Zweites Kapitel. - Der König war schon in der Frühe in seinem Kabinett. Er verweichlichte sich nie, ...

Der König war schon in der Frühe in seinem Kabinett. Er verweichlichte sich nie, und in Überwindung von Strapazen übertraf ihn keiner am Hofe. Jahraus jahrein begab er sich des Morgens in ein kaltes Bad und kam dann neu belebt zur Arbeit und zur Gesellschaft. Eine bequeme Kleidung kannte er nicht, vom Bad aus ließ er sich stets sofort vollgerüstet kleiden.

Heute trat er im Jagdkostüm in sein Kabinett, es war noch mehreres zu erledigen.


Dieses Arbeitskabinett befand sich im Mittelbau, im sogenannten Kurfürstenturm. Es war ein großes hohes und dabei doch behagliches Gemach. Ringsum die Handbibliothek, militärische Karten und besondere Lieblingsstücke der Plastik, teils Antiken, die er als Prinz sich auf seinen Reisen erworben, teils schöne Nachbildungen. Ein Briefbeschwerer bestand aus einer Pyramide zusammengelöteter Flintenkugeln vom Leipziger Schlachtfelde. Die eichenen Möbel waren im Stil der Renaissance. In der Mitte stand der große Schreibtisch, darauf alles Nötige wohlgeordnet; ein einziges Aquarellbild, die Königin als Braut darstellend, befand sich zur Rechten des Stuhls.

Der König trat ein, er drückte auf eine Klingel, die auf dem Schreibtische stand, der geheime Kabinettsrat betrat das Gemach.

Er reichte nacheinander mehrere Papiere hin, der König durchflog sie und unterzeichnete mit rascher Hand. Der vortragende Rat erstattete Bericht über Angelegenheiten des Hausministeriums. Der König ging dabei im Kabinett auf und ab. Plötzlich rief er:

»Was ist das?«

Er hörte im anstoßenden Gemach ein Rücken und Heben und scharrende Menschenschritte, wie wenn man einen Sarg trägt. Er drückte auf die Klingel, und wie vom Druck berührt ging die Thür auf und der Oberkämmerer erschien.

»Was ist das für ein unleidlicher Lärm in der Galerie?«

»Majestät haben befohlen, das große Bild wegzuschaffen.«

Der König erinnerte sich, er hatte gestern den Befehl gegeben.

Schon lange an das Bild gewöhnt, war es ihm gestern auf einmal zuwider geworden; es stellte in lebensgroßen Figuren die Scene dar, wie König Belsazar auf dem Thron sitzt, um ihn her die Hofleute, eine Hand aus den Wolken schreibt das Mene tekel an die Wand. Der König hatte befohlen, daß das Bild fortgeschafft und der öffentlichen Galerie übergeben werde.

»Ich bin ungeschickt bedient,« sagte der König unwillig; »es war Zeit, das zu thun, wenn ich zur Jagd bin.«

Der Oberkämmerer, der stramm dagestanden hatte, erzitterte am ganzen Leibe, als er das hörte, seine Hände sanken schlaff nieder, sein Kopf beugte sich. Mühsam schleppte er sich zur entgegengesetzten Thür hinaus. Sofort trat Stille ein; das Bild wurde lautlos auf den Boden gestellt, die Diener entfernten sich.

Der Oberkämmerer ging von der andern Seite in das Vorgemach, setzte sich in seinen Lehnstuhl, nahm eine Prise, vergaß aber, sie zu schnupfen; erst als Baum eintrat, schnupfte er sie.

Nun saß er still Baum gegenüber; er schüttelte mehrmals mit dem Kopf und betrachtete seinen großen Lehnstuhl. Ja, da sitzt bald der dort und du bist abgedankt.

Der geheime Kabinettsrat ging durch das Vorgemach; der alte Oberkämmerer vergaß, ihm schnell den Hut zu bringen. Baum that es an seiner Statt. Baum war wieder frisch, jetzt war keine Zeit, müde zu sein: der große Trumpf muß ausgespielt werden.

Die Klingel aus dem Kabinett ertönte wieder. »Ist noch jemand im Vorzimmer?« fragte der König den Oberkämmerer.

»Ja, Majestät, der Lakai Baum.«

»Soll eintreten.«

Baum war sich jetzt seiner ganzen hohen Stellung bewußt. Der König hat nicht gesagt, daß er dem dienstthuenden Kammerherrn berichten soll, er hat gerufen: »Soll eintreten« – unmittelbar will er mit ihm verhandeln, jetzt ist die hohe Vertrauensstellung gewonnen.

Die alte feierlich unterwürfige Art Baums hatte heute noch eine besondere Weihe.

»Haben Sie einen Auftrag?« fragte der König.

»Nein, Majestät.«

»Was bringen Sie da?«

»Majestät,« erwiderte Baum und legte das in ein Tuch gebundene auf den Stuhl, löste die Knoten und fuhr fort: »Majestät – diesen Hut der Gräfin von Wildenort habe ich im See, diese Schuhe am Ufer zwischen den Weiden gefunden.«

Die Hand des Königs streckte sich nach den mitgebrachten Zeichen aus, aber er zog die Hand wieder zurück und legte sie aufs Herz. Er sah Baum starr und groß an.

