gefühl, dass an dieser Stelle eine Untermauerung der Ufer unumgänglich geboten ist, um bei Überschwemmungen und Regengüssen schweres Unglück zu verhüten. Die außerordentliche Steigerung des Verkehrs, die sich in jüngster Zeit auf dieser Strecke bemerkbar machte, hat die Gefahr noch wesentlich vermehrt, und die russische Behörde sollte den Passagieren das beruhigende Gefühl verschaffen, dass für ihre Sicherheit alle nötigen Vorsichtsmaßregeln getroffen sind.

Auf den Fluten des mächtigen Flusses erblicken wir schwer arbeitende Schleppdampfer, die Holzflöße von solcher Länge stromaufwärts ziehen, dass man sie für schmale Inseln halten könnte. Damit man die Ausdehnung dieser Flöße schon von weitem erkennen kann, sind zur Vermeidung von Zusammenstößen mit anderen Fahrzeugen am Ende ein paar flatternde Fähnchen angebracht. An einer Anlegestelle bemerken wir zwei jener großen Wolgadampfer, die nach dem Muster der amerikanischen Mississippidampfer in drei Etagen wie ein richtiges Haus übereinander gebaut sind und den Passagieren in den Kajüten und Speisesälen alle nur wünschenswerten Annehmlichkeiten bieten. Sie fahren von Twer die ganze Strecke bis hinunter nach Astrachan, wo sich das Wolgadelta zum Kaspischen Meer bildet. Am Ufer sind große Bassins für Petroleum und Naphtha aufgestellt, mit dem in Südrussland sowohl die Lokomotiven wie die Dampfschiffe geheizt werden. Auch bei unseren Maschinen bediente man sich längere Zeit dieses Materials. Es hat nur den Übelstand, dass es einen nicht angenehmen, brenzligen Geruch verbreitet, der beim Öffnen und Schließen der Tür in den Speisewagen dringt.

Nach einer halben Stunde erreichten wir die Station Batraki, während der Sonnenball sich herrlich über den Horizont erhob. Dann lag, während wir noch immer am Ufer blieben, etwa zwei Kilometer entfernt die Alexanderbrücke in ihrer ganzen Länge vor uns da. Sie wurde 1880 vollendet und zieht sich mit ihren dreizehn Öffnungen in einer Ausdehnung von Vierzehnhundert Meter über die Wolga. Sie bietet dabei mit ihren steinernen Pfeilern und den eisernen Querlagen, aus denen sie sich zusammensetzt, einen imponierenden Eindruck. Dann macht der Zug, indem er sich vom Ufer etwas entfernt, einen Bogen und rollt nun langsam über die Brücke zwischen den gegossenen, gehämmerten und vernieteten, kunstvoll miteinander verbundenen Platten und Stäben hindurch. Sechs Minuten lang dauert diese Fahrt auf der Brücke, von der wir zu beiden Seiten die Ufer der Wolga erblicken, die tief zu unsern Füßen einherrollt. Auf der einen Seite steigen die Hügel sanft auf und nieder, während die Ufer sich auf der andern flach hinziehen.

Ein paar Stunden Schlaf und dann wieder hinaus auf die Plattform des Zuges, wo uns Ssamara mit der 1894 vollendeten, weithin sichtbaren Alexander Newski-Kathedrale begrüßt. Auf den Höhen, welche die Stadt umgeben, sind die Kumyß-Anstalten angelegt für die Aufnahme von schwächlichen, blutarmen, oder gar zu Schwindsucht neigenden Patienten, deren Kräfte sich beim Genuss des aus Stutenmilch zubereiteten Getränkes oft in überraschend kurzer Zeit heben.

Abends um halb neun Uhr kommen wir nach Ufa, einer Stadt, die Ende des sechzehnten Jahrhunderts zur Unterwerfung der Baschkiren gegründet wurde und die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements bildet. Unser elektrisch beleuchteter, prächtig eingerichteter Zug fährt in die dunkle Halle ein, wo sich eine kaum zu unterscheidende Menge von Bauern in zerlumpten Kleidern und zweifelhaften Existenzen verschiedenster Gattung eingefunden hat. Man muss sich beim Aussteigen in acht nehmen, um nicht über einen der vielen Gegenstände zu stolpern, die auf dem Perron umherliegen, oder sich an einem Laternenpfahl zu stoßen.

