Fünftes Kapitel. - Die Königin war tagelang still und einsam.

Die Königin war tagelang still und einsam. Nur Walpurga mit dem Kinde durfte um sie sein, sonst wollte sie niemand sprechen, ihren Gatten nicht, den Leibarzt nicht und den Geistlichen nicht.
Eines Mittags, als Walpurga bei ihr war, drängte es sie zu der Frage:
„Walpurga, weißt du, daß ich nicht zu deiner Religion gehöre?“
„Ja freilich, und das freut mich.“
„Das freut dich?“
„Jawohl, das freut mich. Sie sind die erste und die einzige Lutherische, die ich bis jetzt kennen gelernt habe, und wenn alle so sind wie Sie, muß das eine schöne Religion sein.“
„Sie ist auch schön; alle Religionen sind schön, die uns zu guten Menschen machen.“
„Sehen Sie, Frau Königin, das hat mein Vater auch gesagt, ganz mit denselben Worten. O! dem hätt’ ich’s gegönnt, daß er so lang gelebt hätte, daß er Sie noch gesprochen hätte.“
Die Königin war lange Zeit still.
Endlich fragte sie wieder:
„Walpurga, wenn du eine andre Religion hättest wie dein Hansei, würdest du ihm in seine Kirche folgen?“
„Mein Hansei ist auch katholisch.“
„Wenn’s aber anders wäre?“
„Es ist ja aber nicht anders.“
„Denke dir aber, es wäre anders.“
„Das kann ich aber nicht, ich kann’s nicht,“ sagte sie fast weinend.
Die Königin war wieder lange still. Nach geraumer Weile begann Walpurga von selbst:
„Ich kann’s doch, ja ich kann’s; ich hab’ mir’s ausgedacht. Sie sind ja auch lutherisch und Ihr Mann katholisch. Ja ich kann’s. Jetzt, warum fragen Sie mich denn das?“
„Wenn du also – denke dich an meine Stelle – wenn du evangelisch wärest, würdest du nicht in die Kirche deines Mannes gehen?“
„Nein, Königin, nie. Bin ich seine brave Frau gewesen als Evangelische, so bleib’ ich’s. Darf ich Ihnen was erzählen, Königin?“
„Ja, erzähle.“
„Was hab’ ich denn nur erzählen wollen? Ja, jetzt weiß ich’s! Sehen Sie – mein Vater selig – der Leibarzt hat Ihnen gewiß schon berichtet, was das für ein braver Mann war – aber ich fang’ verkehrt an, ich hab’ ja anders hinaus gewollt – ja, also sehen Sie: In der Unterweisung da hab’ ich einen gar scharfen Pfarrer gehabt, der hat alle Menschen, die nicht von unserm Glauben sind, in die tiefste Hölle hinein verdammt, und da erzähl’ ich das einmal meinem Vater, und da sagt er mir: Burgei – er hat mich nur Burgei geheißen, wenn er mir etwas hat ins Herz thun wollen – Burgei, hat er gesagt, auf der Welt leben so und so viel Millionen Menschen, und davon ist der geringste Teil Christen, und was wäre das für ein niederträchtiger Gott, der all die andern in die Hölle hinab verdammen wollte, weil sie keine Christen sind, und sie können doch nichts dafür, sie sind doch nicht darin geboren! Glaub nicht, so hat mein Vater gesagt, daß der Mensch verdammt ist wegen seines Glaubens, wenn er nur brav ist. Und das halt’ ich fest. Ich sag’ natürlich unserm Pfarrer nichts davon, der braucht nicht alles zu wissen! der sagt mir auch nicht alles, was er weiß.“
Die Königin war still, und bald begann Walpurga wieder.
„Jetzt fällt mir noch was ein, das Beste fällt mir ein! O liebe Frau Königin, das muß ich Ihnen noch erzählen, das hab’ ich auch von meinem Vater; er hat gar viel sinniert. Der alte Doktor, der Vater vom jetzigen, hat’s oftmals gesagt, wenn mein Vater studiert hätt’, das wär’ ein großer Mann geworden, ein weltberühmter. Jetzt, also am Abend, es war an dem Sonntag, wo ich gefirmt worden bin, sitze ich mit meinem Vater und meiner Mutter auf der Bank hinter unserm Häuschen am See, und da hat’s zu Abend geläutet, wir haben unser Ave gebetet, setzen uns wieder, und da hören wir den Liederkranz, der kommt in einem Nachen über den See, und so schön gesungen haben sie, so schön, ich kann’s gar nicht sagen, und da sagt mein Vater, und steht wieder auf, und die Sonne scheint ihm ins Gesicht, und es ist wie lauter Feuer, und er sagt: ›Jetzt weiß ich, wie es unserm Herrgott im Himmel droben zu Mute ist.‹ – ›Red nicht so gottlos,‹ sagt meine Mutter. ›Ich red’ gar nicht gottlos, im Gegenteil,‹ sagt mein Vater, und setzt sich wieder, er hat eine merkwürdige Stimme gehabt, wie sonst nie. – ›Ja, ich weiß es, ich spür’s,‹ sagt er, ›jetzt, die Kirchen alle, die unsrig’, und die evangelisch’ und die jüdisch’, und die türkisch’ und wie sie alle heißen – da ist jedes so eine Stimm’ im Gesang, und da singt ein jedes, wie es seine Kehle hergibt, und das stimmt doch zusammen und gibt einen guten Chor, und da droben am Himmel, da muß es gar schön klingen und es soll nur ein jedes singen, wie unser Herrgott ihm die Stimme in den Mund gelegt hat, er wird schon wissen, wie es zusammenstimmt, und es stimmt gewiß schön!“
Walpurga sah strahlenden Auges auf die Königin, und der Blick der Königin begegnete dem ihrigen.
