Im sibirischen Luxuszug

Der Bahnhof in Moskau, von dem der sibirische Zug abgeht, befindet sich im Osten der Stadt, in der Nähe der Ssadowaja, zu deutsch: Gartenstraße, die als fünfzehn Kilometer langer Ring die alte Residenz der Zaren einschließt und die Grenze zwischen ihr und den Vorstädten bildet. Das große, weiß schimmernde Gebäude wurde im Mai 1896, nach Beendigung der Krönungsfeierlichkeiten für Nikolaus II., dem Verkehr übergeben, als die Ausstellung in Nishnij Nowgorod einen stärkeren Reiseverkehr nach der Wolga mit sich brächte. Außerdem führen von diesem Bahnhof Schienenstränge in südwestlicher Richtung nach Kiew und Odessa, in südlicher nach der Krim und in östlicher über Tula nach Sibirien.

Die geräumige Eintrittshalle, wo sich die Kassen und die Abfertigungsstellen für das Gepäck befinden, ist mit Hunderten von Auswanderern angefüllt, die Auskunft darüber verlangen, wohin sie sich wenden sollen, oder sich haufenweise mit ihren Habseligkeiten in allen Ecken oder auch in der Mitte des Raumes auf der Erde niedergelassen haben. Dann folgt ein großer Wartesaal mit bequemen Bänken an den Wänden und langen Doppelsitzen, die mehrere Gassen für den Verkehr frei lassen. Der dritte Raum enthält das Büfett und eine Anzahl gedeckter Tische.


Für die Reisenden, die des Morgens aus Petersburg abgefahren sind und abends in Moskau eintreffen, ist die Einrichtung getroffen, dass sie über eine Stunde Zeit haben, um vom Nikolai- nach dem Kursk-Nowgoroder Bahnhof zu gelangen und ihre Sitze in dem sibirischen Zuge einzunehmen, der auf einem der mittleren Gleise bereitsteht. Er wird wöchentlich viermal, und zwar am Sonnabend von der internationalen, Montag, Mittwoch und Donnerstag von der russischen Schlafwagengesellschaft, abgelassen.

Es empfiehlt sich, seinen Platz mehrere Tage vorher zu bestellen, da die Züge namentlich im Frühling und Herbst, der besten Zeit für eine solche Reise, stark besetzt sind. Ein Platz in der ersten Klasse kostet für die sechzehntägige Fahrt von Berlin bis zum Stillen Ozean, nach Wladiwostok oder der neuen Stadt Dalny gegen sechshundert Mark. Die Züge enthalten aber auch Wagen zweiter Klasse, in denen die Plätze über ein Drittel billiger als in der ersten sind. Ein Speise-, ein Gepäckwagen und ein solcher dritter Klasse für das technische und Dienstpersonal vervollständigen die Zusammensetzung des Zuges, der nach dem Pullmansystem eine Verbindung der einzelnen Waggons durch Harmonikaverschluss enthält und es den Passagieren ermöglicht, sich auf dem Seitengange in allen Abteilungen frei zu bewegen.

Lokomotive der sibirischen Bahn.
Unser Zug.

Auf dem Wege von Moskau nach Irkutsk benutzte ich einen der Züge der internationalen Schlafwagengesellschaft, die in ähnlicher Weise wie die Luxuszüge im Verkehr zwischen den Hauptstädten in West- und Mitteleuropa eingerichtet sind. Die Coupés erster Klasse sind für zwei Personen bestimmt, für die durch Umlegen des Schlafsofas ein unteres und durch das Herablassen eines gepolsterten Gestells ein oberes Bett hergerichtet wird, das aber nicht, wie in den Schiffskabinen, unmittelbar über jenem, sondern im rechten Winkel an der Fensterseite aufgestellt ist. Zwei elektrische Flammen, eine mit weißer und eine andere mit bläulicher Glasbirne für die Nacht, sind an der Decke angebracht. Unter dem Fenster findet man einen Klapptisch zum Lesen und Schreiben oder zum Aufstellen verschiedener Kleinigkeiten, die man gern sofort zur Hand hat. Neben diesem Tisch ist außerdem in einer Nische, gegenüber dem Sofa, Platz für einen Strohsessel, wodurch eine niedliche Plauder- oder Schmollecke je nach dem Verhältnis gebildet wird, in dem man zu seinem Reisegefährten steht.

