Auf dem Baikalsee

Es war vier Uhr des Morgens. Wir hatten bereits in Irkutsk unsere Koffer gepackt und uns in die Ecke des Coupés gedrückt, um ein wenig Schlaf zu finden, als der Kondukteur nach drei Stunden die Tür öffnete und die Station Baikal meldete.

Die Gepäckträger fanden sich in unserem Zuge ein, banden unsere Sachen mit Stricken zusammen, legten sie sich auf die Schulter und schritten damit eilig über den Bahnsteig. Schlaftrunken, wie wir waren, hatten wir Mühe, ihnen im Dunkel der Nacht zwischen aufgestapelten Waren und andern Hindernissen zu folgen.


Station Baikal.
Auswanderer in Baikal.

Das sechshundert Meter breite Flussbett der Angara lag als schwärzlich zitternde Masse vor uns. Der Mond war bereits untergegangen, und am Himmel blinkten nur noch einzelne Sterne mit mattem Licht. Vor uns lag eine weit ausgedehnte, im Nebel verschwimmende Landschaft, in der sich Einzelheiten nicht unterscheiden ließen.

Wir schritten einige Minuten vorsichtig den Schienenstrang entlang, gingen dann darüber hinweg und erstiegen eine hohe, hölzerne Brücke, auf der wir eine Wendung nach rechts machten.

Vor uns lag ein Ungetüm aus Stahl und Eisen von riesigen Dimensionen, aus dem vier dicke, vom Rauch geschwärzte Schornsteine hervorragten. Sie standen nicht in einer Linie nebeneinander, sondern zu zweien, so dass sie ein Quadrat begrenzten. Mächtige, tiefschwarze Wolken wirbelten daraus empor, blieben eine Weile in der dicken Luft hängen und zerteilten sich langsam im Nebel.

Wir befanden uns auf dem langen Promenadendeck des Trajektdampfers „Baikal“, der uns über den gleichnamigen See an das gegenüberliegende Ufer nach Myssowaja bringen sollte, wo ein anderer Eisenbahnzug auf uns wartete, um uns durch die Mandschurei zu fahren. Die Nacht war noch nicht gewichen und von dem Wasserspiegel nur ein kleiner Teil zu erkennen.

Die Sonne war hinter den Bergen versteckt, die uns von allen Seiten umgaben. Man konnte aber nicht unterscheiden, wo die Grenze zwischen den Höhenzügen und den Wolken lag, die in der fahlen Beleuchtung des Morgens sich wie weit ausgedehnte Schneeflächen ausnahmen.

Auf dem Promenadendeck, das vom Tau und Dampf der Maschinen benetzt war, suchten wir die Glieder nach der achttägigen Eisenbahnfahrt wieder geschmeidig zu machen, wobei wir die Überzieher fest zuknöpften und die Kragen hochschlugen, um ein leichtes Frösteln zu überwinden, das durch den ganzen Körper rieselte. Allerlei Gestalten, Chinesen, Japaner, Arbeiter und Schiffsleute, huschten unbestimmt an uns vorüber.

Inzwischen begannen von der Station her Signale herüberzutönen und Eisenbahnwagen heranzurollen. Sie näherten sich unterhalb der erwähnten Holzbrücke auf einer schmalen Landzunge unserm Dampfer, bis sie an einem eisernen Tor Halt machten, das mit dem russischen Doppeladler geschmückt war. Darunter befand sich eine Klappe, die an schweren eisernen Ketten hing und durch Gewinde höher und niedriger gestellt werden konnte, um, wie es der wechselnde Wasserstand des Baikalsees erforderte, eine horizontale Verbindung mit dem untern Raum des Trajektdampfers zu bilden. Dort befand sich im Bauch des Schiffes eine riesige Halle mit drei nebeneinander laufenden Geleisen.

Der Güterzug kam über die Brücke durch das eiserne Tor gefahren und schob zuerst acht beladene Güterwagen auf das mittlere Gleis des Dampfers, kehrte dann zurück und beförderte rechts und links davon noch je sechs andere Waggons, so dass der Raum völlig ausgefüllt war. Nicht weit davon ragte aus dem Wasser das große Dock für die Reinigung und Reparatur des Dampfers empor. An dem uns zunächst liegenden Ufer war, unmittelbar am See, unter schroff aufragenden Bergen eine schmale Straße herausgesprengt, auf der ein langer Güterzug stand.

