Nach Petersburg

In meiner Vaterstadt Königsberg i. Pr. verlebte ich nach der Abfahrt von der Station Zoologischer Garten in Berlin zunächst einen Sonntag im Kreise meiner Geschwister und lieben Verwandten. Alles, was Russland und die Entwicklung des Zarenreichs betrifft, findet in der alten ostpreußischen Krönungsstadt naturgemäß ein lebhaftes Echo, denn dort ist ein starkes Bollwerk des Deutschtums gegen den Osten, eine feste Burg vaterländischer Gesinnung und Kultur geschaffen. Gerade die Nähe der russischen Grenze bewirkt es, dass im Schatten des ehrwürdigen Schlosses das Nationalitätsgefühl lebhaft pulsiert und eifrig bedacht ist, das von den Vätern Ererbte rein zu erhalten. Damit hängt es aber auch zusammen, dass man in Königsberg bemüht ist, das östliche Nachbarreich nicht, wie es wohl sonst geschieht, mit billigen Redensarten abzuurteilen, sondern es aus der Eigenart des Landes und seiner Bevölkerung, seiner Geschichte und Charakteranlage wirklich zu verstehen. In dem schönen Tiergarten auf den Hufen, dieser wahrhaft großstädtischen Anlage, deren Einrichtungen als musterhaft bezeichnet werden müssen, verlebte ich eine Reihe glücklicher Stunden und wurde von allen Seiten beglückwünscht zu der großen Reise, die ich vorhatte. Aus der Schule hatte uns einmal unser Direktor, der ausgezeichnete Shakespeareforscher Alexander Schmidt, das Thema aufgegeben, ob überhaupt und wieweit die Begründung eines zoologischen Gartens in Königsberg möglich sei. Wir vereinigten uns damals in der Meinung, dass die Sache ungemein schwierig sei und dass wir uns in jedem Fall nur auf wenige Tierarten beschränken müssten, die es in dem nordischen Klima aushalten können.

Und nun ging ich in den prächtigen Anlagen des Parks auf den Hafen, wo ich so oft als Kind in der von wildem Gestrüpp durchwachsenen Schlucht gespielt hatte, wie in einem Wunderreich spazieren. Die Löwen schüttelten brüllend ihre Mähnen, und die Elefanten streckten neugierig ihre langen Rüssel aus, während sich der Reichtum an Tieren aus allen Zonen jedes Jahr vermehrt hatte. Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle, dies Wort unseres Altmeisters Goethe fiel mir dabei immer wieder ein. Menschliche Intelligenz ist unabhängig von den Gefahren des Klimas und den Schrecknissen der Natur. Ihr Wirkungskreis ist unbegrenzt und zaubert frisches Leben auch aus anscheinend totem Boden. Das sollte ich vor allem in Sibirien erfahren, und der Anblick ostpreußischer Tüchtigkeit bildete dafür eine gute Vorbereitung.


Das größte Interesse für die Ausführung meines Reiseplanes zeigten natürlich die Königsberger Offiziere, die über die sibirische Bahn viel gehört und gelesen hatten, ohne mit dem Riesenunternehmen im Einzelnen eine bestimmte Vorstellung zu verbinden. Hierzu kam, dass die Einrichtungen auf dem Schienenweg durch Asien sich beständig veränderten. In Deutschland würden sich zunächst Parlament und Presse lange und geräuschvoll mit der Ausführung einer Idee von dieser Tragweite beschäftigt haben. Alle Welt sieht die Dinge bei uns zunächst aus dem Papier, bevor sie in Wirklichkeit dastehen. In Russland werden dergleichen Vorbereitungen ebenso eifrig, aber ganz im Stillen getroffen. Außer den Persönlichkeiten, die dazu berufen werden, hat niemand in der Öffentlichkeit dabei mitzureden und daran eine freie Kritik zu üben. Plötzlich sind die Dinge in Russland vollendet, ohne dass man im Ausland vorderhand genau weiß, wie sie in Wahrheit beschaffen sind. Es dauert immer noch eine Weile, bis sich Stimmung und Urteil, oft mit ungerechter Voreingenommenheit, darüber verdichten und eine richtige Anschauung davon geben, wie die Verhältnisse in Wahrheit liegen.

