Siebzehntes Kapitel. - „Majestät,“ sagte am andern Morgen die Oberhofmeisterin, ...

„Majestät,“ sagte am andern Morgen die Oberhofmeisterin, als man nach dem Frühstück im Park lustwandelte, „Majestät, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig, daß ich den Brief an die Hofdame Ihrer Majestät der Königin nicht mit unterschrieben habe.“
„Sie haben nicht?“ erwiderte der König. Das starre, feine Antlitz der alten Frau zeigte keine Veränderung bei diesen Worten, und doch hätte es sie verletzen können, daß ihre fehlende Unterschrift nicht bemerkt wurde. Sie befolgte aber vor allem das oberste Hofgesetz: jedes persönliche Empfinden zu verleugnen und dadurch auch jede Empfindlichkeit zu vermeiden; sie fuhr, nach Hofweise den Tadel in Lob verkleidend, ruhig fort:
„Diese Einladung ist eine geniale Laune und Gnade Eurer Majestät, aber das Genie ist immer ohne Gefolge. Majestät werden mir als Ihrer mütterlichen Freundin, mit welchem hohen Titel sie mich oft beehrten, wohl erlauben, zu bemerken, daß es weder den Kavalieren noch den Damen zusteht, ihre Namen unter einen außergewöhnlichen Scherz Eurer Majestät zu setzen. Es soll der Umgebung nicht Veranlassung gegeben sein, Eurer Majestät hohem Sinn die Vermutung anzudichten, daß diese Berufung, weil sie öffentlich und laut, eigentlich eine geheime und stille.“
Der König sah die Oberhofmeisterin betroffen an, aber er that, als ob er nicht merke, daß die Oberhofmeisterin die Maske durchschaue.
„Ich wiederhole Ihnen, gnädige Frau, Sie hätten auch ins Bad reisen sollen, Sie sehen alle Dinge so schwer, so gewichtig an; aber wenn man, wie ich, eben aus dem Bade kommt, ist alles so leicht und frei beschwingt.“
„Majestät, es ist nur meines Amtes, die festen Normen für das hohe Leben Eurer Majestät immer wieder neu zu betonen.“
„Thun Sie das nicht zu sehr?“
„Majestät, die Etikette ist der unsichtbare, aber nicht minder bedeutsame Kronschatz: man schmilzt die kunstreichen und hochgeschichtlichen Schätze nicht ein zu neuen Münzen, sie müssen sorgfältig bewahrt werden, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Das Schloß ist der höchste Punkt im Lande, wo man immer von allen gesehen wird und so leben muß, daß man gesehen werden kann.“
Der König hörte dieser Auseinandersetzung nur wenig zu, denn er dachte sich hin zu Irma, die jetzt den Brief erhielt. Sie ist aufgewacht, sie steht allein oder sitzt neben dem menschenfeindlichen Alten auf dem Söller des Schlosses im Gebirge, der Brief kommt und sie ist umflattert wie von einer Schar zwitschernder und singender Vögel, die sich ihr auf Hände, Schultern und Kopf setzen. Schade, daß man nicht ihr wonniges Lächeln sehen kann ...
Der König hatte recht gesehen. Irma saß beim Vater und schaute träumend hinaus ins Weite. Was sollte aus ihr werden? Wenn nur der Vater befehlen möchte: Du mußt hier bleiben. Aber immer sich selbst entschließen! Wenn ein Gatte ihr befehlen möchte! Aber Baron Schöning würde ihr Unterthan sein, und sie hätte die doppelte Schwere des Lebens. Da meldete die Schaffnerin einen reitenden Boten, der soeben angekommen.
Der Kurier trat ein, übergab den Brief, und sagte, er werde auf Antwort warten. Irma las und lachte laut auf, sie legte den Brief auf den Schoß, nahm ihn wieder auf, las und lachte abermals. Der Vater sah sie betroffen an.
„Was ist? Was hast du?“
„Da lies!“
Der Vater las, seine Mienen veränderten sich nicht.
„Was willst du nun thun?“ fragte er.
„Ich meine, ich muß solchen Bitten gehorchen, ja ich muß. Aber kann ich, ohne daß du mir Vorwürfe machst, heimkehren?“
„Wenn du keinen Vorwurf in dir mitbringst, immer.“
Irma klingelte und befahl der Schaffnerin, ihrem Kammermädchen mitzuteilen, daß sie alles zur Abreise herrichten solle; man möge den Kurier gut bewirten und ihm sagen, daß man noch am Abend ein Stück Weges zurücklege.