Die Fenster sind mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Jahreszeiten und den schnellen Wechsel der Temperatur, auf den man sich einrichten muss, mit doppeltem Verschluss versehen. Außerhalb der Fenster sind ihrer ganzen Länge nach zwei schmale eiserne Klappen senkrecht angebracht, die den Luftzug abschwächen und sich nach Bedürfnis vor- und zurückstellen lassen. An der Tür findet man ein Thermometer sowie zwei elektrische Druckknöpfe, wenn man die Dienste des Kondukteurs oder des Kellners im Speisewagen braucht. Zwischen je zwei Coupés ist eine Waschtoilette eingerichtet, so dass man nicht erst über den Gang zu schreiten braucht, um alle wünschenswerten Bequemlichkeiten zu haben.

Der Speisewagen enthält Sitze für achtundzwanzig Personen, mit einer Abteilung für Raucher. Über dem Büfett ist eine große Karte der sibirischen Bahn ausgehängt, auf der man die Strecke, die man durchlaufen hat, jeden Tag genau verfolgen kann. Europa erscheint darauf wie ein Apfel neben einem Kürbis, und man kommt aus dem Gefühl des Erstaunens nicht heraus, mit welcher Geschwindigkeit und Leichtigkeit man diese ungeheuren, früher für unüberwindlich gehaltenen Strecken zurückgelegt. Als wertvolle Neuerung auf diesen Zügen muss man die Badeeinrichtung begrüßen, die wir hinter dem Büfett entdeckten. Die Wanne mit warmem und kaltem Wasser — sie konnte nach dem Gebrauch, um Raum zu ersparen, in die Höhe gekippt und an die Wand gelegt werden — sowie die damit verbundene Dusche bilden an heißen Tagen eine wahre Wohltat. Auch an einer Eisenbahnbibliothek fehlt es in diesen Zügen nicht. Sie besteht aus Romanen, wissenschaftlichen und illustrierten Werken in mehreren Sprachen und wird in sehr verschiedenartigen Räumen aufgestellt. Ihr richtiger Platz ist natürlich das Lesezimmer. Ich fand sie einmal aber auch im Coups des Zugführers, wo sie niemand vermutete, und ein anderes Mal in einem Schrank im Badezimmer.

Nur die gymnastischen Apparate, von denen so viel gesprochen war und die man auch bei der russischen Ausstellung auf dem Trocadero sehen konnte, waren nirgends zu finden. Es fehlten das Zimmerveloziped und der Rückenklopfer, der Armstrecker und die Reitvorrichtung, wie man sie gegenwärtig auf den großen Hamburger und Bremer Dampfern benutzen kann, um das stockende Blut in Bewegung zu halten.

Die Empfehlungen, die ich in Petersburg erhielt, hatten die angenehme Folge, dass ich von der russischen Grenze an bis zum Endpunkt der sibirischen Bahn und zurück über ein eigenes Coupé verfügen konnte, das sich alsbald in einen wohnlich eingerichteten Salon verwandelt. Auf dem Tisch liegt die Schreibmappe, und die Blätter, welche die täglich empfangenen Eindrücke festhalten, schwellen zu einem stattlichen Reisetagebuch an. Die Feldblumen, die wir uns auf den Stationen pflücken, bilden einen farbenprächtigen Strauß, um den die Sonne durch das Fenster golden glitzernde Strahlen spielen lässt. Die Bücher, die man sich mitgenommen hat oder ausleiht, stellen eine kleine Bibliothek dar, die mannigfaltige geistige Nahrung enthält. Hierzu kommen kleine Andenken und Spielereien, Zeitungen und Näschereien, die man unterwegs für geringes Geld ersteht.

Die achtzehn Personen, die unser Zug enthält, sind so verschiedenartig nach Abstammung, Beruf und Temperament, dass jeder dem anderen etwas Interessantes zu erzählen hat und neue Beobachtungen beständig ausgetauscht werden. Man empfängt Besuche und erwidert sie, trifft sich beständig auf dem Gang oder im Speisesaal, wobei jeder die besten Seiten seines Charakters hervorzukehren sucht. Die größere Breite der Bahngeleise und der auf ihnen rollenden Wagen sowie die geringere Fahrgeschwindigkeit werden angenehm empfunden. Man wird nicht unaufhörlich hin- und hergeschüttelt, wie auf manchen von unseren Schnellzügen, sondern kann ruhig sitzen, stehen und gehen. Wird die Hitze im Juli gar zu lästig, so schließt man die Tür ab, hängt die Kleider auf den nächsten Nagel und verträumt die Stunden in einem improvisierten Badekostüm, bis der Abend die erwünschte Kühlung bringt.