Man empfand allgemein den Reiz, den es für mich haben musste, als einer der ersten die ganze Strecke durchfahren zu dürfen. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hatte ich das europäische Russland von Petersburg und Finnland bis zur Krim und zum Kaukasus, von Polen bis an die Ufer der Wolga durchstreift, die beiden letzten Kaiserkrönungen in den Jahren 1883 und 1896 in Moskau mitgemacht, überall starke Anregungen und Eindrücke empfangen und im Kreise der russischen Staatsmänner, Schriftsteller und Künstler viele wertvolle persönliche Beziehungen anknüpfen dürfen. Nun lockte das asiatische Russland mit unwiderstehlicher Gewalt zu einer neuen Studienreise nach dem fernen Osten am Ufer des Süllen Ozeans. Mein Einführungsbrief von der russischen Botschaft in Berlin sorgte dafür, dass ich an der Grenze in Wirballen nicht als letzter, wie es nach der alphabetischen Reihe der Namen sonst geschehen wäre, sondern als Erster abgefertigt wurde und im Wartesaal mich ruhig an dem dampfenden, trefflich zubereiteten Tee, an einer Kohlsuppe und einem Haselhuhn zur Weiterreise stärken konnte.

In dem Coupé der internationalen Schlafwagengesellschaft schlief ich wie ein Heiliger, und am nächsten Morgen erfuhr ich zum ersten Male von der Existenz eines Speisewagens auf dieser Strecke. Das Hinauslaufen auf die Stationen und das bunte Leben in den Wartesälen haben auch im europäischen Russland viel Unterhaltendes. Aber es ist doch gemütlicher, im Gefühl der angenehmen Sättigung auf und ab zu spazieren, als im Gewühl der Passagiere und Kellner ein Kotelett mit Gemüse schnell hinunterwürgen zu müssen oder sich an dem kochenden Tee die Zunge zu verbrühen.

In Petersburg suchte ich nach alter Gewohnheit das Hotel de France in der großen Morskaja auf. Es ist keins von den modern ausgestatteten Häusern, auf die man in großen Städten besonderen Wert legt. Die Einrichtung des Lift, der das Treppensteigen erspart, ist dort unbekannt. Ebenso gibt es in den Zimmern keine elektrische Beleuchtung, sondern nur Stearinkerzen und Lampen. In all diesen Dingen steht das Hotel de l'Europe an der Ecke des Newski Prospekt und der Michailowskaja entschieden höher. Aber die Lage des Hotel de France ist für den Fremden überaus bequem, die Preise für Zimmer und Mahlzeiten sind nicht übertrieben, und die Bedienung zeichnet sich durch Aufmerksamkeit und Höflichkeit aus.

Man macht, wenn man sich der Straße zuwendet, nur wenige Schritte nach links und befindet sich an einer der interessantesten Ecken des Newski Prospekts. Dann wieder eine kurze Strecke auf der Prachtstraße der Petersburger in der Richtung zur Polizeibrücke, und man kommt zu dem gemütlichen Restaurant von Leinner, wo die Deutschen sich mit Vorliebe ihr Stelldichein geben, und wo man immer sicher ist, etwas Interessantes zu beobachten und zu hören. Dort traf ich auch unsern deutschen Generalkonsul Maron, der die Entwicklung der Dinge an der ost-asiatischen Küste mit Aufmerksamkeit und Verständnis verfolgt. Für Petersburg blieben mir drei Tage übrig, die mit Besorgungen und Besuchen aller Art reichlich ausgefüllt waren.

