Fünftes Kapitel. - Das königliche Residenzschloß stand mitten in der Stadt, nicht von Wall, ...

Das königliche Residenzschloß stand mitten in der Stadt, nicht von Wall, nicht von Graben umschlossen; die Fenster blickten auf das bewegte Leben der Straßen hinab, und doch war's, als wenn das Schloß auf einem befestigten Berge stände, und weit hinaus sich Vorwerke breiteten zu Schutz und Trutz. Von dem, was die Tausende in der Stadt bewegte, drang nur selten und verworren ein Ton da herauf. Hunderte von Menschen, vom untersten Küchendiener bis hinauf zum Hausminister, bildeten Wall und Graben, um nur dasjenige, dem man Einlaß gewähren wollte, zur allerhöchsten Person Seiner Majestät dringen zu lassen.

Der König war voll glänzender Laune, aber es war etwas Gewaltsames in seiner Fröhlichkeit, eine Unruhe, die ihn an keiner einzelnen Sache haften ließ. Immer Wechsel, buntes Treiben, vom Morgen bis zum Abend.


Wenn man den König auf Gewissen gefragt hätte, er würde mit aufrichtigem Herzen beteuert haben: Ich liebe die Verfassung, ich bin ihr treu. Und doch war im tiefsten Grunde seiner Seele ein unbezwinglicher Widerstand gegen dieselbe – sie beschränkte die volle Individualität. In gleicher Weise liebte er seine Frau und huldigte er der Freundin mit starker Herzensneigung, aber wie durch kein Gesetz, so wollte er auch durch keine Neigung beschränkt sein – das behindert die freie Entfaltung und volle Blüte der Individualität. Jeder Anspruch eines Gegenüberstehenden, sei es die Staatsverfassung, sei es ein befreundetes Gemüt, empörte ihn wie eine Unterjochung. Er wollte vollkommen frei sein und doch Gesetz und Liebe dabei nicht missen. Er konnte der Zustimmung nicht entbehren, aber er mochte ihr nicht das Recht des Widerspruchs zugestehen. Er wollte die altgewohnte Liebe des englischen Volkes zu seinen Herrschern auch in seinem Lande, aber er wollte dabei nach persönlichem Ermessen handeln. Er studierte die Verfassungsgesetze, aber er neigte zu Interpretationen, die sie illusorisch machten. Er liebte die Verfassung wie er seine Gattin liebte, er schätzte ihre Tugenden, er wollte ihr treu sein und doch der freien Neigung nicht entsagen.

Die Zeitungen gelangten nur in der Form eines in der litterarischen Hofküche bereiteten Auszuges vor die Augen des Königs. Er ließ sich die stenographischen Berichte der Kammerverhandlungen in sein Kabinett bringen, aber sie lagen größtenteils ungelesen dort. Es gab zuviel zu thun, zu vielerlei zeremoniellen Empfang, Paraden und Exercitien. Das neue Zeughaus war unter Dach gebracht, es war ein geschmackvoller Bau geworden, und jetzt ging es an die Verzierung desselben. Der König selbst hatte einige Zeichnungen dazu entworfen.

Die großen Herbstmanöver wurden in der Nähe der Residenz abgehalten, und es wurde viel von einer Neuerung gesprochen, welche die Soldaten begeisterte. Die Königin erschien zu Pferde in der Uniform des Regiments, das ihren Namen trug, und neben ihr ritt Irma, gleichfalls in der Regimentsuniform; die Königin sah wie die Schutzpatronin, Irma mit ihren frohlockenden Mienen wie die wirkliche Anführerin der Bewaffneten aus. Der Jubel der Soldaten ging weit über das Kommando hinaus und wollte gar nicht enden.

Der Oberst Bronnen war voll enthusiastischer Herzlichkeit gegen Irma. Es hieß allgemein, daß er bald nach dem Manöver um ihre Hand werben werde, ja manche behaupteten, die Verlobung habe schon heimlich stattgefunden; der Vater Irmas, der alte Menschenfeind, wolle nur seine Einwilligung noch nicht geben, aber im nächsten Monate würde die schöne Gräfin majorenn. Eine schönere Frau Oberst konnte sich kein Regiment wünschen.

Irma lebte im vollen Taumel des Glückes. Sie wußte nichts davon, daß die Welt sie verlobte. Wenn sie dem Leibarzt begegnete, sagte sie ihm: »Ach, täglich will ich zu Ihrer lieben Familie, aber ich werde immer abgehalten. Morgen oder übermorgen aber komme ich gewiß.