»Und was soll das?« fragte er und fuhr mit der Hand nach dem Kopfe, die Haare schlichtend, die ihm zu Berge standen.

»Majestät,« fuhr Baum fort, er selbst zitterte, da er den König so ergriffen sah, »Majestät, die gnädige Gräfin haben diese Kleidungsstücke getragen, als sie mit mir ausritten und entflohen –«

»Entflohen? Und –«

Baum legte die eine Hand auf seine Uhr; er konnte die Sekunden nicht sehen, aber er konnte sie doch in Gedanken abzählen, und leise sagte er:

»Die gnädige Gräfin haben sich in der vergangenen Nacht – nein, in der vorletzten, im See ertränkt. Schiffer haben eine Frauenleiche auf- und untertauchen sehen, morgen, als am dritten Tag, speit sie der See aus –«

Der König winkte mit der Hand – es ist genug – und die winkende Hand zitterte; er griff nach der Stuhllehne, und sein Blick starrte auf Hut und Schuhe.

Baum schlug die Augen nieder, er spürte, wie der König nun den Blick auf ihn heftete, er schaute nicht auf; er betrachtete den Boden, der hebt sich jetzt und hebt den Lakai hinauf an den Thron, neben den König, als seinen Vertrauten. Bescheiden neigte Baum den Kopf tiefer; er hört, wie der König das Zimmer auf und ab schreitet, er schaut nicht auf; im niedergeschlagenen Blick liegt das Zeichen vollen Gehorsams und unbedingter Ergebenheit. Jetzt steht der König vor ihm still.

»Woher weißt du, daß ein Selbstmord? ...«

»Ich weiß es nicht. Wenn Eure Majestät befehlen, daß die Gräfin ertränkt worden –«

»Ich? Wie?«

»Majestät, bitte unterthänigst – darf ich alles erzählen?«

»Du sollst –«

Der König nannte ihn du – das geschieht nur den Vertrautesten. Mit gesammelter Kraft sagte nun Baum:

»Majestät, die Schuhe habe ich selbst gefunden, aber den Hut habe ich von einem Menschen, dem alles zuzutrauen ist ... der Landjäger meint ... und es wäre vielleicht für den Menschen gut ... man könnte ihn nach einem Jahr begnadigen und nach Amerika schicken ... ein Bruder von ihm ... soll ... dort ...«

»Du sprichst wirr!«

Baum gewann seine Kraft wieder.

»Ein Wilddieb kann sie ermordet haben. Das Schlimme ist nur, daß sie einen Brief an Ihre Majestät die Königin geschickt –«

»An die Königin? Wo ist er? Gib her!«

»Ich habe ihn nicht. Die Kammerjungfer hat ihn mir entrissen.«

Der König setzte sich.

Man hörte lange nichts, als das schnelle Ticken der Uhr, die auf dem Schreibtische stand.

Jetzt richtet sich der König auf, geht im Gemach auf und ab; er wendet sich um und geht auf Baum zu. So schreitet das Weltgericht. Das Gericht über Leben und Tod. Baum greift sich in das Halstuch, es wird ihm zu eng, da – da geht das Schwert durch.

»Weißt du, was in dem Brief an die Königin stand?«

»Nein, Majestät.«

»Der Brief war versiegelt?«

»Ja, Majestät.«

»Und sonst hast du nichts?«

»Doch, Majestät, hier dies. Das hab' ich der Kammerjungfer fast gewaltsam entrissen. Und hier, Majestät, noch eins: bei den Schuhen war eine Blutlache und hier auf diesem Pflänzchen sind Blutstropfen von ihr.«

Ein herzzerreißender Schrei des Schmerzes entrang sich der Brust des Königs. Dann ging er mit Schrift und Pflanze in ein Nebengemach.

Baum stand still und wartete.

Im Nebengemach las der König und bald gingen ihm die Augen über.

Sie hat mich sehr geliebt, und sie war groß und schön, sprach er vor sich hin mit bebender blasser Lippe. Der ganze Liebreiz ihrer Erscheinung, ihrer Stimme, ihres Ganges trat noch einmal vor seine Seele; und das alles war nun tot?

Der König betrachtete seine Hand, die sie so gern, so innig geküßt. Er nahm wieder das Blatt auf, er las die Worte: »Dem Freunde« noch einmal, und er wußte nicht, wie es geschehen – als er wieder zu sich kam, lag er am Stuhl auf den Knien.

Was soll nun werden?

Er erinnerte sich, daß im Kabinett der Lakai warte. Tief erniedrigt erschien sich der König; er muß diesen Menschen zum Vertrauten haben. Waren aber nicht schon lange Menschen aller Art die Vertrauten seiner Sünde? Sie wußten davon und schwiegen nur. Tausend Augen schauten ihn an und tausend Lippen sprachen – und alle geben Kunde von dem Entsetzlichen. Verwirrt schaute der König um, er konnte sich kaum aufrichten. Und von all den Tausenden, die ihre Hand auf ihn legten, ihre Augen auf ihn richteten, wie lastet die Hand und der Blick der einen auf ihm und ihr Mund, was spricht er?

