Zehntes Kapitel. - Die Königin schlief, vom Schmerz überwältigt, in ihrem Gemach. ...

Die Königin schlief, vom Schmerz überwältigt, in ihrem Gemach.

Die Hofdamen saßen bei einander auf der Terrasse unter der Hängeesche; sie wollten sich heute gar nicht voneinander trennen, etwas wie Gespensterfurcht war in allen; hier mitten unter ihnen war vor wenig Tagen noch Irma, dort saß sie auf dem Stuhl ohne Rückenlehne – sie lehnte sich nie an – der Platz, wo sie sonst gesessen, blieb leer; würden nicht die Wege jeden Morgen frisch geharkt, die Spuren ihres Fußes wären noch da. Und jetzt verschwunden aus der Welt, ausgelöscht, und in so entsetzlicher Weise, und wer kann sagen, wie lange dies Gespenst noch im Schlosse umgehen, welche Verheerungen es noch anrichten wird? Die Welt weiß jetzt, was vorgegangen.


Die Damen stickten emsig. Sonst las man abwechselnd vor, natürlich einen französischen Roman; heute lag das Buch ruhig auf dem Tisch; man war sehr gespannt auf den weitern Fortgang der Erzählung, aber niemand wagte auch nur den Gedanken, daß man heute weiter lesen könnte. Auch ein zusammenhängendes Gespräch wollte sich nicht fügen, nur manchmal hörte man: »Liebe Klothilde, liebste Anna, wollen Sie mir etwas Pensée, etwas Blaßgrün borgen?« – »Ach, ich kann keine Nadel einfädeln, ich zittere. Haben Sie eine Einfädelmaschine?« Sie war glücklicherweise da, niemand wollte so unerschüttert sein, um eine Nadel einfädeln zu können.

Man beklagte Irma und es that allen wohl, jetzt so gut und barmherzig sein zu können; sie sind glücklich, der Unglücklichen fromm zu vergeben, und weil man so mild und verzeihend ist, kann man das Vergehen um so schärfer bezeichnen. Sie nahmen damit Rache für die eigene Selbsterniedrigung, denn sie hatten, als Irma in höchster Gunst stand, ihr gehuldigt, mehr als der Königin.

Sie sprachen gegen einander nur mit Verehrung von den Fürstlichkeiten – man traut einander bei aller Vertraulichkeit doch nicht – man fühlt und weiß, daß ein Zerfall im Anzug, man darf aber nicht thun, als ob man davon wisse.

Die Oberhofmeisterin allein hielt Irma eine gute Nachrede.

»Ihr Vater ist viel schuld,« sagte sie, »er hat ihr diesen Unglauben eingepflanzt.«

»Er hat sie doch im Kloster erziehen lassen.«

»Sie hat aber von ihm eine fast gehässige Verachtung aller Formen und Traditionen geerbt. Darin lag ihr Unglück. Sie war eine schöne, reichbegabte Natur und nicht eine Spur von Neid und Mißgunst war in ihrer Seele.«

Man widersprach der Oberhofmeisterin nicht. Es gehört vielleicht jetzt zum Gesetz, nur gut von Irma zu sprechen und ihre grauenvolle That ganz zu vergessen.

»Wenn ihr Bruder gewußt hätte, daß er Alleinerbe wird, wer weiß, ob er die Steigeneck geheiratet hätte,« sagte leise eine kleine schmächtige Dame ihrer Nachbarin in den Korb, während sie nach Wolle darin suchte.

Die Angeredete sah sie traurig dankbar an, sie hatte vordem den Grafen Bruno geliebt, sie liebte ihn noch.

»Ich habe noch ein Buch von ihr.«

»Ich noch eine Zeichnung.«

»Ich noch Noten,« hieß es von da und dort her. Man hatte ein gewisses Grauen vor allem, was Irma besessen; man kam überein, alles dem Bruder zu schicken.

