Achtes Kapitel. - Es war tief in der Nacht. Alles schlief. ...

Es war tief in der Nacht. Alles schlief.

Irma öffnete leise und schlich hinaus.


Sie ging nach der Totenkammer. Ein einsames Licht brannte zu Häupten des Toten: er lag im offenen Sarg, ein Büschel Aehren zwischen den Händen. Der Diener, der bei der Leiche wachte, sah Irma groß an: er nickte nur und sprach kein Wort.

Irma faßte die Hand des Vaters. Wenn diese Hand segnend auf ihrem Haupte geruht hätte, statt daß sie ...

Sie kniete nieder und küßte mit heißer Lippe die eisig kalte Hand. Ein Gedanke, ein Blitz, ein sinnverwirrender, zuckte durch ihre Seele: Das ist der Kuß der Ewigkeit! Flammende Lohe und Eisesstarren drängten sich zusammen. Das ist der Kuß der Ewigkeit ...

Als sie in ihrem Zimmer erwachte, wußte sie nicht mehr, hatte sie geträumt oder war es in Wirklichkeit geschehen – sie hatte die tote Hand des Vaters geküßt; aber das spürte sie: tief in ihrem Innersten ruht etwas wie ein eisiger Tropfen, unbeweglich, unvertilgbar.

Der Kuß der Ewigkeit – du wirst keine warmen Lippen mehr küssen – du bist dem Tode vermählt.

Sie hörte die Glocken läuten, man trug ihren Vater zu Grabe; sie verließ das Gemach nicht, kein Ton kam von ihren Lippen, keine Thräne aus ihrem Auge; alles in ihr war stumm, dumpf und zerbrochen.

Sie lag im Dunkel. Wenn die Tauben auf dem Fenstersims draußen girrten und davonflogen, dann wußte sie, daß es Tag war.

Bruno war im höchsten Grade ärgerlich über das exzentrische Wesen seiner Schwester. Er wollte abreisen, sie sollte ihn begleiten oder doch sagen, was sie vorhabe. Sie gab keine Antwort. Endlich trat er zur Reise gerüstet in das Vorzimmer Irmas: hier saß das Kammermädchen und las in einem Buche.

Bruno hatte die Hand ausgestreckt, um ihr unter das Kinn zu fassen, aber schnell erinnerte er sich, daß er ja in Trauer war; er zog auf halbem Wege die Hand wieder zurück.

Er übergab dem Kammermädchen seinen Hut, daß sie einen Trauerflor darum nähe, und streichelte dabei zufällig ihre Hand. Dann ging er nochmals an die Thür seiner Schwester.

»Irma,« bat er, »Irma, sei doch vernünftig, gib doch endlich eine Antwort!«

»Was soll ich?« fragte es drinnen.

»So öffne doch!«

»Ich höre,« antwortete sie und öffnete nicht.

»So laß dir sagen: Es hat sich kein Testament des seligen Papa vorgefunden. Ich werde alles mit dir brüderlich ordnen. Willst du nicht mit zu meiner Familie reisen?«

»Nein.«

»So reise ich allein. Adieu!«

Er erhielt keine Antwort, er hörte, wie sich Schritte von der Thür entfernten, und wendete sich um. Das Kammermädchen hatte den Flor um den Hut genäht, Bruno küßte ihr die Hand und gab ihr ein reichliches Geschenk.

Dann reiste er ab.

Es war ihm ganz recht, daß er ohne Irma reisen konnte; er kann sich eher gehen lassen und ist von niemand geniert, und seine Philosophie befiehlt: nur keine unnötige Trauer! Das hilft zu nichts und man verdirbt sich nur damit die Tage.

Er war unterwegs sehr zufrieden mit sich. Das Gut Wildenort behält er des Namens wegen für sich; es ist nur klein und man könnte ohne eine Stellung im Staat nicht standesgemäß davon leben. Er will Irma, wenn sie sich, was hoffentlich bald geschieht, verheiratet, den ganzen Schätzungswert des Stammgutes als Mitgift geben.

Bruno reiste nach der Residenz, und sein erster Ausgang, nachdem er seine Familie besucht, war in den Jockeyklub, der jetzt in Permanenz versammelt war. Mit einem mäßigen Reuegelde wollte er seine Pferde vom Wettrennen zurückziehen, das in den nächsten Tagen stattfinden sollte; er ist in Trauer, man wird Rücksicht darauf nehmen. – Auf dem Wege begegnete ihm der Leibarzt, Bruno kehrte um. Der Leibarzt ging nach dem Schlosse.

Noch nie hatte man den Mann, der als der Unerschütterliche bei Hofe galt, so bewegt gesehen, als da er die Nachricht vom Tode des alten Grafen Wildenort brachte.

Er erzählte der Königin von den Erweckungen aus besten Tagen, die sich Eberhard in der letzten Stunde wieder wach gerufen, aber er konnte doch nicht unterlassen, hinzuzufügen, daß der dahingegangene Freund den Hochpunkt nicht erreicht, nach dem er so redlich gestrebt; denn er hatte noch in der letzten Stunde nach äußeren Handhaben getastet und mußte sich das Errungene neu einprägen. Die Königin sah verwundert auf den Mann, der in seiner tiefsten Ergriffenheit noch so streng urteilen konnte.

