Drittes Kapitel. - Als der Oberhofmarschall eintrat, hatte sich der König gesammelt und war

Als der Oberhofmarschall eintrat, hatte sich der König gesammelt und war in der Verfahrungsweise, die er innehalten wollte, vollkommen sicher.

»Haben Sie bereits das entsetzliche Ereignis gehört?«


»Wohl, Majestät; die Kammerjungfer der Gräfin ist angekommen; ihre Herrin sei im See ertrunken.«

»Und?« fragte der König, da der Oberhofmarschall eine Pause machte.

»Und es wird hinzugesetzt, daß die Gräfin seit dem Tode ihres Vaters niemand mehr gesehen und gesprochen. An Ihre Majestät die Königin hat sie jedoch einige Worte hinterlassen mit dem ausdrücklichen Befehl, daß der Leibarzt sie überbringe.«

»Und das ist geschehen, ohne mir vorher Mitteilung zu machen?«

Der Oberhofmarschall zuckte die Achseln.

»Gut, ich weiß –« fuhr der König fort. »Ist alles zur Jagd bereit?«

»Zu Befehl, Majestät. Das Jagdgefolge wartet seit einer Stunde.«

»Ich komme,« sagte der König. »Schicken Sie den Hofarzt Sixtus nach dem See. Er soll den Lakaien Baum mitnehmen, der in der Sache orientiert ist. Geben Sie ihm auch einen Justiziar mit; er soll dafür sorgen, daß die Leiche, wenn sie aufgefunden wird, würdig bestattet werde. Ich weiß, daß Sie das alles sorgfältig anordnen und selbständig.«

Der König betonte dies letzte Wort besonders. Es hat alles diskret zu geschehen, ohne seine besondere Beteiligung einzuflechten.

Der König zog die Brauen ein, wie um sich auf etwas zu besinnen, das er vergessen hatte.

»Noch eins,« sagte er hastig, »begeben Sie sich zu dem Bruder der armen Gräfin und teilen Sie ihm die Sache in schonender Weise mit, und wenn er Urlaub begehrt, so ist er ihm auf unbestimmte Zeit gewährt.«

Der König ging durch das Vorzimmer, die Treppe hinab; er hatte der Königin schon am gestrigen Abend Lebewohl gesagt, sie sollte in der Herbstfrühe Ruhe halten.

Das große Jagdgefolge im Schloßhof begrüßte den König, er dankte freundlich. Wie auf Kommando wurden die Decken von den Pferden an den verschiedenen Wagen mit einem Ruck abgezogen.

»Oberst Bronnen,« rief der König, »setzen Sie sich zu mir.«

Mit ehrerbietigem Dankesneigen ging Bronnen nach dem Wagen des Königs. Sämtliche Kavaliere des Jagdgefolges schauten verwundert auf Bronnen, und begaben sich nach den bereitgehaltenen Wagen.

Bronnen hatte sich ehrerbietig verneigt – er empfängt die höchste Tagesehre – aber in ihm krampfte sich das Herz zusammen. Ahnt der König, daß er sich als Rächer empfindet an der Stelle des alten Eberhard, und mit sich kämpft, ob er dieses Racheerbe annehmen muß? Er erschrak, als er unwillkürlich seinen Hirschfänger an der Seite berührte. Soll es eine Tragödie im Hofwagen geben, wie die Geschichte noch keine kennt? Hat Irma vor dem König geprunkt mit seiner zurückgewiesenen Werbung, und erhält er nun ein Mitleidsalmosen?

Der Zug fuhr hinaus ins Freie. Lange saß der König lautlos. Endlich sagte er:

»Sie waren ihr auch ein treuer Freund, und sie hat Sie geschätzt und hochgeachtet wie wenige, ja wie sonst niemand, und hat immer gewünscht, daß wir einander näher ständen.«

Bronnen atmete tief auf. Er hatte nicht Veranlassung, etwas zu erwidern. Der König reichte ihm die Cigarrentasche hin.

»Ach, Sie rauchen ja nicht,« unterbrach er sich.

Es trat wieder eine lange Pause ein, bis der König fragte:

»Seit wann kannten Sie die Gräfin Irma?«

»Schon seit ihrer Kindheit. Sie war die Freundin meiner Cousine Emmy, die mit ihr im Kloster war.«

»Es ist mir ein Trost, mit Ihnen von der Freundin zu sprechen. Sie erkannten ihr Wesen, das so groß, ja fast überlebensgroß war. Lassen Sie mich ihre Freundschaft erben.«

»Majestät« – erwiderte Bronnen mit erzwungener Ruhe, in ihm kochte der Ingrimm über den, der eine so hohe Erscheinung verwüstet und in die Vernichtung getrieben, aber die soldatische Ordnung beherrschte ihn.