Es vergingen Wochen, ehe sie den Besuch abstattete, und als sie vorfuhr, meldete der Diener, daß die Familie ausgegangen sei. Irma nahm sich vor wiederzukommen, aber bald erschien es ihr ungehörig, daß sie nicht wieder besucht wurde; sie wartete und ließ endlich die Beziehung ganz fallen. Es ist doch besser, man bleibt in einer und derselben Sphäre; dazu war Trauer im Hause des Geheimrats, und Irma war nicht zur Trauer gestimmt. Der Leibarzt selbst erschien ihr jetzt unfrei, denn er hatte ihr gesagt:

Die meisten Menschen, auch die Erwachsenen und sogar die Bewußten, leben ihre Freuden aus wie die Kinder; das tollt, das scherzt, neckt und springt, bis die Lustbarkeit, gesättigt, in das Gegenteil von Freude umschlägt und zuletzt ein Ende mit Weinen nimmt.« Irma vermied jede fernere Erörterung mit dem Leibarzt.

Es waren Regentage eingetreten, man konnte die Stuben nicht verlassen, und Walpurga ging wie gefangen umher, sie jammerte immer nach dem Sommerschlosse, obgleich man auch dort jetzt das Haus nicht hätte verlassen können. »Der Ohm hat recht,« sagte sie scherzend zu Mamsell Kramer, »der hat damals bei der Taufe gesagt, ich sei eine Kuh, und ich kann mir jetzt denken, wie es einer Kuh zu Mute ist, die von der Alm wieder zu Thal in den Stall kommt. Der Grubersepp daheim hat eine Alm, und da schreien seine Kühe allemal, wenn sie eingetrieben sind, drei Tage lang und wollen nicht fressen. Wenn ich nur wüßt', wie's daheim ist, wenn ich nur wüßt', daß sie mein Kind gut im Hause halten. Aber ich will jetzt gleich schreiben.«

Walpurga schrieb einen kläglichen Brief nach Hause, voll Sorge und Kummer, und sie ward erst wieder ruhig, als gute Nachricht kam.

In den Gemächern des Kronprinzen war's bei trübstem Wetter, als ob der helle Tag erschiene, wenn Irma eintrat. Es verging selten ein Tag, an dem sie nicht kam, doch waren ihre Besuche jetzt kürzer; sie sagte, daß sie viele Vorbereitungen zu treffen habe zur Hochzeit ihres Bruders.

»Ich freue mich, da Ihren Vater zu sehen,« sagte Walpurga einmal, »das muß ein prächtiger Mann sein, der so schöne und brave Kinder hat.«

Irma griff ans Herz, es zuckte darin.

»Wenn mein Vater kommt, bringe ich ihn dir,« sagte sie beschwichtigend; der Anruf der einfachen Frau hatte ihr all die glänzenden Festlichkeiten wie mit Asche bestreut.

Sie war öfters in der Stadt, machte allein oder mit ihrem Bruder die Einkäufe für eine volle üppig ausgestattete Häuslichkeit. Was für die Kinder Blumenpflücken im Walde, das ist für die Frauen in den großen Städten das Einkaufen in den Gewölben. Von Kaufladen zu Kaufladen wandern, vergleichen, wählen, sich aneignen – es ist auch wie Blumenpflücken. Irma war Kind und Weltdame genug, um daran ihre Freude zu finden, und sie befriedigte zugleich eine gewisse Schaffenslust, indem sie ein Haus mit kahlen Wänden ganz neu und selbständig nach eigenem Geschmack, nicht bloß mit fertigem und gekauftem herstellte. Die Handwerker und Kaufleute übertrieben nicht, wenn sie sagten, daß ihnen solch feines Verständnis und solch überraschende Anordnungen noch nicht vorgekommen. Irma war nicht, wie man es so nennt, liebenswürdig und huldvoll gegen die Menschen, sie war einfach leutselig; sie entschuldigte bei Kaufleuten und Handwerkern nicht die Mühe, die sie ihnen machte, das ist ja ihr Beruf, aber sie sprach achtungsvoll mit ihnen, lobte aufrichtig, wo sie feinen Sinn fand, und dankte für Belehrung, wo sie falsche und übertriebene Anforderungen gestellt hatte.

Hätte Irma hören können, wie in Werkstätten und Kaufläden, von Näherinnen, Handwerkern und Kaufleuten ihr Lob in den verschiedensten Ausdrucksweisen, laut wurde, sie hätte ihre herzliche Freude daran gehabt.

Nur war es ihr höchst auffällig, daß alle Leute sich so oft versprachen und die Hauseinrichtung ihre eigene, nicht die ihres Bruders nannten.

Die Hochzeit wurde gefeiert, Irma hatte nicht Gelegenheit, ihren Vater der Walpurga zu bringen; er war nicht gekommen. In diesen Tagen allein versäumte sie den Besuch in den Gemächern des Kronprinzen, und als sie wiederkam – sie hatte sich vor den Fragen der Walpurga gefürchtet – sprach diese weder von der Hochzeit, noch vom Vater.