An diesem Ufer war vierzehn Tage vorher der „Baikal“ im Nebel, kurz bevor er landen sollte, in eine falsche Fahrrichtung geraten und auf eine Untiefe ausgelaufen, wie es mir der russische Verkehrsminister Fürst Chilkow bereits in Petersburg mitgeteilt hatte. Die Schiffsleute erzählten uns ausführlich, wie es vier Tage angestrengter Arbeit bedurfte, bis man das riesige Schiff wieder flottmachte. Von dem Versuch, es mit Stahltrossen herunterzuziehen, kam man bald ab, da auch die stärksten von ihnen rissen. Es war sehr umständlich, die schwer beladenen Güterwagen einzeln aus dem Innern des Schiffes herauszuschaffen und dadurch den ungeheuren Druck abzuschwächen, mit dem sich die Eisenmassen an dieser Stelle in dem See festgebohrt hatten. Auch wusste man nicht, ob der Versuch überhaupt gelingen würde. Aber allmählich hob sich der Dampfer, und als die Schraube wieder zu arbeiten anfing, rückte er von der Stelle. Als er ins Dock geschleppt wurde, stellte es sich heraus, dass er keinen Schaden genommen hatte und sofort wieder in den Dienst gestellt werden konnte.

Unsere Überfahrt über den See war weder bei der Hin noch bei der Rückreise mit irgendwelchen Schwierigkeiten verknüpft.

Der „Baikal“ setzte sich in Bewegung, als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durch die dunstige Atmosphäre drangen und die Berge klarer hervortreten ließen. Sie bilden für das Auge zwei bis drei Reihen durcheinander geschobener stumpfer Kegel, deren Spitzen derartig nebeneinanderliegen, dass die ganze Linie um den See wie eine aufgerichtete Säge wirkte. In der allmählich fortschreitenden Morgendämmerung hinterließen diese Höhen um den See, auf dem weit und breit sonst nichts zu erblicken war, einen ungemein wilden und menschenfeindlichen, bei dem Verschwimmen der festen Umrisse sogar gespenstischen Eindruck.

Zur Linken wurde unmittelbar am Ufer ein kleines Dorf sichtbar, und darüber trat, während wir uns bereits in voller Fahrt befanden, plötzlich der rot glühende Sonnenball hervor. Er schien über die Spitzen der Berge mit rasender Eile hinwegzurollen und sie dabei zum Schmelzen zu bringen, denn das Licht verwandelte den Höhenzug auf weite Strecken in eine dunkel leuchtende flüssige Masse.

Die Berge waren etwa Vierzehnhundert Meter hoch, ungleichmäßig bewaldet und sogar im Juli an einzelnen Stellen noch mit Schnee bedeckt. In diesem Rahmen lag der Baikalsee glatt und ruhig wie ein Spiegel.

In Wahrheit verbinden die Schiffer, die ihn oft befahren haben, ganz andere Vorstellungen mit ihm, und in den Schilderungen, die über ihn vorliegen, ist er wegen seines überraschenden und tückischen Charakters nicht gut davongekommen.

Der Baikalsee wird an Umfang unter den Süßwasserseen nur noch von den kanadischen Seen und dem Viktoria Nyansa übertroffen. Die Russen haben hundertsiebzig größere und kleinere Flüsse gezählt, die sich in ihn ergießen. Hingegen hat dies mächtige Wasserbecken nur einen einzigen Ausfluss, die Angara, die ihrerseits wieder dem Jenissei zu strömt. Sie wäre dazu geschaffen, eine vortreffliche Wasserstraße zu bilden, bietet aber mit ihren Stromschnellen der Schifffahrt große Schwierigkeiten.

Der Baikalsee hat die Form einer Sichel, die sich von Nordwest nach Südwest hinzieht, ist achtzig Meilen lang und an einzelnen Stellen bis zu zehn Meilen breit. Über seine Tiefe sind überraschende und zum Teil wohl auch übertriebene Angaben gemacht worden, da man nicht überall in der Lage war, sie genau festzustellen. Eine Eigentümlichkeit des Sees ist das kristallklare Wasser, das er trotz der zahlreichen Zuflüsse aus den Bergen aufweist, und das man ohne weiteres zum Trinken benutzen kann. Auch zeichnet er sich durch seinen Reichtum an Fischen aus, von denen sich eine merkwürdige Art bisher sonst nirgends hat nachweisen lassen.