»Ach, liebster Bronnen,« fuhr der König fort, »mich hat noch nie ein Tod so erschüttert, wie dieser. Hat sie Ihnen je vom Tod gesprochen? Sie haßte ihn. Und jetzt, wenn ich hinausschaue – da ist alles wieder wach, alles noch lebendig. Die ganze Welt müßte einen Augenblick stillstehen, wenn ein großes Herz stillsteht. Was sind wir?«

»Jeder nur ein Teil der Welt, ein beschränkter, kleiner. Alles um uns her hat seine gemessene Entwickelungs- und Rechtssphäre, wir sind über nichts Herr, als über uns selbst und wie selten auch nur dies.«

Der König sah Bronnen betroffen an. Jedes hat seine Rechtssphäre ... Was soll das?

Schnell gefaßt erwiderte der König:

»Ganz so hätte sie auch sprechen können. Ich kann mir denken, daß Sie beide sehr sympathisierten. Wenn ich Sie recht verstehe, halten Sie demnach den Selbstmord für das höchste Verbrechen?«

»Wenn man die höchste Widernatur höchstes Verbrechen nennen will – allerdings. Jedes Wesen sucht naturgemäß sein Dasein zu bewahren. Ich hatte darüber im vergangenen Winter ein unvergeßliches Gespräch mit dem alten Grafen Eberhard.«

»Ach ja, Sie kannten ihn ja. War er in der That ein so bedeutender Mann?«

»Er war ein Mann von der großartigsten Einseitigkeit. Vielleicht muß die Größe immer einseitig sein.«

»Wann sprachen Sie Gräfin Irma zum letztenmal?«

»Nach dem Tode ihres Vaters, nachdem sie sich in undurchdringlichc Nacht begeben hatte. Ich sprach sie, aber sah sie nicht und sie gab mir die Hand. Ich glaube, ich bin der letzte Mensch, dem sie die Hand gereicht.«

»So lassen Sie mich diese Hand fassen,« rief der König.

Er hielt lange die Hand Bronnens, der nun wieder aufnahm:

»Majestät, Bekenntnis gegen Bekenntnis: ich liebte Irma.«

Nach diesen kurz und straff ausgesprochenen Worten hielt er ein. Der König zog die Hand rasch zurück.

»Ich sehe,« fuhr Bronnen, sich mit Macht sammelnd, fort, »ich erkenne dankbar das hohe Herz der Gräfin – sie hat nichts von meiner Werbung erzählt. Sie hat ehrlich meine Liebe abgelehnt, weil sie dieselbe nicht erwidern konnte.«

»Sie? Mein lieber Bronnen ...« rief der König in schmerzlich bewegtem Tone, und schnell zog durch seine Seele das Bild des beglückten Lebens, das Irma an der Seite dieses Mannes hätte finden können. »Armer Freund,« wiederholte er mit innigem Ausdrucke.

»Ja Majestät, ich habe ein Recht, mit Ihnen zu trauern, und es ist, als hätte ihr gewaltiger, weithin wirkender Geist noch das gethan, daß Sie, Majestät, mich jetzt an Ihre Seite riefen,«

»Ich ahnte das nicht. Hätte ich es, ich würde Ihnen nimmermehr diesen Schmerz auferlegt haben.«

»Und ich danke Ihnen, Majestät, daß ich der Genosse Ihres Schmerzes sein darf; und weil ich Genosse bin, kann ich vielleicht Ihnen Trost geben, so weit ein andrer das thun kann. Da Majestät in unverhüllter Wahrhaftigkeit vor mir stehen, mußte ich auch in allem wahr sein.«

Der König sprach lange nicht. So klar und rein auch Bronnen sein innerstes Herz vor ihm aufgeschlossen – die schnell folgende nächste Empfindung, die dessen Mitteilungen im König weckten, war eine tiefe Eifersucht, daß noch ein andrer gewagt hatte sein Auge zu Irma zu erheben, ja völlig um sie zu werben; sie schien ihm dadurch nicht mehr sein eigen allein, da ein andrer die Hand nach ihr ausgestreckt hatte.