Irma ahnte, daß Mamsell Kramer der Amme das Sachverhältnis berichtet hatte. Sie hätte ihr gern die rechte Anschauung gegeben, aber es ist nicht thunlich; Menschen aus dem Volke, die nur einfache Verhältnisse verstehen, können ein verschlungenes nicht begreifen. Irma that sich Zwang an, in der alten Weise mit Walpurga zu sein; diese fühlte es, aber sie sagte nichts darüber; auch in ihr war eine eigentümliche Zurückhaltung.

Der Winter kam mit Macht heran. Walpurga hatte die Freude, wenn man auch nicht ins Freie konnte, doch einen weiten Weg mit dem Kronprinzen im Schloß zu machen. Eine ganze Reihe von Sälen war zu diesem Behufe geöffnet und wohl durchwärmt.

»Du darfst singen, wie du willst,« hatte ihr der Leibarzt gesagt. Aber Walpurga konnte in den großen Sälen, wo die vielen Bilder hingen und Männer in Eisenpanzern und Frauen, die dort mit steifen Krausen und hier mit entblößtem Nacken auf sie herabsahen, keinen Ton aus der Kehle bringen. Sie fürchtete sich immer vor den Bildern.

»Es ist gewiß dumm, was ich sage, und Sie müssen mir versprechen, daß Sie es nicht weiter sagen,« vertraute sie einst Irma, die sie begleitete.

»Sag's nur, mir kannst du alles sagen.«

»Es ist gewiß dumm, aber ich meine: die Männer und Frauen da können drüben die ewige Ruhe nicht finden, sie müssen ja immer da sein und allem zuschauen.«

»Das ist gar nicht so dumm, was du sagst,« lächelte Irma. »Aber gib acht, Walpurga, was ich dir sage. Wenn man so da geht und steht und Vater und Urgroßvater und weiter hinaus schauen auf einen herab, siehst du, das ist es, was man Adel heißt – da ist man immer mit seinen Vorfahren.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Das ist wie wenn man im Herzen immer eine Seelenmesse für sie liest.«

»Ja, so ist's!«

Irma dachte daran, dieses Gespräch der Königin wiederzuerzählen.

Nein, ihm, dem König wird sie's erzählen, er versteht und faßt jegliches dichterisch und groß. Irma hatte sich daran gewöhnt, alles was sie erlebte, dachte, las, nicht für sich zu erleben, zu denken und zu lesen, sondern stets mit dem Vorsatze und der Freude, es dem Könige zu erzählen. Er war so dankbar, so verständnisreich und glücklich darüber, und er hat so schwere Regierungssorgen, daß es Pflicht ist, ihn mit andrem zu erheitern.

Draußen auf dem Sommerschlosse standen die entlaubten Bäume voll Schneelagen und die Fenster waren mit Strohdecken behangen, im Schlosse in der Stadt aber war blühendes Leben. Das duftete, das glänzte, das schimmerte, und im Hause Brunos reihte sich Fest an Fest. Der Hof selbst hatte das erste Einweihungsfest besucht, und man sprach in der ganzen Stadt von der großen Milde der Königin, die diese Art Schwägerin besuchte und freundlich und leutselig bei ihr auf dem Sofa gesessen hatte. Die alte Baronin hatte auch zum ersten Fest ihrer Kinder kommen wollen, aber es wurde ihr mitgeteilt, daß dann die Königin nicht komme; sie blieb daher auf ihrem Ruhesitze in dem kleinen Städtchen.

Arabella hatte dem Vater Brunos geschrieben. Ihr Gatte hatte es ihr nicht verwehrt, aber er hatte ihr vorausgesagt, daß sie keine Antwort erhalten werde, und das konnte er mit Fug und Recht, denn er hatte den Brief gar nicht abgeschickt.

Irma tröstete sie darüber, und es war ihr tief peinlich, die Eigenart des Vaters derart zu schildern, daß sich sein Verstummen erklärte! es war ihr wie Verrat, aber sie mußte es, warum sollte das arme Kind leiden? Bald aber war wieder alles vergessen, der Vater, die weiland Tänzerin, ja alles eigene Denken, denn Fest reihte sich an Fest.

Während das Abgeordnetenhaus, nicht weit vom Marstall, sich in sogenannten Entscheidungskämpfen erhitzte, wurde in der königlichen Reitbahn Probe geritten zu einem Karussel in mittelalterlicher Rittertracht. Fürst Arnold, der, wie es hieß, um Prinzessin Angelique freite, war Anführer der Herren, Irma Anführerin der Damen.