Wir fahren nicht mehr als vierzig bis fünfundvierzig Kilometer die Stunde. Während ich mit dem Bleistift meine Aufzeichnungen mache, spielt mein Nachbar, der Bankdirektor Steinacker aus Fiume, auf seiner Geige, die ihn auf Reisen nie verlässt, mit künstlerisch durchgebildetem Geschmack Stücke von Bach und Mendelssohn, die mich in die deutsche Heimat zurückversetzen, während wir uns bereits dem Ural nähern. Es gibt so viel zu sehen und zu hören, dass man sich wundert, wie schnell aus Morgen und Abend wieder ein Tag geworden ist. Vor allem ist es mit dem Mangel an Bewegung gar nicht so arg, wie wir ursprünglich fürchteten. Auf der Strecke von Moskau nach Irkutsk macht der Zug nach dem Fahrplan, den wir in unserem Coupé vorfanden, neunundneunzig, während der Fahrt von Irkutsk nach Dalny sechsundsiebzig, in Wirklichkeit aber noch mehr Stationen. Wir kommen also im Ganzen innerhalb der vierzehn Tage zu über hundertfünfundsiebzig Ruhepunkten.

Die Dauer des Aufenthalts ist sehr verschieden, aber fast nirgends weniger als fünf Minuten, in vielen Fällen das fünf-, in einzelnen das zehnfache und darüber. In Tula, Ufa und Berdausch hält der Zug je zwanzig Minuten. In Tscheljabinsk, wo die sibirische Bahn beginnt und wir uns anschicken, Europa zu verlassen, bleibt er fünfzig, in Kurgan zwanzig, in Petropawlowsk fünfundzwanzig Minuten liegen. Ungefähr denselben Aufenthalt bringen Omsk, Kainsk, Ob und Taiga, wo die Eisenbahn sich nach Tomsk abzweigt. Hieran schließen sich Bogotoll mit zwanzig, Krasnojarsk mit dreißig, Ilanskaja wieder mit zwanzig, Tulun mit fünfundzwanzig, Sima mit vierzig Minuten und Irkutsk mit einer ganzen Stunde.

Ebenso hält der Zug auch auf der Station Baikal, wo die Passagiere sich anschicken, über den gleichnamigen See zu fahren, und wenn sie das Dampfboot in Myssowaja wieder verlassen, je eine Stunde. Wählend der Überfahrt auf dem Baikalsee befindet man sich außerdem vier volle Stunden in freier Luft und genießt eine nicht zu unterschätzende Bewegungsfreiheit. Vom Baikalsee durch Mandschuria nach Charbin, wo eine andere Bahn nach Wladiwostok führt, hält der Zug acht, von Charbin bis Mukden drei eine halbe und von Mukden bis Dalny wieder drei Stunden. Für die ganze Strecke bleiben mithin einige vierzig Stunden übrig, während deren der Zug stillsteht. Rechnet man, dass ein Drittel dieser Zeit in die Nachtruhe der Passagiere fällt, so haben sie für den Tag durchschnittlich etwa zwei Stunden übrig, um innerhalb eines größeren oder geringeren Umkreises der Stationsgebäude Spaziergänge zu machen und sich die Glieder elastisch zu erhalten. Das ist im Grunde mehr, als sich die meisten Stadtmenschen, die mit ihren Berufspflichten und Sorgen belastet sind, täglich an Körperbewegung gönnen.

Dabei braucht man beim sibirischen Zuge nicht ängstlich schon beim zweiten Glockenzeichen einzusteigen, sondern kann ruhig auf das dritte warten und dann irgendeinen Handgriff an den Treppen der Durchgangswagen ergreifen, ohne Gefahr zu laufen, dass man zurückbleibt.