In einer Ecke vernehmen wir lautes Schwatzen in russischer, französischer und deutscher Sprache und übermütiges Gelächter. Eine Truppe von dreißig Chansonettensängerinnen wird hier unter der Anführung einer höchst verdächtigen, alten dicken Dame befördert, um die Reise nach der Mandschurei anzutreten. In Charbin, wo die sibirische Bahn einen Strang nach Wladiwostok und einen anderen nach Port Arthur entsendet, sollen diese Schönen ihre Künste zeigen und später auf einem Schiff nach Amerika „verstaut“ werden. Sie bekommen täglich fünfzig Kopeken Gehalt, was gerade für die Strümpfe ausreichen dürfte. Alles Übrige müssen sie sich selbst verdienen.

Ufa.
Kleine Station. Sibirien.

In Ufa wurde bekanntlich vor kurzem der Gouverneur, als er sich allein im Stadtpark erging, meuchel-mörderisch erschossen. Vielleicht befindet sich der Mörder, den man noch nicht gefasst hat, in dieser unheimlich lauernden und beobachtenden Menschenmenge, die sich an unsern Zug heranzudrängen versucht. Die Kondukteure tun das ihrige, um die Lästigen zurückzuweisen, aber es fällt schwer, jeden einzelnen im Auge zu behalten, der nur zu leicht im Dunkeln auf den Zug hinaufklettern, die Gänge absuchen und auf der anderen Seite im Dunkeln wieder verschwinden kann. Wir lassen daher unsere Coupés schließen und betrachten das Schauspiel aus angemessener Entfernung, bis das dritte Zeichen zur Abfahrt ertönt.

Am Dienstag erreichen wir das bewaldete Hügelland des Ural. Eine Reihe landschaftlich fesselnder Bilder zieht an uns vorüber mit weiten Weideplätzen, auf denen ab und zu kleinere Ansiedlungen sichtbar werden. Der Horizont erweitert sich und wird begrenzt von vier bis fünf verschiedenen Bergrücken, die sich in mannigfaltiger Färbung und Beleuchtung hintereinander aufbauen. Dann verengt sich die Straße, durch die wir fahren. Die Granitfelsen rücken an den Bahnkörper unmittelbar heran und lassen kahle, steile, graue Wände zu beiden Seiten aufragen.

Besonders hübsch macht sich die Lage der Kreisstadt Slatoust im Gouvernement Ufa, wo sich seit 1811 eine von deutschen Meistern aus Solingen, Remscheid und Klingenthal angelegte staatliche Fabrik zur Herstellung kalter Massen befindet. Auf dem Bahnhof werden in einer Bude Dolche, Messer, Spazierstöcke, Briefbeschwerer und gröbere Arbeiten aus Gusseisen in guter Ausführung und zu billigen Preisen feilgehalten.

Zehn Werst weiter, hinter Urshumka, erblicken wir zur rechten Hand auf einem Hügel einen Obelisken von Granit, der in russischer Schrift auf der einen Seite den Namen „Europa“, auf der anderen „Asien“ trägt. Wir sind auf dem höchsten Punkte der Strecke von Ssamara nach Tscheljabinsk angelangt. Unser Zug rollt ohne Pause über die Grenze der beiden Kontinente hinweg, aber wir fühlen in unserer Phantasie etwas Unaussprechliches, die Ahnung einer anderen, unermesslichen Welt, die sich vor uns auftut, die Nähe des gewaltigen Ländergebietes, wo sich die Menschheit wahrscheinlich zuerst dem Zustand tierischer Rohheit entrissen hat.

Mehrere Seen öffnen sich vor unseren Augen. Der größte von ihnen ist der Ilmenskij-See, in dessen Nähe sich Goldgruben befinden. Dann folgt nach mehreren Stunden eine Station, die nicht nur für die Auswanderer von Wichtigkeit ist, sondern auch für uns eine besondere Bedeutung bekommen sollte.

Tscheljabinsk wird als Ausgangspunkt der sibirischen Bahn betrachtet, obwohl die Züge, die von hier in östlicher Richtung abgehen, zunächst das Gouvernement Orenburg kreuzen und damit in geographischem Sinne wieder europäisches Gebiet berühren. Aber den Eindruck, den man von dem Leben auf der Station und in der vier Werst entfernt liegenden Stadt empfängt, trägt ein ganz asiatisches Gepräge. Etwa zwanzig Gleise liegen nebeneinander, und unaufhörlich ächzen und pfeifen die Lokomotiven, welche die Waggons unter lautem Rasseln hin- und herschieben.

Während unser sibirischer Zug langsam in die Station fährt, verwickelt sich die Menge der Zuschauer zu einem dichten Knäuel, in dem sich einzelnes schwer unterscheiden lässt und nur die rote Mütze des Bahnhofsvorstehers als ruhender Punkt in der Erscheinungen Flucht zu erkennen ist. Tataren, Baschkiren und Sarten erscheinen in zerlumpten Kleidern vor uns. Russische Bauern tragen ihre geringen Habseligkeiten in einem Bündel unter dem Arm. Bettler und Kranke drängen sich an die Passagiere, während die Türen der Coupés geöffnet werden.