Aber war es denn wirklich möglich, vierzehn Tage ohne Unterbrechung in einem Eisenbahnzuge zuzubringen, ohne in allen Gliedern bis zur Unerträglichkeit zusammengerüttelt zu werden? Im westlichen Europa kann man Proben auf dieses Exempel überhaupt nicht machen. Was wollen die siebzehn Stunden, die man im Nordexpress auf der Reise nach Paris zubringt, oder die einundzwanzig Stunden nach London, wobei man noch ein paar Stunden auf dem Kanal herumschwimmt, dagegen bedeuten! Nach Rom braucht man, wenn man den Südexpresszug benutzt, zwar achtunddreißig Stunden. Aber das ist immer noch nichts gegen eine Situation, in welcher man zwei Wochen hindurch in Gegenden, die noch vor kurzem außerhalb jedes modernen, regelmäßigen Verkehrs lagen, daraus angewiesen ist, im Coupé zu schlafen, ununterbrochen das Rattern der Wagen zu hören, mit fremden Menschen lange zusammenzuleben und jeden Augenblick einen fremden Eindruck in sich aufzunehmen.

Ein glücklicher Zufall führte mich in Petersburg in dem eleganten Restaurant von Cubat, das nicht weit von meinem Hotel in der großen Morskaja liegt, mit zwei russischen Kaufleuten zusammen. Sie waren soeben von Dalny, dem Endpunkt der sibirischen Bahn, nach Petersburg zurückgekehrt, nachdem sie vor anderthalb Monaten die Reise dorthin ebenfalls auf dem Schienenwege zurückgelegt hatten. Innerhalb zweier Monate hatten sie also vier Wochen im Eisenbahnzug zugebracht. Eine schreckliche Vorstellung, nicht wahr?

Aber die beiden Leute waren soeben aus Moskau eingetroffen und zeigten dabei nicht die geringste Spur von Ermüdung. Sie konnten sich außerdem in den Ausdrücken des Enthusiasmus über das, was sie erlebt hatten, gar nicht genug tun. Die Einrichtung der Luxuszüge? Sie lässt alles zurück, was man im westlichen Europa an Bequemlichkeit genießt. Die Überfahrt über den Baikalsee? Sie war herrlich und vom schönsten Wetter begünstigt. Aber wie war es mit den Zügen in der Mandschurei? Die sind noch besser als die andern, die nach Irkutsk laufen. Und wie war es mit der Sicherheit im Zuge während der Fahrt durch China? Man hört doch von räuberischen Überfällen durch Kulis, von Diebstählen und Einbrüchen im Zuge? Alles übertrieben und erfunden.

Wie sieht es endlich in Dalny und Port Arthur aus? Bei dieser Frage wurden meine Tischgenossen ganz besonders redselig und schilderten die Gegend in Farben, als ob es sich um ein wahres Märchenland handelte. Endlich Schanghai, der Mittelpunkt des ganzen modernen chinesischen Lebens, wohin man mit den russischen Dampfern so bequem hinkommt — so etwas Entzückendes gibt es auf der Welt überhaupt nicht wieder.

Ich wusste aus langer Erfahrung, dass die Russen, wenn sie die Vorzüge ihrer Heimat preisen, sich in großen Worten gar nicht genug tun können, und zog von der Verklärung, in der sie aus der sibirischen Bahn alles erblickt hatten, einen gehörigen Prozentsatz ab. Immerhin blieb noch genug des Guten übrig, um mich wenigstens für den Augenblick in dem Vorhaben zu bestärken, die Strecke nach Dalny ebenfalls ohne Unterbrechung zu befahren.

Mein letzter Besuch in Petersburg galt dem altbewährten Bankhaus von E. M. Meyer & Co. am Englischen Kai, wo mein Bruder sechsundzwanzig Jahre hindurch mit Arbeitsfreude und Erfolg tätig gewesen war, und wo mich der Chef des Hauses, Herr Schwartz, mit gewohnter Liebenswürdigkeit empfing. Trotz aller beruhigenden Versicherungen konnte ich immer nicht wissen, welche Verlegenheiten meiner unterwegs harrten. Ich sicherte mir daher für alle Fälle einen ausreichenden Kredit und vereinbarte eine telegraphische Chiffre für Geldsendungen nach dem „fernen Osten“. Mir ist glücklicherweise auf dieser Reise niemals ein Gegenstand von Wert abhandengekommen, und die Rubelscheine in meiner Reisetasche erwiesen sich gerade als ausreichend.