Das ist der Spinnen- oder auch Ölfisch (Comephorus baikalensis), ein seltsamer Bursche sowohl wegen seines Aussehens wie des Lebens, das er führt. Er ist etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang, und aus seinem unverhältnismäßig großen Kopf, der etwa ein Drittel der Länge des ganzen Tieres ausmacht, stehen ein Paar riesige, wie hinter Brillen glotzende Augen hervor. Während ihm die Bauchflossen fehlen, sind seine Brustflossen sehr groß und aus langen, haarförmigen Fäden zusammengesetzt.

Dieser Fisch hält sich nur an den tiefsten Stellen des Sees auf, lebt also unter einem gewaltigen Atmosphären druck, dem eine ebenso große Spannung im Innern des Tieres entspricht. Kommt der Fisch bei Stürmen einmal an die Oberfläche, so zerreißt er in der Luft wie ein Gummiballon, in den man zu stark hineinbläst. Die Folge davon ist, dass man den Spinnenfisch des Baikalsees noch niemals lebend angetroffen hat. Die zerrissenen Exemplare werden gesammelt und zur Ölgewinnung benutzt.

Auch eine bestimmte Robbenart, deren Fell man zu Pelzen verarbeitet, weisen die Naturforscher nur diesem See als eigentümliche Erscheinung der Tierwelt zu.

Beim Ausbau der sibirischen Bahn und ihrer Fortsetzung von Irkutsk in östlicher Richtung bildete der Baikalsee so große Schwierigkeiten, dass man eine Reihe von Jahren gar nicht wusste, wie man ihrer Herr werden sollte. Schon die hohen Dämme, die man am Ufer der Angara errichtete und mit Mauern stützte, um gegen Überschwemmungen gesichert zu sein, kosteten viel Zeit und Geld. Dann beschäftigten sich die Ingenieure mit der Frage, wie die Eisenbahn um das südliche Ufer des Baikalsees gelegt werden könne. Man unternahm jahrelang Terrainstudien, um die zweckmäßigste Linie ausfindig zu machen, konnte aber zu keinem bestimmten Entschluss kommen.

Die schroff zum Ufer abfallenden Berge machten die Anlagen von vielen Tunneln notwendig, wie man sie in Sibirien noch gar nicht gebaut hatte, wo die Ungunst des Klimas und der Mangel an Arbeitsmaterial ganz andere Verhältnisse hervorrufen als bei ähnlichen Bohrungen in Europa. Schon der Kostenpunkt hatte etwas Abschreckendes und riet zur Vorsicht, nachdem die Bahn auf der bisher fertig gestellten Strecke bereits große Summen verschlungen hatte. Vor allem konnte man sich aber über die Strecke nicht einigen.

Es standen sich zwei Pläne gegenüber, den Schienenstrang entweder von der Station Baikal unmittelbar am See nach dem Dorfe Kuluk zu legen oder ihn bereits von Irkutsk ausgehen zu lassen und am Ufer des Irkut demselben Ziele zuzuführen. Eine Unzahl Konstruktionen wurde entworfen. Die Ingenieure mussten die Gegend immer wieder bereisen.

Aber aus den Vorschlägen und Gutachten, die eingereicht wurden, wuchs kein bestimmter Plan hervor. Während dieser hin- und herschwankenden Überlegung drängte alles dazu, den Anschluss mit der Ussuribahn herzustellen und auf diese Weise, wenn auch zunächst mit Zuhilfenahme der Flussverbindung auf der Schilka und dem Amur, den Weg nach Wladiwostok und dem Stillen Ozean zu erreichen.

Während man überlegte, was zu tun sei, kam der russische Verkehrsminister, Fürst Chilkow, unter dessen Leitung die sibirische Bahn ausgebaut wurde, auf einen ganz anderen Gedanken. Bei seinen Reisen durch Amerika hatte er das System der Trajektdampfer, wie es namentlich in den Vereinigten Staaten angewendet wird, genau studiert.

Über den Mississippi, Missouri, Ohio und andere Ströme hat man, bevor man sich zum Bau fester Brücken entschloss, zuerst ganze Eisenbahnzüge mittels solchem Dampfer befördert, um den Reisenden das Umsteigen und der Verwaltung das umständliche Geschäft des Umladens von Gütern zu ersparen.