Freilich darf man sich durch diese Gemächlichkeit und Gemütlichkeit zu keinerlei gefährlichen Scherzen verleiten lassen, wie sie ein paar von unseren Reisegefährten in jugendlichem Übermut versuchten. So sprangen sie einmal, während der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, vom Trittbrett wieder herunter, liefen einige zwanzig Schritte nebenher und schwangen sich dann wieder hinauf. Ein anderer kletterte sogar auf einer Station, wo die Lokomotive Wasser nahm, auf einen der Wagen hinauf, stellte sich mitten unter die Arbeiter, welche die von der Sonne erhitzten Dächer besprengten und hielt eine begeisterte Ansprache an die Reisegesellschaft.

Mit dergleichen Späßen muss man vorsichtig sein, denn sie können sich leicht bitter rächen, da im Zuge selbst kein Arzt anwesend ist und der Gedanke, im Bereich der asiatischen Steppe oder der Mandschurei ein Krankenhaus aufsuchen zu müssen, sicher nichts Verlockendes hat.

Was die Sicherheit auf der sibirischen Bahn betrifft, so wird darüber von einzelnen je nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben, sehr verschieden geurteilt. Die meisten empfehlen für alle Fälle einen Revolver mitzunehmen und ihn entweder in der Rocktasche zu tragen oder auf dem Tisch im Coup6 liegen zu lassen, damit man ihn bei vorkommenden Fällen sofort zur Hand hat. Die Ehrlichkeit des Zugpersonals dürfte kaum zu bezweifeln sein, da diese Leute verhältnismäßig gut bezahlt werden und schon bei geringen Versehen ihre Stelle verlieren. Auf den Stationen schleichen sich allerdings oft Elemente, die nur mit Mühe zurückgedrängt werden, an die Coupés heran, und es empfiehlt sich, sie durch den Kondukteur immer sofort schließen zu lassen, auch wenn man den Zug nur einige Minuten lang verlässt. Sehr verschmitzt soll es vor kurzem ein Dieb angestellt haben, der in der Nacht von außen aufs Trittbrett stieg und durch das geöffnete Fenster einem der Passagiere die daneben aufgehängten Kleider entwendete.

Natürlich sind die Coupés auch von innen zu verschließen. Bei dem neuen Luxuszug, der seit diesem Sommer durch die Mandschurei fährt, kommt hierzu noch eine Sicherheitskette, die der Passagier anwendet, wenn er haben will, dass in den heißen Nächten ein frischer Luftstrom hindurchzieht, ohne dass die Tür von draußen geöffnet werden kann. Im russischen Verkehrsministerium werden beständig neue Vorschläge erwogen, wie weit man Diebstähle, die trotzdem Vorkommen sollen, verhindern kann. Tatsache ist aber, dass von unseren Mitreisenden niemand in die Lage gekommen ist, seinen Revolver anzuwenden. Bei unserer Fahrt durch die Mandschurei erhielten wir jeden Abend eine Bedeckung von sieben Kosaken mit geladenem Gewehr, von denen sechs im Gepäckwagen untergebracht waren, während der siebente im letzten Wagen stand und nach beiden Seiten aufmerksam ausblickte. Es war anzunehmen, dass man eine plötzliche Zusammenrottung von Chinesen befürchtete, durch die dem Zug hätte Gefahr drohen können. Vielleicht handelte es sich aber auch um einen Geldtransport, den man für alle Fälle schützen wollte.

Jedenfalls war bei der Rückfahrt auf dieser Strecke von einer solchen Vorsichtsmaßregel nichts zu merken. Der Gendarm, der auf einzelnen Strecken den Zug begleitet, hat mit dem Dienst auf ihm nichts zu tun, sondern begibt sich nur zur Erledigung einer eiligen Amtssache nach den entsprechenden Stationen.