Man legte es in der Stadt als bissige Ironie aus, es war aber in der That nur Zufall, daß am Abend desselben Tages, an dem die Kammer aufgelöst wurde, die glänzende Aufführung des Karussels stattfand. Allen voran strahlte Irma. Als sie in die königliche Loge trat, spendete ihr der König lautes Lob wegen ihrer Schönheit und Kunstfertigkeit.

Die Königin stimmte bei und sagte:

»Gräfin Irma, Sie müssen glücklich sein, daß Ihre Erscheinung und Ihr Wesen uns allen so viel Glück bereitet!«

Irma beugte sich nieder und küßte ihre Hand.

Man hatte kaum Zeit gehabt, sich von einem Feste auszuschlafen, so ging's wieder zum andern. Besonders belebt, die ganze Stadt aufregend, war eine großartige Schlittenfahrt. Der König saß mit der Königin im offenen Schlitten, und so sehr man auch über die gegenwärtige Politik empört war, freute man sich doch, das königliche Ehepaar so glücklich zu sehen. Unmittelbar hinter dem Schlitten der Prinzen des Hauses fuhr Bruno mit seiner schönen Frau, aber so reich auch das Geschirr und so schön auch das Paar war, die Blicke wendeten sich schnell ab zum nächsten Schlitten, da saß Irma an der Seite des Baron Schöning. Diesen hatte sie sich gerade als den passendsten Strohmann ausgesucht, Ueberraschung und spöttisches Lachen verschmolzen sich auf dem Angesicht der Zuschauer.

»Wenn nur mein Mann das sehen könnte, so etwas gönnt' ich ihm auch, man glaubt gar nicht, daß es wahr ist,« sagte Walpurga, die aus ihrem Fenster die Fahrt mitansah.

Niemand bemerkte sie als Irma, die ihr zuwinkte. Wie strahlte sie! So schön war sie noch nie, die frische Winterkälte hatte ihr Gesicht wunderbar belebt. Sie saß in einem Schwan von zwei weißen Rossen gezogen, und Walpurga sagte an die Scheibe hin: »O du gute Seele, du siehst ja aus, wie wenn du in den Himmel hinauffahren müßtest. Aber den Fastnachtshansel da neben dir wirst du doch nicht heiraten?« Die letzten Worte hatte sie ganz laut gesagt.

»Die heiratet gar nicht!« rief hinter ihr eine Stimme.

Walpurga schaute erschreckt um; Baum stand hinter ihr.

»Du bist aber auch ein ewiger Horcher,« sagte sie; die ganze Freude war ihr vergällt. Das dauerte aber nicht lange, denn bald kam Irma und sagte:

»Walpurga, bei dir allein kann ich mich erwärmen; es ist doch grimmig kalt und du bist selber wie ein geheizter guter Ofen, und dick und breit wie ein Kachelofen wirst du auch.«

Walpurga war glücklich mit ihrer Freundin. Die kommt doch immer zu ihr und bringt ihr von allen Freuden etwas.

Wie erschrak aber Walpurga, als plötzlich der König eintrat. Er sagte zu Irma, sich freundlich verbeugend:

»Es wurde eben ein Brief an Sie abgegeben, ich wollte ihn selbst bringen.«

Irma schlug die Augen nieder und empfing den Brief.

»Oeffnen Sie doch!« sagte der König und winkte Walpurga, ihm in das Zimmer des Prinzen zu folgen.

Als er wieder herauskam, fragte der König:

»War's eine freudige Nachricht, die Sie bekommen haben?«

Irma schaute ihn groß an und sagte endlich:

»Er ist von meinem liebsten Freunde.«

Der König nickte, da der von ihm selbst geschriebene Brief so beantwortet wurde. Er setzte in leichtem Tone hinzu:

»Liebe Gräfin, Sie werden sich gewiß schwer von Walpurga trennen können und ihre Stelle geht ja doch mit der Zeit ein. Besinnen Sie sich auf eine andre Stelle, daß Sie sie in Ihrer Nähe behalten.«

Walpurga atmete hoch auf, das Wort lag ihr auf den Lippen: »Geben Sie mir die Meierei!« aber sie konnte es nicht herausbringen, es war als ob ihr die Zunge angeheftet wäre und der König verabschiedete sich bald; er kam und ging so schnell.

»Nein, du sollst nicht hier bleiben; es ist besser, glaube mir, tausendmal besser für dich, du gehst wieder heim. Im nächsten Sommer besuche ich dich einmal, ich vergesse dich nie, da hast du meine Hand drauf,« sagte Irma, als sie mit Walpurga allein war.

Walpurga hatte jetzt den Mut, ihren Wunsch nach der Meierei auszusprechen; aber Irma beharrte bei ihrer Weigerung; »du verstehst das nicht, glaub' mir, es ist besser für dich, du gehst wieder heim!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 2