Zu meiner Stimmung, die aufs Weite und Unbekannte hinwies, passten die von Dostojewski besungenen „weißen Nächte“, die beim Antritt meiner Reise in Petersburg herrschten. Auf dem langgestreckten, breiten Newakai mit den Kaiserpalästen lustwandelten die Leute um Mitternacht noch wie am Hellen Tage und blickten auf das prächtige Schauspiel, das der gewaltige Fluss bot. Ein feiner, grauweißer Nebel war über den ganzen Wasserspiegel ausgebreitet, aus dem die Lichter der Dampfer bei ihrer Fahrt von oder nach den Inseln geheimnisvoll auftauchten, während die Umrisse der Gebäude auf Wassili Ostrow oder der Petersburger Seite nur eben zu erkennen waren. Die lange, eiserne Brücke, die zum zweihundertjährigen Jubiläum von Petersburg eingeweiht war, reckte sich mit ihren Bogen vom Ssuworowplatz, dort, wo der Feldherr in römischer Tracht dargestellt ist, über die breiteste Stelle der Newa. Ab und zu ertönte vom Wasser das grelle Signal einer Dampfpfeife oder auf der Straße das dumpfe Aufschlagen von flinken Rossen, die vor eine Troika gespannt waren. Ich sehe, staune und träume, als ob ich unter Nachtwandlern einhergehe oder gar selbst einer sei. Erst spät finde ich den Weg zum Hotel und glaube schon das Rattern der Eisenbahnwagen, das mich vier Wochen begleiten wird, in den Gliedern zu spüren. In der Nacht sitzt eine schwarze Taube auf dem Fensterbrett vor dem Hotelzimmer und am nächsten Morgen ist sie wieder da und pickt an die Scheibe, als hätte sie Unheil zu prophezeien. Werde ich überhaupt wiederkehren? Ich schüttle den törichten Gedanken von mir ab, aber er drängt sich mir immer wieder auf. „Was hat der Junge auf der Galeere zu tun?“ diese zum Sprichwort gewordene Phrase aus den „Fourberies de Scapin“ Molières spukte mir beim Gedanken an Sibirien lange im Kopf herum, bis die müden Augen endlich zufielen.

Die beiden für Petersburg übrigbleibenden Tage sind mit notwendigen Besuchen reichlich ausgefüllt. Fürst Chilkow, der russische Verkehrsminister und die Seele der sibirischen Bahn, ist gerade von seiner Dienstreise zurückgekehrt, und wer weiß, ob er am Abend die Hand nicht wieder am Coupégriff hat. Also schnell in die nächste Droschke zu seinem schönen Palais an der Fontanka und über den breit sich öffnenden Borgarten zur Einfahrt, auf der man in einem großen Bogen zu dem Ministerium gelangt. Der Fürst ist sehr beschäftigt, aber er wird mich doch empfangen.

Nach zehn Minuten holt er mich selbst aus dem Saal, wo ein Dutzend Besucher leise flüsternd warten. Mit dem lebhaften Gesichtsausdruck, auf dem sich der kurze Knebelbart von dem glattrasierten Kinn charakteristisch abhebt, und der kleinen, beweglichen Figur entspricht er genau dem Bild, dass man sich nach den vielen Porträts von ihm macht. Er gilt den Russen als der „Amerikaner“, weil er jenseits des Weltmeeres die hohe Schule des Eisenbahnwesens nicht nur theoretisch, sondern praktisch, vom Dienst auf der Lokomotive an, durchgemacht hat. Er ist der Mann der sorgfältigen Überlegung, aber wenn er sich über eine Sache klargeworden ist, gibt es für ihn keine Schwierigkeiten mehr, und ein Hindernis, das unerwartet auftaucht, reizt ihn nur, seine glänzende Erfindungsgabe zu betätigen.

