Sechstes Kapitel. - »Wie lebt ihr denn im Winter auf dem Lande?« fragte die Königin, als sie ...

»Wie lebt ihr denn im Winter auf dem Lande?« fragte die Königin, als sie nachdenklich bei der Wiege des Kindes, das nun schon lange aufrecht saß, weilte.

»Ganz gut,« erwiderte Walpurga, »aber das Holz wird leider auch schon bei uns teuer und man ist doppelt froh, wenn's wieder Frühjahr wird; freilich zur Winterszeit hat mein Hansei guten Verdienst, da kann man das Holz auf der Schneebahn zu Thal bringen. Meine Mutter sagt immer: Unser Herrgott ist doch der oberste Straßenmeister, der kann Wege machen und das Holz bringbar, wo sonst kein Mensch hin kann,«


»Du hast eine brave Mutter, grüße sie von mir, und wenn ich wieder einmal ins Gebirge komme, besuche ich sie.«

»O Gott, wenn das wäre!«

»Nun sage mir,« nahm die Königin wieder auf, »womit vertreibt ihr euch im Winter die Zeit?«

»Wenn die Hausarbeit gethan ist, dann spinnt das Weibervolk, und die Männer gehen am Tag in den Wald und schlagen Holz und am Abend sind sie müde, selten einmal, daß einer Lichtspäne macht.«

»Und da singt ihr auch?«

»Ja gewiß, warum nicht?«

»Und lest ihr euch nie etwas vor?«

»Nein, nie. Erzählen thun wir gern und einander recht fürchten machen.«

»Und tanzt ihr auch manchmal?«

»Ja, zu Fastnacht, aber es ist nicht mehr viel; zu alten Zeiten soll's besser gewesen sein.«

»Und habt ihr nie Langeweile?«

»Nein, gar nicht, wir haben keine Zeit dazu.«

Die Königin schaute lächelnd in die Astrallampe, die auf dem Tische stand. Wie viel Mittel braucht die vornehme Welt, um die Stunden los zu werden.

Als ob sie einen langen Satz vorher angeführt hätte, sagte sie endlich:

»Und du weißt gewiß, daß dein Mann dir immer getreu ist? Es kommt dir nie ein andrer Gedanke?«

»Meine Mutter sagt oft, alle Männer seien nichts nutz, aber meinen Hansei nimmt sie aus. Er thäte sich ins Herz hinein schämen, einer andern ein schön Wort zu sagen; das thät ihm nachlaufen Tag und Nacht und er könnte keinem mehr frei ins Auge schauen. Er ist keiner von den Gewitzigten, im Gegenteil, aber brav, grundbrav, ein bißchen karg und genau im Geld, und immer in Sorgen, wir könnten einmal in Not kommen; aber daran hat er sich ja gewöhnen müssen, wenn man sein Lebenlang so die Kreuzer zusammensparen muß. Aber gottlob, das ist ja jetzt vorbei.«

Wenn Walpurga einmal zu erzählen angefangen hatte und man sie nicht unterbrach, so sprudelte es, wie ein Röhrbrunnen aus der Bergwand immer fort. Sie erzählte nun tausenderlei kleine Geschichten, wie sie sich zum erstenmal drei Gänse angeschafft habe, zwei weiße und eine graue, wie viel Federn sie davon gewonnen, die sie nachher so gut verkauft habe; aber Enten, die halte sie sich jetzt acht Stück, die seien viel nützlicher, die kosten fast gar kein Futter, und ihre Ziege die sei gar gescheit. Einmal hätten sie auch einen Hammel gehabt, aber das sei nichts, die gehören in die Herde und gedeihen nicht allein. Zuletzt kam Walpurga wieder darauf, daß sie's noch gar nicht glauben könne, da sie zwei eigene Kühe im Stalle hätte, ihr Lebenlang hätte sie nicht geglaubt, daß man sich so viel wünschen könne; und dann erzählte sie vom Gemswirt, dem sei eigentlich nicht zu trauen, aber man müsse sich doch mit ihm halten, denn wenn man mit dem verfeindet wäre, sei man im Dorf wie ausgestoßen und das Haupthaus sei einem verschlossen. Der Gemswirt wende einem auch einmal einen Vorteil zu, wenn er keinen Schaden dabei habe, er habe ihre Enten ganz gut bezahlt, auch die Fische bezahle er gut, und wenn man einmal in Verlegenheit sei, wüßte man doch, wo man ein paar Kreuzer geborgt kriege; sie wolle ihm auch eigentlich nichts Böses nachsagen, er sei ihr einmal keck gekommen, und da habe sie ihm den Weg gewiesen, daß er sein Lebenlang daran denkt. Die Königin solle ihm ja nichts thun, er sei im ganzen genommen auch gut, er sei eben ein Wirt. Aber gar so viele gute Menschen seien da, freilich schenken thut einem niemand etwas, und sie möchte auch nichts geschenkt – aber wenn man weiß, daß da überall an den Halden Menschen wohnen, die einen gern haben, da ist einem die ganze Gegend wie eine geheizte Stube.