Der erwähnte Eisenbahnzug durch die Mandschurei, der zweimal in der Woche von Myssowaja nach Dalny und umgekehrt abgelassen wird, war erst vor wenigen Wochen in Gebrauch gestellt und übertraf in der Vortrefflichkeit des Materials und der Gediegenheit der technischen Ausführungen sogar den Zug der internationalen Schlafwagengesellschaft. Während diese ihre Waggons in einer französischen Fabrik, in St. Denis, erbauen lässt, sind jene ausschließlich russisches Erzeugnis und den Bedürfnissen in den ostasiatischen Provinzen genau angepasst. Auf den Wagen finden wir die Aufschrift „Chinesische Ost- Eisenbahn“, in russischer und chinesischer Schrift. Sie bestehen nicht aus gewöhnlichen eisernen, sondern aus gepanzerten Platten, die den Fahrgästen eine größere Sicherheit gewähren. Diese Panzerwände lassen sich im Fall eines Eisenbahnunglücks nicht so leicht wie die sonst angewendeten zusammenquetschen und gewähren vor allem bei einem Überfall oder gar im Kriegsfall zuverlässigen Schutz. Eine Gewehrkugel würde sie nicht durchbohren können. Außerdem sind die Fenster etwas kleiner und zwar so angebracht, dass man hinausblicken kann, ohne selbst gesehen zu werden. Auch die Verteilung der Achsen ist eine andere, denn zwei von ihnen liegen vorn, zwei hinten, während die Mitte unter dem Wagen frei bleibt. Man kann ihn daher bequem als Deckung benutzen, sich unter ihm verstecken, hindurchkriechen und den Feind überraschen und beschießen.

Die Seitengänge zeichnen sich durch besondere Breite aus. In den Coupés befindet sich das elektrische Licht nicht nur an der Decke, sondern kann mittels einer Stehlampe auf dem Tisch neben dem Schlafsofa oder wo man es sonst haben will, benutzt werden. In das geöffnete Fenster kann ein anderes eingesetzt werden, das aus feinem Draht geflochten ist und Schutz gegen die im Sommer sehr unangenehmen Moskitos gewährt.

Außerdem hat sich im Speisewagen auch noch ein Platz für ein Pianino gefunden, das sich aber nicht als Bringer holder Harmonien erwies, sondern bei den Passagieren nur wehmütige Gefühle hervorrufen konnte. Im Verhältnis zu der Art, wie dieses Instrument verstimmt war, mussten die abgespielten Flügel, die man in Berliner Studentenkneipen findet, als köstliche Bechsteins erscheinen. Es war überhaupt unmöglich, auf dieser musikalischen Missgeburt Melodien hervorzuzaubern, die Erinnerungen an eine bestimmte Komposition hervorriefen. Vielleicht wäre das möglich gewesen, wenn man immer nur die falschen Töne angeschlagen hätte, denn die richtigen verwandelten sich in eine Marter für das Ohr.

Nachdem sich ein paarmal dilettantisch geübte Finger darauf versündigt hatten, trat ein Ausschuss unserer Gesellschaft zu einem Rat zusammen, der jeden, der dies böse Beispiel befolgen wollte, mit allgemeiner Verachtung bedrohte. Dies Mittel versagte nicht, und wir hatten seitdem vor weiteren Attentaten auf unsere Ohren Ruhe. Der Anblick von dergleichen Klapperkasten in den Zügen, die ich später benutzte, rief zunächst ein wahres Angstgefühl hervor, dass sich wieder jemand darauf versuchen könnte. Das klassische Beispiel eines Pianinos, wie es auf der Reise sein soll, lernten wir übrigens erst auf einem deutschen Schiff während der Fahrt nach Schanghai kennen, denn das Klavier, das dort im Speisezimmer aufgestellt war, erwies sich zur Hälfte als stumm und glich einem Ungeheuer, dem die meisten Zähne ausgefallen waren. Neben diesen Mandschureizügen, die in jeder Beziehung auf der Höhe der modernen Technik stehen, verkehrt auf der Strecke nach Dalny, allerdings nur einmal im Monat, auch noch ein älterer Zug, der von der Transbaikalbahn zwischen dem Baikalsee und der östlich nach der Schilka führenden Strecke herübergenommen ist. Seine Einrichtungen sind zum Teil ungenügend, da die Motoren für die elektrische Beleuchtung mehrere Nächte versagten und wir gezwungen waren, uns mit Kerzenlicht zu begnügen. Originell war es auch, dass der Oberkondukteur, als die Temperatur in kurzer Zeit von vierundzwanzig Grad Reaumur auf vier Grad herabsank, sich nicht entschließen wollte, die Coupés heizen zu lassen. Er hielt sich an die Verordnung, dass damit nicht vor dem ersten September russischen Stils begonnen werden dürfe. Wir hatten aber keine Lust, in der Nacht mit den Zähnen zu klappern, und machten ihm so lange ernste Vorstellungen, bis er sich entschloss, von der nächsten größeren Station die Erlaubnis zum Heizen einzuholen. Erst dann flammten die Holzstöße in den Öfen auf, um alsbald eine wohltuende Wärme zu verbreiten.