Die bedeutendste Anlage dieser Art findet man in der Bai von San Francisco, wo die Fährschiffe vier Eisenbahnzüge nebeneinander aufnehmen können. Ein ähnlicher Trajektdampfer wurde nun auch für den Baikalsee auf der Armstrongschen Fabrik in England aus Siemens Martinstahl hergestellt. Er musste jedoch derart konstruiert werden, dass er gleichzeitig auch als Eisbrecher dienen konnte.

Natürlich gab es keine Möglichkeit, ihn so, wie er gebaut war, mit seiner Länge von 290 Fuß und seiner durchschnittlichen Breite von 57 Fuß in das Innere von Sibirien zu versenden. Man lieferte ihn in seinen einzelnen Teilen in Petersburg ab und schaffte diese dann auf der Eisenbahn bis nach Krassnojarsk an die Ufer des Jeneissei. Von dort wurden die Stücke mit Lastfuhrwerken nach dem Baikalsee befördert und auf einer Werft wieder zusammengesetzt. Der Dampfer erhielt den Namen nach dem See, den er in gerader Linie bis nach Myssowaja zu durchkreuzen hatte. Die Überfahrt dauert auf einer Strecke von sechsundsiebzig Kilometern, die ungefähr der Länge des Genfer Sees entspricht, dreieinhalb bis vier Stunden. Es werden keine Personen, sondern nur Güterwagen in der vorher angegebenen Weise verladen.

Ist das Wetter günstig, so kann man alle drei Gleise in dem unteren Schiffsraum benutzen. Bei Sturm und starker Wellenbewegung entsteht aber die Gefahr, dass die drei Reihen Waggons durcheinandergeschüttelt werden. Um die heftigen Schwankungen zu vermeiden, die auch für die Sicherheit der Fahrt bedenklich werden können, beschränkt man sich in solchen Fällen auf das mittlere Gleis.

Der „Baikal“ wird durch fünfzehn zylindrische Kessel geheizt und enthält drei Maschinen. Zwei von ihnen setzen die hinten liegenden Schrauben in Bewegung, und eine dritte dient dazu, den an der Spitze des Dampfers befindlichen Eisbrecher auf die Schollen hinaufzuschieben und sie dadurch zu zertrümmern.

Die Konstruktion ist eine derartige, dass selbst eine Eisschicht von drei Fuß Dicke zerbrochen und die Fahrstraße bis in die Wintermonate hinein offengehalten werden kann.

Im Speisesaal des Dampfers waren große Photographien ausgestellt, auf denen man erkennen konnte, wie der Dampfer sich, von Schneenebeln umhüllt, durch die starre Decke des Sees eine Gasse bahnt, wie die Schollen zuerst abgebrochen und heruntergedrückt, dann zu beiden Seiten in mächtigen Bruchstücken aufgetürmt werden.

Um die Gewalt des Anpralls gegen die Eismassen zu verringern, hat man das Schiff mit einem Gürtel von hölzernen Keilen und Balken umgeben.

Außerdem ist noch ein zweiter, kleinerer Dampfer, die „Angara“, erbaut worden, die ebenfalls als Eisbrecher dient und sich bei zwei Fuß dickem Eise als tüchtig erwiesen hat.

Da die Schiffe täglich hin und her fahren, kann man die Fahrstraße auf dem See auch während des Winters lange frei halten. Drohen die Dampfer schließlich aber einzufrieren, so werden die Passagiere mit Schlitten über den See geschafft.

Die Fahrt wird unterwegs einmal unterbrochen, da sich mitten auf dem Eise eine Frühstücksstation befindet. Dort ist eine Bude aus Holz errichtet, in welcher das Wasser im Samowar brodelt und die Kohlsuppe im Kessel gerade so wie auf dem festen Lande aufgekocht wird. Auch an sonstigen Speisen und Getränken fehlt es nicht, und die Fahrgäste haben reichlich Gelegenheit, sich für die Fortsetzung dieser originellen Schlittenpartie zu stärken. Freilich, immer geht diese winterliche Expedition, mögen die Pferde, noch so munter ausgreifen, nicht ganz gemütlich ab. Besonders gegen den Frühling entstehen im Eise oft lange Risse, die sich schon von weitem durch einen kurzen, starken Knall wie beim Abfeuern einer Kanone bemerkbar machen.