Die Königin lachte.

Walpurga sprach immer weiter und weiter, und je mehr sie sprach, desto mehr plauderte das Kind und schlägelte mit den Händen und jauchzte, die Stimme der Walpurga that ihm gar wohl, und Walpurga sagte:

»Sehen Sie, er ist grad wie ein Kanarienvogel; wenn recht viel in der Stube durcheinandergesprochen wird, da singt er auch lustig mit. Gelt, du Kanarienvogel,« rief sie, den Kopf gegen das Kind schüttelnd, und das Kind jauchzte noch lauter.

Die Königin fuhr sich mehrmals mit der Hand übers Gesicht. Die Berichte der Walpurga versetzten sie in eine ganz andre Welt, So also leben Menschen unter dir, neben dir, fern von dir; sie verbringen ihre Lebenstage in Arbeit und Sorge, und sind doch glücklich.

»Warum schauen Sie so traurig drein?« fragte Walpurga,

Die Königin erwachte. Niemand sonst hatte so in ihr Antlitz gesehen, niemand konnte und wollte sie so fragen,

Die Königin antwortete nicht und Walpurga fuhr fort:

»O, liebe Frau Königin, ich kann mir's denken, Sie haben's schwer. Wenn ein Mensch sein Lebtag alles hat in Hülle und Fülle, das hat auch sein Böses. Man hat den Himmel schon auf der Welt. Sind Sie sich denn auch einmal recht einsam und verlassen vorgekommen? Wenn man da in Trauer aufwacht und man hat noch seine gesunden Glieder, und kann schaffen und die Sonne ist noch da und gute Menschen – da erst ist man recht daheim auf der Welt. O gute Frau Königin, fassen Sie nur ihr Glück recht ins Herz und seien Sie nicht traurig.«

»Heute wird Wilhelm Tel! gegeben,« sagte die Königin nach einer langen Pause, es mußte sie etwas in Walpurga daran erinnert haben. »Ich möchte, daß du auch einmal ins Theater gingest,« setzte sie hinzu.

»Ich möcht' auch schon, die gute Mamsell Krämer hat mir viel davon erzählt, das muß ja prächtig sein; aber ich kann ja mein Kind nicht mitnehmen, und so lang kann ich es nicht allein lassen. Sehen Sie, was er gleich für ein bitteres Gesicht macht und aufhorcht? Der versteht alles, was wir hier reden. Ich wette meinen Kopf, er versteht jedes Wort.«

Der Knabe weinte plötzlich, Walpurga nahm ihn auf den Arm, hätschelte ihn und sang in Schnaderhüpferlweise:

»Ich will kein Theater,
Ich will nirgends hin,
's ist besser und g'rader,
Wenn ich bei dir bin.«

Der Prinz wurde ruhig und schlief ein.

