Fünftes Kapitel. - Mit festem Schritt ging Bruno die Treppe hinab. Er hatte das Pferd eine Strecke ...


Textsuche bei Gutenberg-DE:
Projekt Gutenberg-DE

* Startseite
* Genres
* Neue Texte
* Mitmachen
* Shop
* Information
* Spezial
* Impressum


Autoren A-Z:

* A
* B
* C
* D
* E
* F
* G
* H
* I
* J
* K
* L
* M
* N
* O
* P
* Q
* R
* S
* T
* U
* V
* W
* X
* Y
* Z

Alle
Berthold Auerbach
Auf der Höhe Dritter Band


Druckversion
Inhaltsverzeichnis


* Erstes Kapitel.
* Zweites Kapitel.
* Drittes Kapitel.
* Viertes Kapitel.
* Fünftes Kapitel.
* Sechstes Kapitel.
* Siebentes Kapitel.
* Achtes Kapitel.
* Neuntes Kapitel.
* Zehntes Kapitel.
* Elftes Kapitel.
* Zwölftes Kapitel.
* Dreizehntes Kapitel.
* Vierzehntes Kapitel.
* Fünfzehntes Kapitel.
* Erstes Kapitel.
* Zweites Kapitel.
* Drittes Kapitel.
* Viertes Kapitel.
* Fünftes Kapitel.
* Sechstes Kapitel.
* Siebentes Kapitel.
* Achtes Kapitel.
* Neuntes Kapitel.
* Zehntes Kapitel.
* Elftes Kapitel.
* Zwölftes Kapitel.
* Dreizehntes Kapitel.
* Vierzehntes Kapitel.
* Fünfzehntes Kapitel.
* Sechzehntes Kapitel.
* Siebzehntes Kapitel.
* Achtzehntes Kapitel.
* Neunzehntes Kapitel.

vorheriges Kapitel nächstes Kapitel

Fünftes Kapitel.

Mit festem Schritt ging Bruno die Treppe hinab. Er hatte das Pferd eine Strecke vom Schlosse wegführen lassen.

Wenn nur das dumme Sterben nicht wäre, sprach es in ihm, während er mit einem Fuß in den Steigbügel stieg. Da zerrte etwas hinter ihm an seinem Rock. Ist's die Hand des Vaters? Eine Geisterhand, die ihn zu Boden reißt? Er strauchelte zurück. Sein Rock hatte sich in eine Schnalle verfangen. Er machte sich los und war eben daran, die Reitpeitsche gegen den unachtsamen Jockey zu schwingen, da fiel ihm ein, wie das jetzt nicht am Orte sei. Der Vater ist krank, schwer krank, ja vielleicht, es kann doch sein, obgleich der Hausarzt solche Beruhigung gegeben – nein, jetzt darf man keinen Untergebenen strafen; es soll nicht heißen, daß Bruno in dieser Stunde einen Reitknecht gezüchtigt. Fitz, der die Schnalle in Ordnung brachte, duckte nieder, als ob er bereits den Peitschenstiel im Nacken spüre; erstaunt sah er auf, als sein Herr im mildesten Tone sagte:

»Ja, lieber Fitz, du hast auch nicht geschlafen und bist voll Unruhe, ich seh' dir's an. Leg dich jetzt noch eine Stunde zur Ruhe, du brauchst nicht mit mir zu reiten. Laß dein Pferd gesattelt. Wenn etwas hier im Hause passiert, so reitest du oder Anton mir nach und holst mich, immer den geraden Weg durch die Waldlichtung dort; oben beim Gamsbühel, beim Reitweg, bevor es in die Höhe geht, kehre ich um und reite durch das Thal zurück. Hörst du? Merk dir's! So, jetzt leg dich schlafen, sattle aber dein Pferd nicht ab, merk dir's, hörst du?«

Fitz sah staunend zu seinem Herrn auf, der nun davon ritt.

In kurzem Trab ritt Bruno dem Walde zu nach einer Lichtung, die zur Weide hergerichtet war; es ritt sich sanft hier auf dem Grasweg, und es war so erfrischend in der Morgenkühle.

Der goldene Morgenschimmer zitterte durch den Wald und glänzte auf den Tautropfen an Gras und Baum. Der Waldbestand rechts und links war prächtig, Bruno nickte: er hat das Forstwesen trefflich verstanden. Nein, das thu' ich ihm nicht an, ich lasse den Wald gut forsten, ich holze ihn nicht ab.

Jetzt ging's über eine ebene Strecke. Bruno gab dem Pferde die Sporen und setzte im frischen Galopp dahin. Plötzlich hielt er an; er war in einer Gegend, die er nicht kannte. Hier war doch vordem ein Sumpf, und nun weites Ackerland, darauf die gemähten Schwaden dicht beisammen liegen.