An Stellen, wo man keine Dampffähren hat, pflegen die Fuhrleute sich auf tollkühne Art zu helfen, falls es ihnen unmöglich ist, um den Riss im Eise, der oft meterbreit ist und eine lange Ausdehnung hat, herumzukutschieren.

Sie schlagen um die Stelle, auf welcher sich der Schlitten befindet, mit Beilen eine offene Rinne aus und gewinnen dadurch eine im Wasser frei schwimmende Scholle. Diese Scholle stoßen sie dann als bewegliche Brücke samt dem Schlitten über den Riss so weit hinweg, bis sie auf der anderen Seite die feste Eisdecke wieder berührt. Gelingt es über die gefährliche Spalte auf diese Weise hinwegzukommen, so kann der Kutscher die Fahrt auf der glatten Fläche wieder fortsetzen. In früherer Zeit sollen aber bei solchen Experimenten wiederholt Schlitten im Baikalsee einfach verschwunden sein.

Obwohl der „Baikal“ wie die „Angara“ sich für die Überfahrt bewährt haben, genügen diese Verkehrsmittel doch nicht auf die Dauer der Beförderung von Personen und Gütern, wie sie von der sibirischen Bahn verlangt werden. Sie dient nicht nur Handels und Kolonisationszwecken, sondern hat vor allem auch wichtige strategische Aufgaben zu erfüllen. Russlands Politik im östlichen Asien erfordert es, dass schon in Friedenszeiten immer größere Truppenmassen nach der Mandschurei entsendet werden müssen, um für alle Fälle gerüstet zu sein.

Und was würde an Transportmitteln nicht erst alles erforderlich sein, wenn die Spannung zwischen Russland und Japan, die von Monat zu Monat an Schärfe zu nimmt, zu einem Kriege führen sollte! Die sibirische Bahn verfügt über ein kolossales rollendes Material. Ich habe bei der Hin und Herreise, soweit es irgend möglich war, auf die Nummern der Waggons, die allerdings keine sichere Berechnung zulassen, genau achtgegeben. Dabei bin ich bei den Personenwagen auf die Zahl 295 943, bei den Güterwagen auf die Zahl 801 360 gestoßen. Am Baikalsee würde in jedem Fall, so wie die Verhältnisse augenblicklich liegen, eine höchst unangenehme und vielleicht folgenschwere Stockung des Betriebs eintreten, wenn es sich um eine energische Vorwärtsbewegung nach dem Osten zu Angriff oder Abwehr handeln sollte.

Man ist daher im Jahre 1900 doch zu dem Entschluss gekommen, die Eisenbahn um den Baikalsee in Angriff zu nehmen, so schwierig die Voraussetzungen für die Arbeit auch lagen. Die Strecke, die nunmehr geschaffen wird, bringt durchaus nicht, wie man gelegentlich behaupten hört, eine Abkürzung des Weges mit sich. Im Gegenteil! Die Eisenbahn hat einen mehr als dreimal so langen Weg als der Dampfer, nämlich 257 Kilometer, zurückzulegen, und wird dazu nicht wie dieser vier, sondern bei der Langsamkeit der Fahrt, die hier geboten ist, etwa zehn Stunden brauchen. Die Bahn, die um das südliche Ufer des Baikalsees läuft, wird in zwei Teile zerfallen. Der eine, westliche, umfasst die Strecke vom Ausfluss der Angara bis zur Station Kultuk und besteht aus Felsenrücken, die in einer Höhe bis gegen vierhundert Fuß unmittelbar aus dem Ufer aufsteigen und dabei eine Anzahl Einbuchtungen und Vorgebirge bilden.

Die Bahn muss jene auf Brücken überschreiten und diese mittels Tunnel durchfahren, wobei starke Krümmungen notwendig sind. Der andere, östliche, Teil dieser Linie durchschneidet zuerst mehrere Vorgebirge, tritt dann, während die Berge sich vom Ufer entfernen, auf eine breite Terrasse, nähert sich wieder dem See und erreicht über eine größere Anzahl von Brücken die Station Myssowaja.