»Ja, du hast recht,« sagte nach einer Weile die Königin, »bleib wie du bist, und wenn du einmal wieder heimkehrst, denk nur nicht zurück; denk nur, du hast's am besten auf der Welt!«

Die Königin ging und Walpurga wollte der Mamsell Kramer sagen, daß sie die Königin so schwergemut finde: was denn vorgehe im Schlosse? Aber ein innerer Takt hielt sie zurück. Die Königin war so traulich und schwesterlich mit ihr, sie darf mit niemand andrem über sie sprechen und vielleicht will die Königin andre Leute gar nicht wissen lassen, daß sie traurig ist.

Viele Tage war eine Wallfahrt der Hofdamen und Hofkavaliere zu Walpurga, denn man konnte etwas sehen, was man gar nicht mehr kannte. Walpurga hatte vom Leibarzt die Erlaubnis bekommen, daß sie sich eine Kunkel anschaffen und spinnen durfte. Mit der Spindel spinnen, das war ja wie ein Märchen, das hatten von den Herren und Damen noch wenige gesehen, und sie kamen und sahen Walpurga mit verwunderten Augen: diese aber lachte immer glücklich, wenn sie wieder einen frischen Faden auf die Spindel rollte.

Alle Leute vom Hofe betrachteten die Spindel, und der Salontiroler erklärte, wie dies das Werkzeug sei, mit dem Dornröschen sich verletzt hatte.

Wieder war Irma die Beneidete, denn auch sie verstand zu spinnen und kam bisweilen wie eine Nachbarin auf dem Dorfe und heftete Walpurga an; die beiden saßen an einer Kunkel und spannen von einem Rocken und sangen gemeinsam helle Lieder dazu.

»Was soll denn aus dem werden, was wir da spinnen?« fragte Irma.

Walpurga war ärgerlich, daß durch dies Berufen der Zauber gestört war. Sie sagte:

»Hemdchen für meinen Prinzen! Aber das darf nur von meinem eigenen Gespinst sein.« – Sie legte fortan die vollen Spindeln Irmas besonders. Nur die Faden, die sie aus ihrem Munde genetzt, sollten einst den Prinzen bekleiden.

Irma konnte nicht umhin, das Vorhaben der Walpurga dem Baron Schöning zu erzählen, und dieser machte schnell ein passendes Gedicht darauf, wobei er auf den Sagenkreis anspielte, wie eine Fee oder eine verwunschene Prinzessin Linnen spann für ihren Liebling. Die Königin freute sich des Gedichts und zum erstenmal lobte sie mit voller Aufrichtigkeit die Verskunst des Salontirolers.

Walpurga saß am Spinnrocken. Sie erzählte dem Prinzen in der Wiege die Geschichte vom Karpfenkönig im See, der drunten auf dem Grunde schwimmt; er ist schon 7000 Jahre alt, und hat eine Krone auf dem Kopf und einen mächtig langen Bart, und über ihm schwimmen Millionen Fischchen und spielen Fangens miteinander, und wenn eins davon bös ist und neidisch und zänkisch und unfolgsam, da kommt der böse Hecht und frißt ihn, und dann kommt der Fischer und fängt den Hecht, und dann kommt die Köchin und schneidet den Hecht auf, und dann springen dir kleinen Fische heraus und wieder in den See, und werden wieder lebendig und erzählen was sie erlebt haben, und wie es so finster ist in dem Bauch von dem Hecht und nicht so hell wie im See, und der Hecht wird in Stücke geschnitten und wird aufgegessen, und wenn man da nicht aufpaßt, so kriegt man eine Gräte in den Mund und muß husten, und Walpurga hustete mit vieler Kunstfertigkeit.

Plötzlich ging die Thür auf und zum Schrecken der Walpurga trat ein schöner junger Offizier herein, ging gerade auf sie zu, grüßte militärisch, zwirbelte seinen Schnurrbart und fragte:

»Habe ich die Ehre, die Zauberspinnerin, genannt Walpurga Andermatten, von der Gstadlhütte am See vor mir zu sehen?«

»Ja, lieber Gott, ja, was ist denn?«

»Ich bin gesandt vom Geist Kußschmatzky, und er befiehlt der Walpurga, daß sie mich dreimal küsse, um mich zu erlösen.«