Eine vierte Gattung von Eisenbahnzügen lernte ich auf der Rückreise von Irkutsk nach Moskau kennen, wobei ich den russischen Schlafwagen benutzte. Er machte seinem Namen insofern Ehre, als weder die Kondukteure noch die Kellner im Speisewagen eine andere Sprache als die Turgenjews und Tolstois verstanden. Dabei befanden sich im Zuge vier französische Offiziere, die drei Jahre bei der Besatzung in Peking gestanden hatten, ein amerikanischer General mit seiner Tochter, mehrere Ungarn und Deutsche, die kein Wort russisch kannten. Die Ärmsten mussten die Zeichensprache zur Hilfe nehmen, wenn sie etwas zu essen oder zu trinken verlangten, oder bildeten sich ein schreckliches Kauderwelsch, das zu den drolligsten Missverständnissen führte.

Eine Weile machte es mir Vergnügen, den Dolmetscher zu spielen, aber auf die Dauer war dies Geschäft doch zu langweilig und fruchtlos. So wurde denn weiter lustig eine Gabel gebracht, wenn der Senftopf verlangt war, und eine Serviette mit einer Flasche Rotwein verwechselt, falls nicht drei Portionen Kohlsuppe statt einer auf den Tisch kamen. Die russische Küche zeichnete sich übrigens durch Wohlgeschmack und Abwechslung aus, und die nationalen Gerichte, die man zu kosten bekam, erfreuten sich allgemeinen Beifalls. Auch war es den meisten Passagieren willkommen, dass sie nicht wie bei den internationalen Zügen auf bestimmte Stunden für die Mahlzeit angewiesen waren, sondern Kuverts zu festen Preisen sowie Gerichte à la carte zu jeder Tageszeit haben konnten.

Die Bibliothek des russischen Zuges von Irkutsk nach Moskau enthielt eine große Anzahl belletristischer Werke, die schönen Ausgaben russischer Klassiker, die A. F. von Marcks, der Herausgeber der Wochenschrift „Niwa“, in Petersburg veröffentlicht hat, viele Werke über Sibirien, französische und englische Romane, nur kein einziges deutsches Buch. Darin drückte sich eine entschiedene Unhöflichkeit aus, denn mindestens die Hälfte der Passagiere konnte deutsch sprechen und lesen. Selbst Berthold Auerbach und Friedrich Spielhagen, der sich bei unseren slawischen Nachbarn ungemeiner Beliebtheit erfreut und als Ausdruck des modernen Liberalismus verehrt wird, waren nur in russischer Übersetzung vorhanden. Hingegen lagen neben französischen illustrierten Wochenschriften und Witzblättern auch die „Fliegenden Blätter“ und die „Lustigen Blätter“ aus, selbstverständlich in Nummern, die fünf bis sechs Wochen alt waren.

Bei der Hinreise war von Irkutsk an die Verbindung mit Europa überhaupt völlig abgeschnitten. Die Ablieferung von Briefen, die man erwartete, erwies sich als unzuverlässig. Man konnte nach Hause telegraphieren, aber nicht auf der Station selbst, wo keine Depeschen nach dem Ausland angenommen wurden, sondern musste erst das Telegraphenamt in der Stadt aufsuchen. Aber an welchem Punkt der sibirischen Bahn durfte man mit Bestimmtheit auf eine Antwort rechnen? Das, was die russischen Blätter an Ort und Stelle brachten, konnte unseren Wissensdurst nicht befriedigen und erwies sich ebenfalls als veraltet.

So versank gewissermaßen die europäische Welt hinter uns, und es gab keine Mittel und Wege, die Verbindung mit ihr wiederherzustellen. Aber eine ganz neue und kaum geahnte Welt stieg dafür vor uns auf und sprach in beredter Weise, mit lebhaften Bildern zu unseren Sinnen. Die Eisenbahn brachte durch den unendlich langen Einschnitt, den sie in den asiatischen Kontinent macht, überall neues Leben hervor und ließ mit überraschender Gewalt eine frische Kraft hervorsprudeln, von deren Bedeutung sich niemand an seinem Arbeitstisch zu Hause eine Vorstellung machen konnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China