„Bist du mir böse, Vater?“
„Ich bin nie böse, ich bedaure nur, daß so wenig Menschen sich von ihrer Vernunft regieren lassen. Aber mein Kind, sei ruhig, wenn diese Entscheidung das Gebot deiner Vernunft ist, mußt du ihm folgen. Trage nur ruhig alle Konsequenzen, wie ich sie trage. Laß uns jetzt noch die wenigen Stunden in Friede und Ruhe beisammen sein. Die gegenwärtige Stunde ist Leben.“
Irma gab dem Kammermädchen und dem Kabinettskurier noch mancherlei Anweisungen, aber immer war’s ihr, als ob sie noch etwas vergesse und zurückließe, was ihr erst einfallen würde, wenn sie fort sei.
Vater und Tochter saßen noch in trauter Gemeinschaft beim Mittagstisch. Der Wagen war gepackt, man schickte ihn eine Strecke voraus, er sollte im Thale warten. Der Vater gab Irma das Geleite den Berg hinab; er sprach heiter mit ihr, bei einem Apfelbaum am Wege sagte er:
„Kind, hier laß uns Abschied nehmen. Das ist der Baum, den ich am Tage deiner Geburt gepflanzt, er ist oft die Grenze meines Abendganges.“
Sie standen still. Ein Apfel fiel vom Baum ins Gras zu ihren Füßen. Der Vater hob ihn auf und gab ihn seiner Tochter.
„Nimm diese Frucht mit von der heimatlichen Erde. Sieh, der Apfel löst sich ab vom Baum, weil er reif geworden, weil der Baum ihm nichts mehr geben kann. So auch der Mensch von Heimat und Familie. Aber der Mensch ist mehr als eine Baumfrucht. Nun, mein Kind, nimm deinen Hut ab, laß mich noch einmal dein ganzes Haupt umfassen. Niemand weiß, wenn seine Stunde kommt, da er aufgeht ins All. So, mein Kind, ich halte dein liebes Haupt, weine nicht, oder weine. Ich wünsche, daß du dein Leben lang nur über andre, nie über dich selbst weinen mögest.“ Er stockte, dann faßte er sich und fuhr fort:
„Und wie ich dein Haupt jetzt halte und meine Hand auf alle deine Gedanken legen möchte, so bleib auch du stets dir selbst getreu! Ich möchte dir all mein Denken geben; behalte jetzt nur das Eine: Laß nur solche Freude über dich kommen, deren Erinnerung dir eine Freude sein kann. Behalte das! Nimm diesen Kuß! – – Du küssest stürmisch. Mögest du nie einen Kuß geben, bei dem nicht deine Seele so rein und voll ist wie jetzt. Leb wohl!“
Der Vater wendete sich ab und ging den Berg hinan. Er schaute nicht mehr um.
Irma sah ihm nach, sie erbebte, es zog sie, sie wollte wieder umkehren, ihm nach und bei ihm bleiben, für immer. Aber sie schämte sich ihres Wankelmuts. Sie dachte an die nächste Stunde, an die nächsten Tage, wie das sein würde, wenn sie wieder die Koffer auspacken lasse, wenn sie so vor allen Dienern und vor dem Vater selber – nein, es mußte sein! Sie ging weiter. Sie saß im Wagen, der Wagen rollte fort, und nun war sie nicht mehr ihr eigen, eine fremde Kraft hatte sie aufgenommen ...
Es war am andern Mittag, als Irma auf dem Sommerschloß ankam. Das Schloß war still. Niemand kam ihr entgegen als der alte Kastellan, der schnell seine lange Pfeife wegstellte.
„Wo sind die Herrschaften?“ fragte der Kurier.
„Es wird heute auf der Teufelskanzel gespeist,“ lautete die Antwort.
Da ertönte vom Garten her ein Schrei. „Meine Gräfin, o meine Gräfin ist da!“ schrie Walpurga, küßte ihr die Hände und weinte vor Freude. „O, jetzt geht erst die Sonne auf, jetzt wird’s erst Tag.“
Irma beruhigte die Hochaufgeregte. Diese aber sagte: „Ich will gleich zur Königin, sie allein ist daheim und sitzt droben auf dem Berge und malt. Sie geht überhaupt nicht gern auf die Kirchweihfahrten, hier ist alle Tag Kirchweih.“
Irma befahl Walpurga, der Königin noch nichts mitzuteilen, sie werde selber zu ihr eilen. Sie ging auf ihr Zimmer und saß dort lange und einsam, still in sich gekehrt. Es war ihr zu Mute, als hätte sie eine Freundeshand ausgestreckt und niemand faßt sie.
Draußen rückte man die Koffer hin und her, und plötzlich stand eine Erinnerung vor ihr, wie sie damals, ein verlassenes Kind, schwarz gekleidet in ihrem Zimmer saß, und im Nebengemach rückte man den Sarg ihrer Mutter.