Walpurga zitterte am ganzen Leibe, sie hat's verschuldet, warum hat sie dem Kind so viele Märchen erzählt? Jetzt wird's wahr, da ist's ja. Plötzlich fiel ihr der Offizier um den Hals und küßte sie mit aller Macht, und dann lachte der Offizier, daß er sich nicht mehr halten konnte, und setzte sich auf einen Stuhl und rief:

»Also du kennst mich wirklich nicht? Das ist ja prächtig! Kennst deine Freundin Irma nicht mehr?«

»Du Schelm, du nichtsnutziger Schelm, du!« platzte Walpurga heraus. »Verzeihen Sie, gnädige Gräfin, aber wer kann auch so was denken? Und Sie haben mir auch so Angst gemacht. Ja, was ist denn jetzt das? Ist denn hier schon Fastnacht?«

»Walpurga, wenn du französisch verstündest, könntest du mich heut abend in einem französischen Lustspiel sehen. Der König spielt auch mit. Es ist wirklich schade, du wärst mir das liebste Publikum. Aber ich habe jetzt schon genug Beifall. Du hast mich nicht erkannt. Das freut mich.«

»Und mir thut es von Herzen leid,« sagte Walpurga, ernst werdend mit ganz verändertem Angesicht, »O, liebe Gräfin, wissen Sie denn auch, was Sie da thun? Das ist ja die größte Sünde, Mannskleider anziehen, da ist ja der Teufel Herr über einen. Ja, lachen Sie nicht, ich bin nicht so einfältig, wie Sie meinen. Das ist gewiß und wahr. Beim Großvater vom Grubersepp, da war eine Tochter und die hat einen Schatz gehabt, der war im Krieg, und da ist eine Magd hingegangen und hat sich als Soldat verkleidet, und ist zu der Tochter von dem Grubenbauer in die Stub', wie sie auch so spinnt, wie ich jetzt, und hat da gethan, wie wenn sie ihr Schatz wär', und die Grubenbauerntochter ist in Ohnmacht gefallen, ist aber wieder aufgewacht, und die Verkleidete ist fort, und wie sie hinauskommt vor das Haus, da sind auf einmal Hunderte von Männern mit Peitschen und Roßköpfen, und die haben sie gejagt, und da ist sie fort und da hat sie der Teufel mitten voneinander gerissen und in den See geworfen. Ja, das ist eine wahre Geschichte, das können Sie mir glauben; es gibt noch Leute genug, welche die Magd gekannt haben.«

»Du könntest einen ganz schwermütig machen,« sagte Irma.

»Es kann sein, daß so etwas nur bei uns geschieht,« tröstete Walpurga wieder. »Da draußen stehen Soldaten mit Ober- und Untergewehr, die lassen den Teufel nicht herein. Aber liebe, gute, herzige Gräfin, schämen Sie sich denn nicht, so in den Kleidern vor allen Menschen?«

»Du bist aus einer andern Welt als wir, du hast recht und wir auch,« sagte Irma, mit schnellen Schritten sporenklirrend im Zimmer auf und ab gehend. »Nein, Walpurga, fürchte nichts für mich und laß dir den Schreck nicht zu nahe gehen.«

Sie war wieder ganz das übermütige und dabei so treuherzige Geschöpf, und Walpurga konnte nicht umhin, zu sagen:

»Aber wunderschön, wirklich wie ein Prinz sehen Sie aus.«

Als Irma weggegangen war, sah Walpurga noch lange nach der Thür. Es war ihr, als ob alles nur ein Traum gewesen.

Es vergingen viele Tage, Irma war heiter und wohlgemut bei Walpurga. Sie spannen und sangen miteinander, und der König und die Königin kamen einmal gemeinsam – noch nie waren sie miteinander gekommen – und sie saßen an der Wiege des Kindes und schauten und hörten den beiden zu. Walpurga war anfangs verzagt, dann aber sang sie lustig.

Ein lebendiges Wunder that sich vor Walpurga auf. Der Weihnachtsabend kam. Die Königin hatte die Sitte des Weihnachtsabends von ihrer Heimat hierher verpflanzt.