Bronnen wartete auf eine Erwiderung des Königs. Er konnte sich nicht erklären, was dieses Schweigen bedeute. Reute es den König, daß er so offen war, und beleidigt es ihn gar, daß ein andrer sich ihm gleichgestellt und ihm mit Offenheit erwidert? Das fürstliche Bewußtsein schädigt doch das rein menschliche, und es kommt vielleicht nie dahin, daß ein Fürst sich nur als Mensch fühlt. Auch in der Seele Bronnens regte sich ein Mißgefühl, das umsomehr anwuchs, je länger der König schwieg und zur Seite blickte. Er ertrug dies Schweigen nicht länger und durchbrach die Schranke der Etikette; die darf es jetzt und hier nicht mehr geben. – Er sagte:

»Ich glaube, daß wenig Männer so groß gesinnt wären, einen Triumph, der ihnen geworden, in sich zu verbergen.«

Er war darauf gefaßt, als er diese Worte sprach, daß der König, der wohl merken mußte, wie dies auch nach andrer Seite hinzielte, sich plötzlich umwenden, ein vernichtendes Wort auf ihn schleudern wird. Er faßte sich in Trotz. Derjenige, dem er sein ganzes Innerstes in die Hand gegeben, darf nicht thun, als ob nichts geschehen; er muß Rede stehen.

Der König schwieg noch immer.

Bronnen setzte mit zitternder Lippe hinzu: »Sind Sie nicht auch der Meinung, Majestät?«

Der König wendete sich um.

»Sie sind mein Freund. Ich danke Ihnen und danke ihr. Sie sollen, wenn wir in Wolfswinkel ankommen, das höchste Zeugnis meines Vertrauens empfangen.«

»Ich glaube Eurer Majestät noch eine Mitteilung machen zu müssen.«

»Sprechen Sie.«

»Ich meine dem Zusammenhang der letzten Ereignisse auf der Spur zu sein. Bei den Abgeordnetenwahlen, die in den letzten Tagen vollzogen wurden, hatten Freunde im Gebirge auch an mich gedacht. Sie wußten, daß ich meinem konstitutionellen König mit aufrichtiger Seele ergeben bin.«

Ein flüchtiges Zucken ging über das Antlitz des Königs, und Bronnen fuhr in gelassener Rede fort:

»Ich habe indes den Wählern erklärt, daß ich nie eine Wahl annehme, die mich auf die Seite der Opposition drängen würde, und da müßte ich nun doch gegenwärtig stehen. Noch am letzten Tage wurde daher Graf Eberhard in den Wurf gebracht, und er nahm die Kandidatur wider alles Erwarten an. Nun haben die Freunde des jetzigen Ministeriums es nicht verschmäht, den Vater der Gräfin Irma dadurch verdrängen zu wollen, daß sie – ich spreche von Thatsachen, Majestät, es sind nicht bloß Meinungen – das Verhältnis der Tochter zu Eurer Majestät zur Ehrenentkleidung für den Vater machten.«

Der König warf die Cigarre weg, die er im Munde hatte, und sagte hastig:

»Fahren Sie fort, erzählen Sie weiter!«

»Graf Eberhard wurde dennoch gewählt. Als ich zum Leichenbegängnis auf Wildenort war, wurde mir mitgeteilt, daß er bei der Wahlversammlung zum erstenmal von der Stellung seiner Tochter erfahren habe, und auf dem Heimweg – ich habe der Sache nachgeforscht – hat er Briefe bekommen, die ihn erschütterten. Ja noch mehr. Hier, Majestät, dieses Stück von einem zerrissenen Brief habe ich am Wege gefunden, und der Wegknecht erzählte mir, daß der Graf damals Briefe zerrissen habe.«

Bronnen reichte das Papier hin, worauf die Worte standen – »Deine Tochter in Unehre genießt der höchsten Ehren –«

»Das kann die Schrift des heiligen Hippokrates sein« – murmelte der König vor sich hin.

»Ich bitte, Majestät, wenn Sie den geringsten Verdacht gegen den Leibarzt hegen, so setze ich für ihn meine ganze Ehre ein, und der Verlauf wird zeigen, daß ich das mit Recht thue.«

»Erzählen Sie weiter,« sagte der König ungeduldig; es war ihm unlieb, daß Bronnen so in ihn hineinforschte, das halb Gemurmelte verstanden hatte, und wenn er es verstanden, nicht – wie seine Pflicht war – überhörte: er darf nur hören, was man ihm ausdrücklich sagte.