Bruno lenkte abseits zu den Knechten, die hier die Garben banden. Der Oberknecht berichtete dem jungen Herrn, daß der Vater den Sumpf trocken gelegt und dies nun zum besten Land des ganzen Gutes gehöre. Er reichte Bruno eine Handvoll Aehren und sagte: »Bringen Sie das Ihrem Herrn Vater. Er denkt auf seinem Krankenbett gewiß zu uns heraus.«

Bruno lehnte das ab und schenkte dem Oberknecht ein gutes Trinkgeld, dann ritt er weiter, rief aber dem Oberknecht nochmals zu, wenn der Reitknecht ihm nachkomme, solle er ihm sagen, sein Herr reite nach dem Gamsbühel.

Es war still und einsam im Walde, nur hinter sich hörte Bruno Peitschenknallen; die Knechte führten die erste Ernte vom neueroberten Felde ein. Er ließ das Pferd im Schritte gehen, hier sah ihn niemand, er steckte sich eine Cigarre an. Als er die Hochebene erreicht, ging's wieder im scharfen Trabe vorwärts. Hier weideten die Schafe. Auch auf den Schäfer ritt Bruno zu und gab auch ihm Auftrag wegen des nachfolgenden Reitknechts; es war ihm eine Beruhigung, daß er so viel Sorgfalt anwandte, damit man ihn sicher finde. Hinter ihm drein blökten die Schafe. Er schaute unwillkürlich um, das klang so jämmerlich; aber als ob er sich damit selbst beruhige, klatschte er den Hals des Pferdes, und indem er es dann scharf in die Zügel nahm, richtete er sich selbst wieder stramm auf. Der Weg führte wieder über einen Durchschlag. Drunten lag das Thal im hellen Sonnenglanz. Der Gedanke durchzuckte ihn: Da sind so viel armselige Menschen, die nichts haben und ihre Tage mit der Sorge verbringen, wie sie nur leben sollen – warum kann man ihnen nicht ihre Lebenskraft abkaufen, ihre Jahre zu den seinen nehmen und immer weiter leben? Das dumme Volk hat recht, wenn es uns für nichts mehr hält, wie sie, da wir ja auch sterben müssen, an denselben Krankheiten wie sie ... Hier lebt alles fort, Baum und Tier und Mensch, und dort oben im Schlosse liegt ein Mann, wie sie meinen, im Sterben, vielleicht stirbt er jetzt in diesem Augenblick. Diese Luft trägt seinen letzten Hauch, wo ist er? Warum fährt nicht ein Todesschauer durch all sein Besitztum, durch Baum und Mensch und Tier? Alles müßte mit ihm leben, mit ihm sterben! Es ist sein. Diese Armseligkeit ...

»Ich bin ein armes Weib, schenken Sie mir was!« sprach den Reiter plötzlich eine Gestalt an, die aus dem Dickicht hervorhuschte. Es war die alte Zenza.

Bruno schrak zusammen, als wäre ihm ein Gespenst erschienen. Er gab seinem Pferde die Sporen und jagte davon, die Haare sträubten sich ihm empor, er kam lange nicht zur Ruhe.

Wie von selbst setzte sich die abgebrochene Gedankenreihe fort, und der Anruf der Alten verknüpfte sich darein: Schenk mir was ... Wenn alles stürbe mit dem Besitzer, wer würde erben? Was ist dem Menschen mehr zu eigen, als seine Gedanken? Und sie sterben doch mit ihm ...

»Ich will nicht denken,« sagte Bruno plötzlich laut. »Ich will nicht! Morgen, übermorgen, später, nur jetzt nicht; jetzt will ich euch Gedanken nicht!«

Er lüftete den Hut, als müßten dadurch alle Gedanken davonfliegen, dann schlug und spornte er das Pferd, daß es sich hoch aufbäumte und wild davon rannte. Die Sorgfalt, fest im Sattel zu sitzen, erlöste ihn von aller übernächtigen Grübelei, denn als solche erschien ihm das Sinnen und Denken. Er saß fest, preßte dem Pferd die Schenkel in die Rippen und die körperliche Anstrengung that ihm wohl. Dennoch mußte er plötzlich wieder an den Vater denken. Er spürte ein Zucken in der Brust ... in diesem Augenblick mußte es sein ... jetzt entfuhr der Brust des Vaters der letzte Atem ... Die Hand Brunos zuckte unwillkürlich. Das Pferd hielt an. Wieder gab er ihm die Sporen und jagte davon, er jagte seine Gedanken davon. Da rief eine Stimme:

»Bruno, halt ein!«

Es durchschauerte ihn. Was ist das für eine Stimme? Wer ruft ihn hier bei seinem Namen? Kalter Todesschweiß trat ihm auf die Stirne.

»Wer ruft mich?« fragte er mit blasser, bebender Lippe.