Walpurga wurde mit dem Kinde in den großen Saal geführt, wo der Weihnachtsbaum in hellen Lichtern prangte, und ringsum reiche Geschenke.

Es war, als stände man im Zauberberge, so flimmerte und glänzte alles, und so reich und mannigfaltig waren die Geschenke. Das Kind jauchzte und wollte immer mit den Händchen nach den Lichtern greifen. Walpurga erhielt überreiche Geschenke. Aber mehr als das blinkende Gold und die reiche Granatenschnur mit der goldenen Agraffe freute sie ein wohlgeordneter Tisch mit Kleidern. Da war ein vollständiger Winteranzug für die Mutter der Walpurga, und ein Winteranzug mit einem schönen grünen Hut für Hansei, und viele Kleider und Weißzeug für die kleine Burgel.

»Ist das alles recht?« fragte die Königin. »Ich habe das Maß kommen lassen aus deinem Dorfe.«

»O, wie recht,« sagte Walpurga, »so viel Fäden sind nicht in den Kleidern, so viel sage ich Ihnen Dank!«

Plötzlich fiel ihr etwas ein, sie schickte Baum in ihr Zimmer, er sollte das Garn holen, das sie dort aufgehängt. Baum brachte es schnell, sie übergab es, der König stand dabei und sie sagte: »So vielmal ich aus meinem Munde da jeden Faden genetzt, so vielmal danke ich euch; und ich will für euch beten, so lang ich meine Zunge rühren kann, und es wird euch allen gewiß gut gehen.«

Der König reichte ihr die Hand und sagte: »Du bist brav, aber rege dich nicht auf.« Sie drückte ihm tapfer die Hand. ...

Walpurga saß in ihrer Stube, da kam die Königin spät in der Nacht noch einmal. »Es ist gut, daß Sie kommen,« sagte Walpurga leise.

»Warum? ist dem Kinde etwas?«

»Nein, gottlob, es ist ganz ruhig. Sehen Sie, wie er mit geballten Fäusten schläft? Aber heut ist die Nacht, wo so ein Sonntagskind alles sieht um zwölf Uhr hört er, was die Engel im Himmel und die Tiere im Wald sprechen. Da muß man bei ihm sein und immer Vaterunser beten, dann schadet es ihm nichts.«

»Ja, ich will bei dir bleiben, das schadet gewiß nichts. Aber du mußt dich nicht so mit dem Glauben plagen.«

Walpurga sah die Königin mit einem fremden Blicke an.

»Ja, die kann nicht,« dachte sie, »die ist doch nicht in unsrem Glauben geboren,« und die Königin sagte:

»Ich bin froh, daß ich so viele Menschen, wie dich heute, glücklich machen kann.«

»Und müssen selber auch glücklich sein für sich!« sagte Walpurga. »Glauben Sie mir, ich lege meine Hand dafür ins Feuer, es ist nichts mit der Irma, sie ist brav und der König ist auch brav.«

Die Königin zuckte zusammen. Also schon dahin ist es gedrungen? Schon da tröstet man sie? Sie saß lange starr. Die Glocke schlug zwölf und von allen Türmen der Stadt begann es zu läuten. Es war ein wundersames Wogen und Klingen in den Lüften.

Da begann das Kind in der Wiege im Schlaf zu lallen. Walpurga winkte der Königin und sprach das Vaterunser fort und fort mit starker Stimme. Die Königin bewegte die Lippen und betete leise mit. Als das Gebet zum drittenmal wiederholt wurde, sprach die Königin laut: »Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unfern Schuldigern,« dann kniete sie an der Wiege des Kindes nieder und hüllte ihr Gesicht in die Kissen.

Walpurga stand in Ehrfurcht vor der Mutter, die stumm an der Wiege des Kindes lag. Sie betete mit gedämpfter Stimme weiter. Die Königin stand auf, nickte Walpurga zu, grüßte mit beiden Händen; ihre Erscheinung war geisterhaft, sie sprach kein Wort mehr und verließ das Zimmer.

Die Glocken verklangen und das Kind schlief ruhig.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 2