»Wie trägt es unsre Irma?« fragte sie.

»Schwer und still, Majestät,« erwiderte der Leibarzt.

»Ich meine,« sagte der König zur Königin, »wir sollten unsrer Freundin schreiben und ihr einen Boten schicken.«

Die Königin stimmte bei, und der König sagte laut zum Schloßhauptmann:

»Die Königin will sofort einen Kurier an die Gräfin Irma schicken, wollen Sie das Nötige veranlassen. Schicken Sie den Lakaien Baum.«

Die Königin stutzte. Warum sagt der König, daß sie einen Boten schicken wolle, während er doch dazu angeregt hatte und sie nur beistimmte? Ein Schreck durchzuckte sie, aber sie bezwang ihn schnell und machte sich Vorwürfe, daß der böse Blutstropfen, der sich einst in ihr geregt, noch nicht ganz verschwunden sei. Sie ging in ihr Kabinett und schrieb an Irma. Auch der König schrieb.

Baum machte ein sehr bescheidenes, sehr untergebenes Gesicht, als ihm der Schloßhauptmann den Befehl gab, sich sofort bereit zu machen, um als Kurier zur Gräfin von Wildenort zu reisen; er solle bei der Gräfin bleiben, sie nie verlassen, und wenn sie auf Reisen gehen wolle, so werde er sie begleiten bis zu ihrer Rückkehr an den Hof.

Als Baum mit den Briefen abreiste, hatte er ein ganz andres Gesicht, es war triumphierend; jetzt ist er auf dem Punkt, das große Los zu gewinnen, man hat ihm den delikaten Auftrag gegeben, er weiß, woran er ist, man versteht ihn und er versteht die andern. Er wendete sich zum Schlosse zurück und seine Mienen waren jetzt gar nicht mehr unterthänig; unter der vorgehaltenen linken Hand sagte er fast laut zu sich, indem er mit der rechten die Brust streichelte: »Als gemachter Mann kehre ich zurück, und mindestens Oberkämmerer muß ich sein.«

Baum kam auf dem Herrenhause an. Die Kammerjungfer sagte, daß Irma niemand spreche und niemand sehe.

»Wenn sie nur aufschreien möchte, der stille Schmerz tötet sie,« klagte die Kammerjungfer.

Es wurde an die verschlossene Thüre Irmas geklopft; man mußte lange auf Antwort warten. Endlich fragte Irma, was es gebe? Sie mußte sich an der Thürklinke festhalten, da sie die Stimme Baums erkannte. Ist vielleicht der König selbst gekommen?

Baum sagte, daß er als Kurier Ihrer Majestäten geschickt sei, um einen Brief abzugeben. Irma öffnete nur so weit, daß sie ihre Hand herausreichte, nahm den großen Brief herein, legte ihn auf den Tisch; – sie hatte nichts von der Welt draußen zu erfahren, die Welt draußen kann ihr keinen Trost geben, niemand.

Endlich gegen Abend schlug sie die Vorhänge zurück und entsiegelte das große Couvert. Es lagen zwei Briefe darin; der eine trug die Ueberschrift von der Hand der Königin, der andre von der des Königs. Sie entfaltete den Brief der Königin zuerst und las:

»Du liebe, gute Irma!

(Die Königin nannte sie zum erstenmal »Du«. Irma wischte sich mit einem Tuche über das Gesicht und las weiter.)

Du hast den schwersten Schmerz des Lebens erfahren. Ich möchte bei Dir sein, Dein schwerpochendes Herz an das meine drücken und die Thränen Dir von den Augen küssen. Ich will Dich nicht trösten, nur Dir sagen, daß ich mit Dir fühle, soweit man fühlen kann, was man nicht selbst erfahren. Du bist stark, edel und harmonisch, ich muß Dir's zurufen,

(Die Hand Irmas zitterte, als sie dies las.)

»damit Du Dich Deiner selbst erinnerst und Deinen Schmerz schön und rein trägst. Du bist verwaist, aber die Welt darf Dir nicht öde und leer sein. Dir leben befreundete Herzen. Ich freue mich, oder vielmehr ich danke dem Schicksal, daß ich im Leid Dir etwas sein kann. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich Deine Freundin bin, aber es thut in solchen Stunden gut, wenn man sich das sagt. Ich möchte keine Stunde vergnügt leben, während Du in Trauer bist. Alles ist uns gemeinsam.

(Irma bedeckte sich das Gesicht mit der Hand. Sie faßte sich und las weiter.)

»– Laß mich bald wissen, was ich Dir sein kann. Komme zu mir oder bleibe in Einsamkeit, wie es Deine Natur erheischt. Könnte ich nur Dir den Genuß Deiner selbst geben, wie wir ihn empfinden! Du weißt gar nicht, wie Großes Du geleistet. Du hast das Reich unsrer Empfindungen vermehrt. Das ist die schönste Eroberung. Sei stark in Dir und wisse, daß Du einen Halt hast an Deiner Dich innig liebenden

Mathilde.«

Irma legte den Brief auf den Tisch, aber sie schob ihn unwillkürlich weit weg von dem des Königs, der noch unentfaltet hier lag. Jahre mußten vergehen, Meere dazwischen liegen, bevor man nach diesen Worten die des Königs vernehme. Und doch – wie oft hat sie mit einem Atem und einem Blick ihn und sie gehört und gesehen.