Unter dem Berg von Depeschen, die sich auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatten, befand sich eine, die ihn sichtlich aufregte. Soeben war der große Trajektdampfer und Eisbrecher, der einen ganzen Güterzug über den Baikalsee bringt, im Nebel aufgelaufen, und die stählernen Trossen waren nicht imstande, ihn wieder flott zu machen, sondern sämtlich wie Bindfaden gerissen. Der Fürst beklagte dies Vorkommnis umso mehr, als der Dampfer „Baikal“ nach seinen eigenen Angaben gebaut worden war, und sich bisher immer bewährt hatte. Das Unglück war vielleicht nicht so groß, als der Fürst annahm. Man hätte Prähme zu Hilfe nehmen und einen Teil der Belastung vom Dampfer abladen sollen, bis er sich von selbst wieder heben würde. Eine Probe von der Tücke des Sees, über den ich hinweg musste, war damit gegeben und der Verkehr an jener Stelle vermutlich unterbrochen. Für die Anlage und Ausführung der Mandschureibahn ist die Persönlichkeit des Fürsten Uchtomsky von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Als Begleiter des jetzt regierenden Zaren bei seiner Orientreise und Verfasser des glänzend geschriebenen Werkes, das er ihr widmete und in dem er ein weitschichtiges Material lichtvoll verarbeitete, hat er sich mit der Politik Russlands im äußersten Osten innig vertraut gemacht. Er gehört zu den Begründern der Russisch-Chinesischen Bank und leitete in Peking persönlich die Unterhandlungen, die zum Abschluss des Vertrages wegen der Mandschureibahn führten.

Als Herausgeber der trefflich geleiteten und weit verbreiteten „Peterburgskija Wjedomosti“ ist er in der Lage, seinen Ideen, die auf Ausdehnung und Befestigung der russischen Macht in China hinzielen und eine scharfe Spitze gegen England enthalten, ebenso regelmäßigen wie wirkungsvollen Ausdruck zu geben. Seine Lebensklugheit drückt sich vor allem darin aus, dass er hinter dem Werk, das er geschaffen hat, mit seiner Persönlichkeit bescheiden zurücktritt und das Verdienst daran gern anderen zuweist, um seinen Weg desto sicherer weiter verfolgen zu können.

Er verbindet den Charakter eines Gelehrten, der sich in die Geheimnisse entlegener Kulturen und fremder Völker versenkt, in origineller Weise mit dem Temperament und praktischen Sinn eines Politikers, der zum Wohle seines Vaterlandes neue Hilfsquellen erschließt. Seine leidenschaftliche Teilnahme an den Tagesbewegungen hindert ihn nicht, ein eifriger Sammler und Kenner buddhistischer Altertümer zu sein, mit denen er sein Heim in der Schpalernaja in ein höchst sehenswertes Museum umgewandelt hat.

Die Mandschureibahn selbst ist der unmittelbaren Aufsicht des Finanzministers Witte verblieben, der sich während meiner Anwesenheit in Petersburg gerade in einer Angriffsstellung gegen den Minister des Innern von Plehwe befand und einen Kampf heraufbeschworen hatte, aus dem er zum Schluss nicht ohne Wunden siegreich hervorgegangen ist. Witte musste die Leitung der russischen Finanzen mittlerweile plötzlich in andere Hände übergehen lassen. Aber sein Nachfolger Pleske ist sein vertrauter Schüler und ein williges Instrument in seiner Hand, während jener es allem Anschein nach verstanden hat, von seiner Machtvollkommenheit manches zu retten und seine Stellung zu den anderen Ministern durch seine Rangerhöhung zum Vorsitzenden des Ministerkomitees zu öffentlichem Ausdruck zu bringen.