Wir sollen fünfzig Minuten Aufenthalt haben, Zeit genug, um das Leben, das sich auf diesem Punkt an der Grenze von Europa und Asien abspielt, genau beobachten zu können. Hier macht alles Halt, was in dem Neuland jenseits des Urals sein Glück versuchen will oder mit zertrümmerten Hoffnungen von dort wieder zurückkehrt.

In dem Wagenpark, der auf den Gleisen aufgestellt ist, unterscheidet man Coupés für den Transport von Gefangenen, die hinter vergitterten Fenstern und Türen sitzen und von Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr bewacht werden, sowie vollständig eingerichtete Sanitätswagen. Ein unangenehmer Apothekengeruch entströmt ihnen. Man findet hier auch einen Wagen, der in eine regelrechte russische Kirche umgewandelt ist, um den Gläubigen sogar während der langen Reise den Ausdruck ihrer religiösen Empfindungen zu ermöglichen. Ein Gotteshaus in einem Eisenbahnzug, mit einem Altar, Muttergottesbild und brennenden Kerzen, mit Männern und Frauen, die sich unaufhörlich verneigen und bekreuzigen, bildet in jedem Fall eine der originellsten Errungenschaften des modernen Verkehrslebens.

Wir überlegen, wie wir die lange Zeit auf der Station möglichst nützlich anwenden können. Zeitungen gibt es überhaupt nicht, und von der Welt und ihrem Lauf sind wir hier völlig abgeschnitten. Dafür hat sich der Handel mit Postkarten auch im Ural eine Filiale zu verschaffen gewusst. Wir kaufen ein paar Dutzend davon, die von den Bergen, Feldern und Seen nur eine mäßige Vorstellung geben, und senden sie in die Heimat ab. Aber der Aufenthalt im Wartesaal ist unerträglich, denn überall sitzen und lagern in den unglaublichsten Stellungen an den Tischen und auf der Erde Auswanderer mit Kisten, Paketen, Traglasten. Die Atmosphäre ist von einem unerträglichen Geruch erfüllt, und wir eilen ins Freie.

Da meldet uns der Stationsvorsteher, dass neun Werst vor uns sich ein Eisenbahnunglück ereignet habe. Ein Güterzug, der aus der Stadt Kurgan einen großen Buttertransport nach Russland schaffen sollte, sei entgleist. Einer von den beiden Lokomotiven sei der Kessel geplatzt. Sie habe beim Umstürzen die andere mit sich gerissen, so dass sie nun beide neben dem Fahrdamm liegen. Zwölf Wagen seien völlig zertrümmert und, was das Traurigste dabei, neun Menschen, Zugführer, Kondukteure und Bauern, getötet worden. Drei Stunden sei die mindeste Zeit, die wir in Tscheljabinsk zubringen würden.

Wir suchen sie in der Stadt, die eine halbe Meile von der Station liegt, auf irgendwelche Weise totzuschlagen. Auf ungepflasterten, schmutzigen Straßen fährt uns der Kutscher durch ein Birkenwäldchen nach der Stadt, wo es außer einem Volkstheater in antikisierendem Stil nur wenig zu sehen gibt.

Dergleichen Bühnen findet man gegenwärtig in vielen größeren Städten Russlands. Sie verfolgen den Zweck, das einfache Volk von Völlereien und vor allem von dem verderblichen Schnapsgenuss fern zu halten, ihm eine harmlose Zerstreuung zu gewähren und, wenn auch zunächst mit bescheidenen Mitteln, es an künstlerische Genüsse heranzuziehen. Statt des Alkohols, der ganze Generationen verwüstet und das Volk körperlich und sittlich zugrunde richtet, fließt hier der wohlschmeckende, duftende, Leib und Seele erwärmende Tee in Strömen. In Petersburg lernte ich in dem „Narodnij Dom“ (Volkshaus) ein Unternehmen dieser Art im größten Stil kennen, und es scheint, dass dieses Vorbild auf ganz Russland einen wohltätigen Einfluss ausgeübt hat.