Mit einer heftigen Bewegung wie im Zorn erbrach sie den Brief des Königs und las:

»Es ist mir tief schmerzlich, daß auch Sie, meine holde Freundin, erfahren müssen, daß Sie das Kind eines Sterblichen sind. Ich bejammere, daß Ihre schönen Augen weinen. Wenn auch das Erhabenste noch der Läuterung fähig – und welches sterbliche Wesen wäre dessen nicht? – so wird dieser Schmerz Ihren Hochsinn noch erhöhen. Aber bitte, steigen Sie nicht zu hoch, um uns so nieder und tief zu finden. Nehmen Sie uns mit auf Ihre Höhe.«

Die Mienen Irmas nahmen einen bitteren, versteinerten Ausdruck an. Sie las weiter:

»Wenn Sie länger als sieben Tage Ihr schönes Auge mit Thränen und Ihr hohes Herz mit Seufzern quälen und allein leben wollen, so lassen Sie mich das durch ein Wort wissen. Wollen Sie Ihre Trauer verlängern, auf einer Reise sich selbst und ein andres Selbst wiederfinden, so bestimmen Sie, wohin Sie zu reisen gedenken; nur nicht zu weit weg, nicht zu weit in das Land der Schmerzen, in ein Ihnen fremdes Land. Sie sollen froh sein, heiter und schnell überwinden.

Ihr wohlgeneigter K.«

In dem Brief lag noch ein Zettel mit der Überschrift:

»Sofort zu verbrennen.«

»Ich kann nicht leben ohne Dich, ich verliere mich selbst, wenn ich Dich verliere. Gegenwart allein ist Leben. Ich kann nur im Lichte Deiner Augen atmen, ich will keine Wolken, ich verlange Sonne. Erinnere Dich, welch eine Welt von Gedanken Du unter Deinem geflügelten Hut beherbergst. Laß diese Welt herrschen! Du darfst nicht traurig sein, Du darfst nicht! Um meinetwillen. Du mußt des Schmerzes Herrin weiden, wie Du Herrin bist über mich! Sei stark, schwing Dich hinweg über alles! Komm zu

Deinem Kurt.

Der Kuß der Ewigkeit! Ich allein kann die Wolken, alles Trübe von Deiner Stirn wegküssen, ich kann und ich will.«

Irma schrie laut auf, ein krampfhaftes Lachen bewältigte sie. Kann ein Mund diese Stirne küssen? Wie schmeckt der Todesschweiß, der sich hier eingeäzt? Wie schmeckt das entsetzliche Wort auf den Lippen? Küsse es weg! Küsse es weg! Es brennt, es friert. –

Diese letzten Worte allein hörte die Kammerjungfer; sie wollte zu Irma eilen; die Thür war verschlossen.

Nach geraumer Zeit erhob Irma das Haupt und war verwundert, sich am Boden zu finden; sie stand auf und ließ sich Schreibzeug und Licht bringen. Sie verbrannte beide Briefe des Königs, hielt eine Weile das schwere Haupt in beiden Händen, dann faßte sie die Feder und schrieb:

»Königin!

Ich büße meine Schuld mit dem Tode. Vergib und vergiß.

Irma.«

Sie schrieb auf den Umschlag: »Durch die Hand Gunthers. An die Königin selbst.«

Dann nahm sie ein neues Blatt und schrieb:

»Dem Freunde!

Zum letztenmal spreche ich zu Dir. Wir sind auf dem Irrwege, auf dem entsetzlichen. Ich büße. Du gehörst nicht Dir. Du gehörst ihr und der Gesamtheit. Du mußt im Leben büßen, ich mit dem Tode. Fasse Dich, sei eins mit dem Gesetz, das Dich an sie und an die Gesamtheit bindet. Du hast beide verleugnet, und ich, ich habe dazu verholfen. Unser Leben, unsre Liebe hat das Entsetzlichste über Dich gebracht. Du konntest nicht mehr wahr sein vor Dir selbst. Du sollst es wieder und ganz werden. Das rufe ich Dir sterbend zu und ich sterbe gern, wenn Du mich und Dich erhörst. Die ewige Natur weiß, daß wir nicht sündigen wollten, aber es ist geschehen. Mir ist mein Urteil auf die Stirn geschrieben, fasse Du das Deine im Herzen und lebe neu. Dein ist noch alles. Ich empfange den Kuß der Ewigkeit vom Tode, Höre diese Stimme und vergiß sie nicht! Vergiß aber die, die sie Dir zuruft. Ich will kein Gedenken.«

Sie versiegelte die Briefe und versteckte sie schnell in der Mappe, denn sie wurde unterbrochen. Man meldete Emmy, oder vielmehr Schwester Euphrosyne.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 3