Wittes langjähriger Finanzbevollmächtigter in Berlin, von Timirjasew, der ihm jetzt unmittelbar zur Seite steht, und der wegen seiner Sittenfreundlichkeit bei uns ein liebevolles Andenken zurückgelassen hat, ließ es nicht an wertvollen Empfehlungen für die mandschurische Strecke fehlen, über deren Einrichtungen die widersprechendsten Mitteilungen verlauteten.

Im Park von Zarskoje Sselo, dem Sommeraufenthalt Timirjasews, besprachen wir bei einer recht russischen Mahlzeit, die durch die Liebenswürdigkeit der Hausfrau noch besonders gewürzt wurde, die Aussichten für die glückliche Vollendung einer so langen Reise. Die kaiserliche Familie hatte das von Katharina II. erbaute Lustschloss gerade verlassen, und wir konnten uns in den herrlichen Anlagen des Parks ungestört ergehen. Ein Nebengebäude des Schlosses beherbergte den gefürchteten Oberprokureur des heiligen Synods, Pobedonoszew, und für einen Augenblick wurde an einem der Fenster sein bleiches, bartloses Gesicht sichtbar, das einem preußischen Schulrat anzugehören schien.

Am letzten Tage in Petersburg machte ich noch einen Besuch auf dem deutschen Schulschiff „Großherzogin Elisabeth“, das vor der Nikolaibrücke Anker geworfen hatte, und dessen Offiziere und Mannschaften bei unserer deutschen Kolonie, vor allem bei ihrem Vorsitzenden, Kommerzienrat Tillmanns, einer überaus liebenswürdigen Aufnahme begegnet waren. Es befand sich gerade der russische Großfürst Alexei, der Onkel des Kaisers, mit unserem ebenso tüchtigen wie allgemein beliebten Botschafter Grafen von Alvensleben und seinen Sekretären an Bord. Unsere Seekadetten sahen prächtig aus und machten ihre Übungen vortrefflich. Ich war Zeuge des lebhaften Interesses und der warmen Anerkennung, mit welcher der hohe Herr alle Einrichtungen unseres Schulschiffes in Augenschein nahm, sowie des ungezwungenen Verkehrs, der sich bei dieser Gelegenheit zwischen den Gästen entwickelte.

Eine andere interessante Bekanntschaft machte ich bei dieser Gelegenheit in der Person des Kommerzienrats Guillaume aus Köln, dem Vorsitzenden des deutschen Schulschiffvereins. Er war ebenfalls zu Schiff in Petersburg eingetroffen, und seine elegante Lustjacht lag gleich hinter der „Großherzogin Elisabeth“ auf der Newa, ein Schmuckkästchen in Bezug auf häuslichen Komfort und die neuesten technischen Einrichtungen. Der Großfürst fuhr mit unserm Botschafter und dessen Herren, nachdem sie das Schulschiff verlassen hatten, zur Besichtigung auch zu ihm hinüber. Noch eine dritte Sehenswürdigkeit lag unmittelbar daneben vor der Nikolaibrücke auf der Newa, die Jacht des amerikanischen Milliardärs Vanderbilt. Über den Fluss und dessen breite Ufer, über die goldenen Kuppeln der Kirchen war heller Sonnenschein ausgebreitet, und im Kreise der internationalen vornehmen Gesellschaft, die sich an dieser Stelle versammelt hatte, stieg die Lust, etwas Ungewöhnliches zu unternehmen und Raum und Zeit in einer Weise zu überwinden, wie man es noch vor kurzem für ganz unmöglich gehalten hätte. Dann schlug die Scheidestunde, in der ich von dem liebenswürdigen Kapitän unseres Schulschiffes in dessen Kajüte mit einem Pokal schäumenden Sekts bewirtet wurde. Mit vielen herzlichen Wünschen für eine glückliche Reise und Heimkehr fuhr ich wieder ans Land zurück, um im Hotel meine Sachen zu packen und nach dem Nikolaibahnhof zu fahren, von wo mich der Nachtzug nach Moskau brachte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China
St. Petersburg

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007 St. Petersburg, Die Börse

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008 St. Petersburg, Der Kaiserliche Winterpalst

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010 Volksleben in Petersburg

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