»Ich ging heute früh an ihren Zimmern vorüber,« sagte die immer frierende Hofdame der Prinzessin Angelique, die sich oft die Hände rieb und die Fingerspitzen anhauchte; »die Fenster standen offen, ich sah den einsamen Papagei in seinem Gitter, und er rief immer! Pfüt di Gott, Irma! ... Es war schauerlich.«

Alles schauerte, und doch hatte man eine geheime Lust an diesem Gruseln. Die fromme Palastdame kam zu dem Kreise und erzählte, daß sich soeben Hofrat Sixtus bei ihr verabschiedet habe; er reise mit dem Justizrat Fein nach dem Gebirge, er nehme auch den Lakaien Baum mit, um die Leiche der Gräfin Irma aufzusuchen.

»Wird er sie hierher bringen, oder auf ihr väterliches Schloß?«

»Schrecklich, im Tode von gemeinen Menschen begafft zu werden!«

»Entsetzlich! Mich schaudert!«

»Bitte, geben Sie mir auch Ihren Flacon!«

Ein Flacon mit englischem Riechsalz ging von Nase zu Nase im Kreise herum.

»Und von jedermann und jeder Frau eine freiwillige Leichenrede zu bekommen.«

»Dieser öffentliche Selbstmord ist doch sehr indiskret.«

»Wenn nur die entsetzlichen Zeitungen nicht wären,« klagte die frierende Hofdame.

Bald ging indessen das Gespräch wieder in einen mäßig heiteren Ton über.

»Ach Gott,« klagte eine Hofdame, sie war hübsch und schnippisch, »ach Gott, was hat man zu Leb- und Herrschzeiten der Gräfin Irma für die schöne Natur und das gemütliche Volk schwärmen müssen. Jetzt darf man doch hoffentlich wieder sagen, ohne eine Ketzerin zu sein: die Natur ist langweilig und das Volk ist abscheulich.«

Alle fanden die Bemerkung der schönen und schnippischen Hofdame zwar boshaft, aber doch äußerst treffend. Es gab helles Durcheinandersprechen und Lachen, wie in den fröhlichsten Tagen.

Ein mutwilliger Knabe hat einen Sperling vom Dach geschossen. Die Sperlingschar piepst und beschwatzt das eine Weile und ist auch traurig, dann aber hüpft und zwitschert es wieder durcheinander wie vorher.

Zur Steuer der Wahrheit muß indes gesagt werden, daß manche der versammelten Damen auch gern Gutes und Rühmliches von Irma gesprochen hätten; das blieb aber im Hintergrund der Seele – man wollte um alles in der Welt nicht sentimental sein.

Erst als die Oberhofmeisterin wieder das Wort nahm, wurde man auch gemessener.

Die Oberhofmeisterin sprach durch Haltung und Miene aus: ich bin leider diejenige, die das prophezeit hat; nun ist's eingetroffen; aber ich bin nicht stolz darauf. Sie hatte das Recht und die Pflicht, versöhnend und mild abschließend über Irma zu sprechen.

»Die Exzentrischen, ja die Exzentrischen,« sagte sie. »Die arme Gräfin Wildenort! Das Demonstrative ihrer That ist ein schweres Vergehen. Vergessen wir aber bei dem Entsetzlichen nicht, daß sie auch unbestreitbar Gutes hatte. Sie war schön, gefiel gern, und hatte doch keine Spur von Koketterie; sie hatte Geist und Witz, mißbrauchte ihn aber nie zur Medisance. Die arme Exzentrische!«

Mit dieser Bezeichnung als Exzentrische war Irma bestattet und die andern Hofdamen hatten dabei ihre Lehre.

Der Blick der Versammelten wurde nach dem Thale gelenkt.

»Dort fährt der Wagen,« hieß es. Der Hofrat Sixtus grüßte von der Straße herauf; neben ihm saß der Justizrat und ihnen gegenüber – er war heute zu müde, um auf dem Bock zu sitzen – der Lakai Baum.

»Es ist kaum ein Jahr, daß wir denselben Weg miteinander gemacht,« sagte dort Sixtus zu Baum.