»Du kannst nicht zu mir!«

»Wer bist du? Wo bist du?« rief Bruno. Es überschauerte ihn kalt, und das Pferd schnaubte. Ist es denn wahr, daß Hexen im Felsen wohnen? Dort aus dem Felsen kommt die Stimme.

»Wer bist du?« wiederholte Bruno. »Deine Stimme klingt mir –«

»Kennst du sie noch? Die schwarze Esther? Kehr um, du bist des Todes!«

Es raschelte etwas den Berghang hinab, Bruno saß erstarrt auf dem Pferde. Endlich ließ er die Hand vom Zügel, betrachtete seine Hand, zog den Handschuh aus, wie um sich zu vergewissern, daß er noch lebe, daß noch Tag ist, nicht alles ein Traum, wilde Ausgeburt ruheloser Phantasie ...

Das Pferd ging ruhig weiter. Plötzlich sprang es mit einem mächtigen Satz seitwärts – ein Schuß knallte.

Wer jagt jetzt hier?

Bruno war bereits aus dem Bereich seines Besitztums. Wer jagt im königlichen Forst, wo erst im nächsten Monat die Jagd aufgeht?

Mit einem gewissen Behagen faßte Bruno seinen Schnurrbart. Er hatte wieder ein klares Selbstgefühl, er kannte die Dinge der Welt. Er griff nach dem Revolver in der Satteltasche und sah ruhig nach, ob alles schußbereit. Das Pferd ging weiter. Da sah er an einem Baume einen Flintenlauf auf sich gerichtet und hinter dem Baume hervor rief eine Stimme:

»Kehr um, oder ich schieß' dich nieder! Eins! Zwei! Drei –«

Bruno wandte sein Pferd, aber vom Wirbel bis zur Zehe erzitterte er, hinter ihm war ein geladener Flintenlauf, jede Minute konnte ihn die Kugel durchbohren – der kalte Schweiß rann ihm vom Gesicht, die Augen brannten ihm, er wagte nicht die Hand zu bewegen; der Wilderer hinter ihm kann diese Bewegung mißverstehen und ihn rücklings niederschießen.

Erst als er an der Felsenecke ankam, wo die schwarze Esther ihn vorhin angerufen und so geheimnisvoll verschwunden war – sie hat ihn gewarnt, sie hat seiner Liebe nicht vergessen und er will fortan für sie sorgen – erst dort wagte er, wieder aufzuatmen. Er gab dem Pferde die Sporen und jagte dahin, er wußte nicht mehr wohin, und erst als er bebautes Feld vor sich sah, darauf Landleute arbeiteten, stieg er ab und setzte sich auf den Boden.

Im ersten Gefühl der Rettung stieg ein guter Vorsatz in ihm auf. Er wollte zurückkehren, sich reuevoll vor dem Vater niederwerfen und seine letzte Vergebung erbitten; er wollte ihm sagen, daß er nun für die schwarze Esther, die die erste Ursache des Zerfalls zwischen ihnen beiden gewesen, sorgen wolle. Aber er fühlte sich so matt, daß er sich nicht erheben konnte, und in ihm sprach's: Du kannst nicht! Zwei solche Erschütterungen an einem Tag kannst du nicht ertragen, und gewiß nicht heute, erst morgen, vielleicht später, wird das Unvermeidliche eintreten.

Wie zerschlagen in allen Gliedern richtete er sich endlich auf und fragte die Leute auf dem Feld, wo er denn sei; er erfuhr, daß er weit ab vom Weg.

Wenn jetzt der Jockey ihm nachreitet und ihn nicht findet?

Bruno fühlte sich in seinem Gewissen beruhigt, er hat das ja nicht gewollt – ein böses Schicksal, eine unbegreifliche Verkettung aller Schrecken hatte ihn vom Wege abgeleitet.

Niemand hier kannte ihn. Da hörte er plötzlich Musik. Viele Wagen, mit grünen Zweigen bekränzt, fuhren die Straße dahin.

»Was ist das? Ist das eine Hochzeit?« fragte er den Bauer, der ihm Bescheid um den Weg gegeben hatte.

»Ich weiß nicht, ich glaube, es sind die Leute aus der Stadt, die können in der Ernte spazieren fahren; es sind vielleicht die von der Abgeordnetenwahl.«

Bruno stieg wieder auf. Der Bauer sah ihn seltsam an, da er um den nächsten Weg nach Wildenort fragte; er bezeichnete ihm einen Reitweg, der sich nicht fehlen ließ. Aber Bruno wollte heute lieber auf der Landstraße bleiben, er hatte keine Freude mehr am Wald, er ritt die Straße entlang; er kam an einer großen Wagenreihe vorbei, der eine Musikbande mit schwarz-rot-goldener Fahne voraufzog. Er ritt rasch vorbei, abseits. Er wollte keine Musik hören.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 3