Bis zur Bucht von Tanchoi, auf einer Ausdehnung von dreiundfünfzig Kilometern, ist die Bahnanlage bereits fertig und für den Güterverkehr eingerichtet, während man sie in ihrem ganzen Umfang zu Beginn des Jahres 1905 zu eröffnen hofft. Nach den Berechnungen des Ingenieurs Sawrimowitsch, der das ganze Unternehmen leitet, werden sich die Gesamtkosten mindestens auf 75 Millionen Mark belaufen. Wie groß die Ausgaben sind, die durch die ganze sibirische Bahn verursacht wurden, lässt sich natürlich nur in abgerundeten Zahlen angeben. Man nimmt aber an, dass sie mit allem, was zu ihrer völligen Fertigstellung noch gehört, hinter zwei Milliarden Mark nicht wesentlich zurückbleiben werden.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die meisten Passagiere im Lokalverkehr auch später die Dampferfahrt der Eisenbahnfahrt wenigstens in der schönen Jahreszeit vorziehen. Aber für den durchgehenden Militär und Güterverkehr, namentlich aber für die Beförderung von Massen ist es naturgemäß von größter Bedeutung, von Wind und Wetter auf dem Baikalsee und anderen Zufälligkeiten, die beim Dampferbetrieb unvermeidlich sind, unabhängig zu sein. Es sollen auf der Linie um den See im ganzen elf Stationen eingerichtet werden. Die Arbeiten werden namentlich in letzter Zeit mit größtem Eifer betrieben, aber trotzdem gehen sie für die Wünsche des Zaren und seiner Minister noch immer nicht schnell genug von statten.

Bis auf weiteres werden die Güterwagen in Myssowaja auf dieselbe Weise ausgeladen, wie sie an der Station Baikal auf den Dampfer geschafft wurden. Wir finden dort dieselbe spitze Landzunge mit dem eisernen, vom Doppeladler gekrönten Tor und der verstellbaren Klappe.

Ganz ungenügend sind die beiden Stationsgebäude am westlichen und östlichen Ufer des Sees, unansehnliche, unbequeme, kleine Holzgebäude, die wahrlich nicht vermuten lassen, dass hier die Straße für einen sich beständig steigernden Weltverkehr liegt. Es ist für die Passagiere kein geeigneter Warte- und Gepäckraum vorhanden. Zu Hunderten liegen die Auswanderer auf der Erde und verzehren ihre Vorräte in Gestalt eines großen Laibes Brot mit einem Hering oder einer Gurke, wobei sie allerlei Gerätschaften herbeischleppen, in denen sie sich ihren Tee zubereiten. Die Bahnverwaltung dürfte froh sein, wenn sie auch dies wichtige Verbindungsglied zwischen dem Osten und dem Westen der sibirischen „Magistrale“ eingefügt hat.

Baikal am Beikalsee
Auf dem Baikalsee.

Der Baikalsee bleibt nach wie vor ein unheimlicher Geselle, denn er ist offenbar vulkanischen Ursprungs, und in der Schmiede des Feuergottes, der dies gewaltige Wasserbecken geschaffen und die Berge durcheinandergeworfen hat, scheint das Element noch immer nicht erloschen zu sein. Man nimmt an, dass die Stürme und heftigen Wellenbewegungen, die auch bei sonst ruhigem Wetter entstehen, die heißen Quellen in den Bergen und das plötzliche Auftauen des Eises an einzelnen Stellen im Winter sich nur auf diese Weise erklären lassen. In Irkutsk meint man, dass man nur auf dem Baikalsee aus tiefem Herzen beten lerne. Schon den Mongolen galt er als das „heilige Meer“, dem man mit ehrfürchtiger Scheu nahte.

Mit seiner genaueren Durchforschung, namentlich in den nördlich gelegenen Teilen, hat es noch gute Wege. Nach Fertigstellung der Bahn, die gegenwärtig um seine Ufer gelegt wird, dürften Handel und Wissenschaft sich des eroberten Terrains ebenfalls bemächtigen und Unternehmungen ins Leben rufen, vor denen man bisher zurückschreckte.

Die internationalen und russischen Schlafwagenzüge werden in nicht zu langer Zeit ohne Unterbrechung von Moskau bis an den Stillen Ozean durchgeführt werden, so dass die Passagiere auf einer Strecke von achttausend und siebenhundert Kilometern und während einer Fahrzeit von vierzehn Tagen ihren Platz im Coupé nicht mehr zu wechseln brauchen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China