Baum war gar nicht gesprächsam, er war müde; er hatte nach schweren Vorbereitungen heute das große Examen gemacht und durfte sich bekennen, daß er es nicht schlecht bestanden; außerdem wußte er sich noch nicht recht darein zu finden, daß er im Wagen saß, und doch durfte er annehmen, daß da nunmehr sein Platz; er stand auf dem Punkte, ein andrer zu werden, ein höherer, er war es schon geworden, nur fehlte noch das äußere Kennzeichen; er ließ sich's auch gefallen, einfach Lakai zu bleiben, vielleicht wünschte der König das, um sich nicht zu verraten, und er war bereit, auch dies gewähren zu lassen; er und der König wissen doch, wie sie zu einander stehen. Er lächelte in sich hinein, ihm war zu Mute wie einem Mädchen, das das Liebesbekenntnis des Geliebten hat, seine feurigsten Schwüre; das förmliche Freiwerben kann jede Stunde vor sich gehen.

Als der Hofarzt eine Zigarre herausthat, war Baum schnell bei der Hand, ihm Feuer zu geben. Das war aber für jetzt seine letzte dienende Handlung. Baum war so unhöflich – die Natur läßt sich nicht zwingen – im Angesicht der Herren einzuschlafen; aber noch im Schlaf war er gut geschult, er saß stramm aufrecht und jede Minute bereit, einer Anrufung zu folgen.

Baum wachte erst auf, als man Halt machte. Die scharfen Fragen des Justiziars zerstörten zuerst wieder sein Wohlgefühl. Was liegt am Tod einer Gräfin, wenn man dadurch steigt? Tief ärgerlich war er, daß sich seine Familie, Mutter und Bruder und Schwester, in diese Sache eingemischt, und hat nicht Thomas etwas vom Tod der Esther gesagt? Oder hat er das nur geträumt? Man wird ganz wirr von so vielen Erlebnissen.

Der Hofarzt entschuldigte vor dem Juristen die unordentliche Auskunft Baums.

Baum sah ihn groß an. Merkt der schon deine Erhebung und will sich bei dir in Gunst setzen? Klug genug ist er dazu.

Baum nahm sich vor, einstweilen nur die Spuren zu zeigen, wo er Hut und Schuhe gefunden, und Mutter und Bruder ganz aus dem Spiele zu lassen, wenigstens wollte er nicht selbst sie hereinziehen und berief sich auf den Landjäger, den man mitnehmen müsse. Der Landjäger mußte im Städtchen aufgesucht und mitgenommen werden, dann ging der Weg nach der Gerichtsstadt, wo der Physikus Doktor Kumpan wohnte.

Sixtus ließ diesen in den Gasthof rufen und der allezeit Muntere war voll Lob über die Gräfin Irma. Er fand es sehr schön, daß sie den Mut hatte, zu leben wie sie wollte, und zu sterben wie sie wollte. Daneben hatte Kumpan seinen Spaß, daß Freund Schniepel zu so großen Missionen ersehen war, Ammensuchen und Leichenfinden. Er bat sich's aus, einmal eine Gräfin sezieren zu dürfen.

Hofrat Sixtus waren die derben Späße seines ehemaligen Studiengenossen gar nicht genehm. Doktor Kumpan erzählte von den großen Veränderungen, die mit Walpurga vorgegangen waren. Sie sei mit ihrer ganzen Familie weit in das Gebirge hinein bis an die Landesgrenze ausgewandert. Er wußte viel Spaßiges von Hansei zu erzählen und besonders von einer Wette um sechs Maß Wein.

Sixtus berichtete dem Kameraden leise – aber Baum hörte es doch – daß Walpurga fortan nicht mehr in Gunst bei Hofe stehe, es werde sich offenbaren, daß sie die Vermittlerin war. Sixtus bereute sofort, daß er dem Kumpan derartiges mitgeteilt, aber eben weil er nichts rechtes mit ihm zu reden wußte, sagte er gerade das, was er vor ihm verbergen wollte; es war indes geschehen und er nahm dem Freund das Wort ab, nicht weiter von dieser Sache zu reden, und Kumpan war stets ein Mann von Wort.

Als Kumpan fort war, kam Baum nochmals zu Sixtus und sagte ihm, daß es gut wäre, wenn man zu Walpurga reise, die wisse vielleicht doch etwas; er erbot sich zugleich, selbst hinzureisen. Es ward ihm immer peinlicher, mit Mutter und Geschwistern in dieser Sache zusammenzukommen. Aber Sixtus sagte, daß diese Reise ganz überflüssig wäre, Baum müsse bei ihm bleiben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 3