Warum traf sie das jetzt? Sie stand auf – sie konnte nicht mehr allein sein. Sie wechselte rasch ihre Toilette und eilte zur Königin.
Diese sah sie von fern und ging ihr entgegen. Irma beugte sich nieder und wollte ihr die Hand küssen. Die Königin aber hielt sie empor, umschlang sie und drückte ihr einen innigen Kuß auf die Lippen.
„Sie allein durften die Lippen berühren, die mein Vater geküßt,“ sagte Irma, oder vielmehr sie sagte es nicht, sie bewegte nur leise die Lippen zu den Worten; tief in ihrer Seele aber stieg der Gedanke auf: „Sterben wirst du eher, tausendmal, ehe du dies heilige Herz betrübst!“
Der Gedanke machte ihr Antlitz durchleuchten; und die Königin rief entzückt ans:
„O wie schön sind Sie jetzt, Gräfin Irma, wie strahlen Sie!“
Irma schlug die Augen nieder und kniete an der Wiege des Kindes. Ihre Augen waren so voll Glanz, daß das Kind nach ihnen griff.
„Er hat recht,“ sagte Walpurga, „er greift schon gern nach dem Licht, und ich meine, Ihre Augen sind größer geworden.“
Irma ging mit Walpurga und entschuldigte sich bei ihr, daß sie die Gstadelhütte nicht besucht habe. Sie erzählte dann von ihrer Freundin im Kloster.
„Und wie geht’s Ihrem Vater?“ fragte Walpurga.
Irma erschrak; selbst die Königin hat nach ihrem Vater nicht gefragt, nur Walpurga that es.
Sie erzählte von ihm, und daß er die Mutter der Walpurga kenne, und auch deren Bruder, der manchmal im Walde Pech siede.
„Ja, das ist ein Bruder von meiner Mutter. Also den kennen Sie auch?“
„Ich nicht, aber mein Vater,“
Walpurga erzählte vom Ohm Peter, genannt dem Pechmännlein und gelobte, ihm auch einmal etwas zu schicken; das arme Männchen hat’s gar schlimm auf der Welt. Es ist doch schrecklich, die Zenza hat den Mut gehabt, daher zu kommen ins Schloß, aber das Pechmännlein leidet lieber Hunger und Not.
Während Walpurga noch sprach, trat die Königin wieder herzu, und wie sie an die Wiege kam, strampelte ihr der Prinz mit Händen und Füßen entgegen. Die Königin beugte sich nieder, richtete ihn auf, und Walpurga rief:
„Herr Gott! Am ersten Tag, wo unsre Gräfin wieder da ist, kann unser Prinz zum erstenmal sitzen. Ja, sie kann alles aufrichten!“
Innig und wohlgemut saßen die Königin und Irma beisammen.
Am Abend war fröhlicher Willkomm der von der Teufelskanzel Heimkehrenden. Irma hörte erst jetzt, daß ihr Bruder nicht am Hofe sei; er hatte im Bade die Baronin Steigeneck und deren Tochter kennen gelernt und war nun zum Besuche bei denselben.
Der König begrüßte Irma sehr formell, die Oberhofmeisterin hätte nichts dagegen bemerken können, und wie hätte er auch anders gekonnt, da die Königin sagte:
„Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich mich die Ankunft unsrer Gräfin macht; wir hatten heute innerlichst heimatliche Stunden miteinander.“
Am Abend ließ der König ein Feuerwerk abbrennen, das er zur Ankunft der Gräfin hatte bereiten lassen. Weit in der Umgegend standen die Menschen und betrachteten mit Entzücken die vielfarbigen Feuergarben, die zum Himmel aufstiegen. Zuletzt glänzte der Namenszug der Gräfin Irma, von einer Schar Bergschützen in die Höhe gehalten. Die Feuer prasselten, aus verbergendem Gebüsche tönte Musik, die von ferne durch ein bereit gehaltenes Echo erwidert wurde. Mitten unter hellem Glanz und lautem Klang mußte Irma immer nur das Eine denken: „Wie lebt jetzt dein Vater?“
Graf Eberhard aber saß auf seinem Schlosse im Gebirge am Fenster, schaute in die Nacht und den Sternenhimmel und sagte für sich: Jeder Mensch, der in der Ewigkeit lebt, ist einsam, einsam für sich, wie die Sterne dort im Aether; jeder durchzieht seine eigene Bahn, und sie wird nur bestimmt durch Anziehung und Abstoßung der Weltkörper um ihn herum ...
In der Nacht träumte Irma: Ein Stern vom Himmel war niedergefallen, gerade auf ihre Brust; sie faßte nach dem Stern, aber er entschwebte und verwandelte sich in eine Menschengestalt, die abgewendet stand und rief: Du bist auch einsam!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1