Wir unternehmen eine Rundfahrt durch die ungepflasterten Straßen der Stadt und machen einem Geschäft, in dessen Schaufenstern wir die beliebten bunten Uralsteine finden, einen Besuch. Die Verkäuferin zeigt uns allerlei wertlose Fassungen, während wir die einfachen Steine besitzen wollten, um sie zu Hause künstlerisch formen zu lassen. Die Verkäuferin scheint dergleichen Sachen nicht zu führen, und schon fassen wir den Türgriff, um uns wieder zu entfernen. Da bringt sie einen ganzen Kasten mit den gewünschten Sachen in allen nur denkbaren Farben und Formen herbei, die in der Tat niedlich aussehen, sehr billig sind und infolgedessen reißenden Absatz finden. Der Kutscher macht uns auf ein Restaurant aufmerksam, in dem wir uns erfrischen können. Wir betreten eine Holzbude und werden vom Kellner durch eine Reihe von Zimmern geführt, die einen entsetzlich muffigen Geruch ausströmen. Schließlich gelangen wir zu einem Büfett mit einer Auswahl halb verfaulter Delikatessen als hors d'oeuvre. Wir machen schleunigst Kehrt und fahren wieder zur Station zurück, um den Zug nicht zu versäumen, der nach unserer Meinung bald weiterfahren muss. Von dem Oberkondukteur erfahren wir jedoch, dass die Aufräumungsarbeiten an der Unglücksstätte erst gegen Abend beendet sein können. Die Sache wird immer unheimlicher. Um unsere Angehörigen und Freunde zu beruhigen, setzen wir Telegramme auf, in denen wir mitteilen, dass unser Luxuszug von der Katastrophe unberührt geblieben ist. Aber die Telegraphistin macht in ihrem Bureau ein verdutztes Gesicht, als sie auf der Adresse den Namen „Charlottenburg“ liest. Ich erkläre ihr, dass es sich um Charlottenburg bei Berlin handelt. Das sei ihr nicht unbekannt, erwidert sie, aber auf der Station würden keine Depeschen nach dem Ausland befördert. Wo also denn? Im Telegraphenamt, das sich in der Stadt befindet. Ich habe keine Lust, den Weg auf den holprigen Straßen nochmals zurückzulegen, und ersuche einen mir unbekannten Herrn, der mir seine Dienste anbietet, das Telegramm für mich zu besorgen.

Tscheljabinsk ist durch den Bau der sibirischen Bahn, deren Eingangstor die Stadt bildet, zu neuem Leben erweckt worden und zählt gegenwärtig zwanzigtausend Einwohner. Aus einem unbedeutenden Ort ist sie zu einem wichtigen Mittelpunkt des Verkehrs zwischen Europa und Asien geworden. In den Schuppen stehen oft Tausende von Güter- und Personenwagen. Die russischen Kolonisten müssen hier Halt machen, um sich der Prüfung ihrer Pässe zu unterwerfen und Anweisungen auf den Erwerb von Ländereien zu empfangen. In den Schuppen finden wir Küchen, Baderäume, Krankenstuben sowie lange Tische und Bänke für das Einnehmen der Mahlzeiten. Hier herrscht ein beständiges Kommen und Gehen, Fragen und Antworten, eine Mischung von Geduld und Verzweiflung bei den Bauern, die mit ihren Frauen und Kindern, ihren zusammengeballten Habseligkeiten sich im fernen, fremden Lande ein neues Heim gründen wollen.

Wir liegen auch am Abend mit unserem Zuge fest und erfahren nichts Bestimmtes, wann wir endlich erlöst werden dürften. Der Postzug setzt sich in der Richtung, die für uns versperrt ist, in Bewegung und erreicht die Unglücksstätte. Dort steigen die Passagiere um und bedienen sich anderer Wagen, die von der entgegengesetzten Seite von der nächsten Station herangeschoben werden. Bei unserm Luxuszuge ist dies Verfahren aber nicht durchzuführen, da sich so schnell keine Ersatzwagen beschaffen lassen. Wir müssen uns also in Geduld fassen und warten.

Auch unsere Dämchen, die wir in Ufa verloren hatten, finden sich in Tscheljabinsk wieder ein, trippeln mit hochgezogenen Röcken unter ausgespannten Regenschirmen durch den aufgeweichten Boden und begeben sich in den Wartesaal. Ein paar von ihnen besehen sich unsern Zug und werden von Mitreisenden, die für billige Reize empfänglich sind, zu einer Flasche Sekt eingeladen. Alsbald hört man ausgelassenes Lachen und helles Gläserklingen. Die Bauern recken die Hälse und betrachten staunend, was im Innern des Zuges vorgeht. Aus dem Tage ist die Nacht geworden, ohne dass wir uns in Bewegung gesetzt haben. Auch am nächsten Morgen, Mittwoch, liegen wir noch fest. Die Katastrophe muss allerdings sehr ernst gewesen sein, wenn man mit der Beseitigung ihrer Spuren so lange zu tun hat.