»Auf jener Heimkehr aus der Wahlversammlung,« fuhr Bronnen ruhiger fort, »war es nun, wo Graf Eberhard vom Schlag getroffen, der Sprache beraubt wurde. In der letzten Minute seines Lebens war niemand bei ihm, als Gräfin Irma; man hörte von ihr einen gräßlichen Schrei, und als man hineinkam, lag sie am Boden und Graf Eberhard war tot. Wer weiß, was da geschehen ist. Daß aber in dieser letzten Minute etwas vorgegangen, das sie zu dem gräßlichen Entschlusse gebracht, ist mir unzweifelhaft.«

»Und was soll diese Kombination?« fragte der König.

Bronnen sah ihn staunend an.

»Majestät, sie soll weiter nichts, als uns diese Wirrnis klären.«

Nach diesen Worten trat wieder Stille ein und diese Stille gab den letzten Worten Bronnens eine besondere Bedeutung.

»Ja,« begann der König wieder, »alles klären, das hilft. Das war auch ihre Art, so naiv und klar zugleich, bewußt und naturmächtig. Gut. Es soll sein. Bronnen, was soll ich es zurückhalten? Ihnen darf ich alles sagen. Ich liebte die Gräfin, und jetzt, es quält mich, daß ich's denke, und darum lassen Sie mich's sagen: ich bin ihr jetzt fast gram. Sie hat mir durch diesen Selbstmord ein Schweres auferlegt für mein ganzes Leben. Ich werde all meine Tage diese Beschwernis nicht ablegen können. Sie mußte wissen, wie mich das belastet. Sagen Sie mir, unumwunden, ich bitte Sie darum, sagen Sie mir: ist dies Gefühl nicht gerechtfertigt?«

»Ich spreche nicht zum König, ich spreche zum Manne klaren Geistes und warmen Herzens –«

Bronnen machte eine Pause; es durchzuckte den König, so sich der angebornen Würde entkleidet zu sehen. Was wird der strenge Mann sagen, dem er befohlen hat, die Würde außer acht zu lassen.

»Sprechen Sie!« ermutigte der König dennoch.

»So will ich offen sagen,« begann Bronnen, »Mann zu Mann, Mensch zu Mensch. Es ist eine tiefe Regung der Wahrhaftigkeit in Ihnen, daß Sie sich vorwerfen, der Freundin gram zu sein, weil sie Ihnen solch ein trauriges ewiges Erbe hinterlassen. Das aber, was Sie quält, ist das Gespenst Ihrer eigenen That, Sie haben die Rechtssphäre dieses zu allem Besten berechtigten Wesens durchbrochen und verletzt, sei es auch, daß das eigene im schönen Wahnsinn aufflammende Wesen, wie ich glaube, mit Freuden sich opferte. – Damals begann das, was jetzt nur notwendige, naturgemäße Folge ist. Es ist das Gespenst Ihrer eigenen That, das Sie ruhelos macht und machen wird, bis Sie die Wahrheit erkennen. Jedem Menschen, so hoch er auch gestellt sei, stehen andre in ihrer Sphäre Vollberechtigte gegenüber und bilden eine Rechtsschranke. Haben Sie das erkannt und in klarer Erkenntnis der Sünde die Sünde überwunden, dann werden Sie frei – was auch geschehen sei. Der Aberglaube hat die Formel: ›Alle guten Geister loben den Herrn‹, mit der man jegliches Gespenst bannt! Für uns ist der gute Geist die klare Erkenntnis, die wir in uns anrufen, oder vielmehr deren Aufruf in uns wir zu Worte kommen lassen.«

Lange fuhr man still dahin. Das Angesicht Bronnens glühte, der König hüllte sich tiefer in seinen Mantel, ihn fröstelte, er hielt die Augen geschlossen. Endlich richtete er sich auf und sagte:

»Ich danke ihr. Sie hat mir einen Freund, einen wahren Menschen gegeben. Sie bleiben mir.«

Die Stimme des Königs war heiser. Er hüllte sich wieder tief in den Mantel, legte sich in die Ecke und schloß die Augen. Kein Wort wurde mehr gesprochen, bis man auf dem Jagdschlosse ankam. Der König sagte dem Gefolge, daß er sich nicht wohl fühle und auf dem Jagdschlosse bleiben werde. Alle zogen in den Wald, der König blieb mit Bronnen allein.

Die Königin saß nach dem Frühstück mit ihren Hofdamen im Musiksaal.

Es hatte sich heute der erste Herbstnebel über die Landschaft gelegt. Es wird ein schöner, frischer Tag.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 3