Wie sollte er sich nun der Königin nahen? Wüßte sie seine tief innerste Zerknirschung – sie würde ihm weinend um den Hals fallen, denn sie ist himmlisch gut und was hast du ihr gethan? ...

Er wollte der Königin die letzten Worte der Freundin schicken; er wollte darunter schreiben, reuevoll sein ganzes Denken und Fühlen in ihre Hand legen ...

Es ist besser, nicht im ersten Augenblick zu handeln, tröstete er sich endlich, und als er sich aufgerichtet, kam ihm wieder das Bewußtsein seiner Kraft. Man muß das Schwerste thun, auch die Reue vollziehen, ohne sich seiner Würde zu entkleiden.

Der König stand vor dem großen Spiegel, er hatte nicht mehr daran gedacht, daß er im Jagdkleid, er erschrak vor sich, wie vor einem fremden Menschen.

Sein Antlitz war blaß, seine Augen gerötet. Er hat der Freundin nachgeweint, und jetzt ist's genug. Was andern erst in Monaten und Jahren gegeben ist, vollziehen und vollenden große Naturen in wenigen Minuten; ihre Lebensjahre werden zu ungemessenen Zeiten – und wie durch die Luft daher trug sich das Wort »der Kuß der Ewigkeit« und die Erinnerung an den Tag dort im Atelier, dort auf dem Ball und dann ...

»Du konntest das höchste Leben leben und dann sterben, den Tod heranzwingen – ich kann es nicht, ich lebe nicht für mich allein!« rief er der Freundin zu, und mitten in seiner Trauer war es ihm, als öffne sich eine neue Lebensquelle in seiner Brust.

Und das hast du bewirkt – dachte er der Toten nach – mit allem Besten lebst du ewig in mir fort; ohne dich – ich würde es vor Gott bekennen, wenn ich jetzt vor ihn hinträte – ohne dich hätte ich die tiefste Quelle meines Daseins nicht entdeckt. Wüßte ich nur eine That, die ein Denkmal deines Lebens würde ...

Der König erinnerte sich wieder, daß ein Lakai in seinem Kabinett wartet. Es war ihm peinlich, daß ihm nicht einmal eine Stunde gegeben ist, um still seine Empfindung aufzuklären, und wie im Fluge streifte ihn zum erstenmal der Gedanke: Wer über viele zu befehlen hat, daß sie ihm dienen, der ist auch vielen verpflichtet; sie leben fort, ihr eigenes Leben, jenseits der Stunde und der That ihres Dienstes.

Etwas aus den hinterlassenen Worten Irmas umschwebte noch wie ein Nebelduft seine Seele.

Er kehrte in das Kabinett zurück. Hier stand Baum noch so still und ruhig auf demselben Fleck wie Tisch und Stuhl.

»Wann bist du abgereist?« fragte der König. Baum erzählte ausführlich.

»Du wirst müde sein,« schloß der König.

»Ja, Majestät.«

»So ruhe dich nun aus, und was du noch zu erzählen hast, erzählst du nur mir, verstanden?«

»Sehr wohl, Majestät, ich danke unterthänigst.«

Der König hatte einen Ring mit einem großen Smaragd vom Finger gezogen, ließ ihn in der Sonne spielen und blitzen und wendete ihn hin und her. Baum glaubte, der König wird ihm jetzt diesen Ring als Gnadenzeichen geben. Aber der König steckte den Ring wieder an und fragte:

»Bist du verheiratet?«

»Ich war's, Majestät.«

»Hast du Kinder?«

»Einen einzigen Sohn, Majestät.«

»Gut. Halte dich bereit, ich werde dir bald weitere Befehle zukommen lassen.«

Baum ging hinaus. Im Vorzimmer rief er dem Oberkämmerer von fern gnädig zu: »Bleib nur sitzen!« und ging schnell davon. Niemand braucht zu sehen, was man ihm an den Augen ablesen kann – der König hat ihn »du« genannt, hat ihn nach seiner Familie gefragt; er ist der Vertraute des Königs, das Höchste steht ihm bevor.

Er ging nach seiner Wohnung im Seitenflügel des Schlosses.

Der König war allein. Nichts war bei ihm, als Hut und Schuhe Irmas. Lange starrte er darauf. Das wäre ein Gedicht – dem Geliebten Schuhe und Hut des Liebchens bringen – das wäre ein Lied, zu singen in der Dämmerung ... So sprach es in ihm und doch wirbelte ihm der Kopf. Er nahm Hut und Schuhe – seine Hand zitterte – er verschloß die Todeszeichen im Schreibtisch.

Die Feder auf dem Hute wurde geknickt, als er das Schubfach zudrückte.

Auf dem Schreibtisch brannte ein Licht. Der König zündete sich eine Cigarre an, sein Auge zuckte, als sein Blick das hier stehende Aquarellbild der Königin traf. Er rauchte hastig.

Erst nach geraumer Zeit klingelte der König und befahl, daß der Oberhofmarschall gerufen und niemand weiter gemeldet werde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 3