Unser Gespräch dreht sich natürlich mit Vorliebe um das Vorgefallene. Wir waren geneigt, darin eine üble Vorbedeutung für die Fortsetzung unserer Reise zu erblicken. Unsere Stimmung wurde auch dadurch in keiner Weise gehoben, dass drei Unterbeamte, die mit dem verunglückten Güterzuge gereist waren, sich bei uns einfanden und von den verrenkten Armen und Beinen erzählten, mit denen sie glücklicherweise davongekommen waren. Eine wahrhaft klassische Ruhe bewahrte von uns eigentlich nur eine Exzellenz aus dem russischen Finanzministerium, ein Deutsch-Russe, der bis nach Irkutsk reisen wollte, um dann eine verwickelte Expedition, zuerst zu Wagen, dann zu Ross und endlich auf dem Schiff nach der Lena anzutreten. Er hatte von seiner Behörde den Auftrag erhalten, bei den Unternehmern, die an den Ufern dieses Flusses Goldwäschereien unterhalten, die Steuerschraube schärfer als bisher anzuziehen. Unsere Exzellenz meinte, wir könnten doch froh sein, dass nicht wir, sondern andere von dem Unglück betroffen wurden. Er äußerte ferner, dass bei solchen Gelegenheiten getötet zu werden, nicht so schlimm wäre, als mit zerbrochenen und traurig zusammengeflickten Gliedern weiter durchs Leben humpeln zu müssen. Ein schöner Trost, der uns nicht gerade erheiterte.

Vierundzwanzig Stunden sind bereits vergangen, und noch immer wissen wir nicht, wann es weitergehen soll. Ich sitze in meinem Coupé, das mir niemand streitig machen darf, hinter dem Vorhang, der das allzu grelle Sonnenlicht mildert, am Fenster und vertraue die Eindrücke dieser bewegten Stunden meinem Tagebuch an. Ich höre beständig das Pfeifen der Lokomotiven, das Rollen der Eisenbahnwagen, das Gewirr von hundert Stimmen in verschiedenen Sprachen. Auf das Trittbrett des Zuges hat sich ein kleiner Junge hinaufgeschwungen und bettelt um eine Gabe. Ich gebe ihm fünf Kopeken, um Ruhe zu haben. Natürlich erreiche ich dadurch aber nur das Gegenteil, denn in wenigen Minuten kommt ein zweiter und dritter Bettler, so dass es mit dem Arbeiten nichts wird. Nun ist ein voller Tag auf der Station verloren gegangen. Endlich, Mittwochmittag, setzt sich unser sibirischer Zug wieder in Bewegung.

Selbst nachdem die Aufräumungsarbeiten so lange gedauert hatten, bekamen wir beim Vorbeifahren noch ein grauenvolles Bild der Zerstörung zu sehen. Die zweite Lokomotive hatte sich, als die Explosion erfolgte, wie ein wild gewordenes Ungetüm aus der Urwelt unter dem gewaltigen Druck der Wasserdämpfe mit dem geplatzten Kessel aufgebäumt, war auf den Tender der ersten Maschine gesprungen, hatte jenen von ihr abgerissen und war mit ihm den etwa acht Fuß hohen Fahrdamm hinabgestürzt. In demselben Augenblick war aber auch die erste Lokomotive aus dem Gleise gestoßen und auf die andere Seite des Dammes hinabgeschleudert worden. Die Waggons lagen mit eingedrückten Seitenwänden und abgebrochenen Rädern neben- und übereinander als riesiger Haufen von eisernen Stäben, Platten und Stufen. Die Schienen waren aus dem Unterbau gerissen und wie Draht verbogen. Die unmittelbare Nähe der großen Auswandererstation ermöglichte es in kurzer Zeit, mehrere hundert Arbeiter nach der Unglücksstätte zu befördern. Im Wald und auf freiem Feld war ein ganzes Lager für die Arbeiter errichtet worden, die Zelte aufgeschlagen hatten und mit Pferden und Wagen herbeigeeilt waren, um den Verunglückten zu helfen und die Spuren der Katastrophe zu beseitigen.

Unser Zug schlich vorsichtig über die Stelle hinweg, wo noch alles an die traurige Begebenheit des vorausgegangenen Tages erinnerte. Zur Beruhigung konnte uns allerdings der Umstand dienen, dass es sich hierbei nicht um einen Mangel bei der Ausführung der Bahn, sondern um die unglaubliche Leichtfertigkeit eines wahrscheinlich angesäuselten Lokomotivführers handelte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China