„Dein Vater hat dir ein gutes Wort gegeben,“ sagte die Königin.
Es glänzte etwas im Auge der Königin und es glänzte im Auge Walpurgas.
Walpurga ging davon mit dem Kinde.
Am andern Tage ließ die Königin ihren Gatten zu sich bitten. Sie sagte ihm:
„Kurt, ich habe Mut.“
„Das weiß ich.“
„Nein, ich habe einen Mut, den du nicht kennst –“
„Einen Mut, den ich nicht kenne?“ – „Und nie kennen wirst! Ich habe den Mut, als schwach und schwankend zu erscheinen. Nicht wahr, Kurt, du verkennst mich deshalb nicht?“
„So sprich doch deutlicher und ohne Einleitung.“
„Ich bin entschlossen,“ fuhr die Königin fort, „ich wage es kaum mehr, das Wort entschlossen auszusprechen – nicht wahr, du verkennst mich nicht? Ich bleibe in der Konfession, in der ich geboren, und wir sind doch eins.“
Der König dankte ihr sehr freundlich und bedauerte nur, daß der Domherr von der Sache wisse; er hoffe indes, ihm die Zunge zu binden.
Die Königin sah ihn staunend an, da er sich gar so wenig freute; aber sie fand es doch wieder natürlich; warum sollte etwas, das nur wie eine Wolke vorübergezogen war, eine große Wirkung hinterlassen? Freilich in ihr hatte es schwer gekämpft, aber im andern nicht.
Die Königin fühlte, daß sie lange zu thun haben werde, um irgend einem Ausspruche oder einem Entschlusse wieder Geltung und Gewicht zu verschaffen; denn sie war einmal schwach gewesen und das vergessen die Menschen nicht.
Als die Königin am Sonntag in der evangelischen Hofkirche war, wagte sie kaum, von der Hofloge aus den Blick aufzuschlagen.
Durch ihre Seele zog der Gedanke, wie es wäre, wenn sie drüben in der andern Kirche, und wie die Blicke der Gemeinde sich hier herauf richten würden, wo nun niemand mehr erscheint. Sie hatte dieses Haus, diese Gemeinde im Geiste schon einmal ganz verlassen; ihre Seele bebte vor dem, was sie hatte vollführen wollen, und sie dankte aus tiefstem Herzen ihrem Gatten, der sie mit starker Hand davon zurückgehalten.
Als sich die ganze Gemeinde erhob, und im Kirchengebete für das königliche Haus ihrer besonders gedacht wurde, und sie, wie der Ausdruck heißt, „ausgeweiht“ wurde mit dem Danke für ihre Erhaltung und die Erhaltung des königlichen Prinzen, da flossen ihre Thränen unaufhaltsam.
Am Mittag ging sie gegen alle frühere Gewohnheit zum zweitenmal in die Kirche.
Während dessen lustwandelte der König in dem Teile des Parkes, der nur durch eine rote Schnur dem öffentlichen Besuche abgeschlossen war, mit der Gräfin Irma auf und ab.
Der König teilte Irma den Entschluß der Königin mit, und wie sie sich wieder davon abbringen ließ. Irma entgegnete, daß sie dieses Vorhaben längst geahnt, sich aber nicht für berechtigt gehalten hätte, davon zu sprechen; sie habe dem Leibarzt eine Andeutung gemacht, er habe aber nichts davon wissen wollen.
Der König sprach sein Mißbehagen über das Wesen des Leibarztes aus; aber Irma verteidigte ihn mit vieler Begeisterung.
„Der Mann ist glücklich,“ sagte der König, „solch einen beredten Anwalt in seiner Abwesenheit zu haben.“
„Das haben meine Freunde immer an mir,“ entgegnete Irma, „die, die ich wahrhaft verehre.“
„Ich wünschte auch einmal angeklagt zu sein,“ fuhr der König fort.
„Und ich glaube,“ erwiderte Irma lächelnd, „Majestät könnten nicht besser verteidigt zu sein wünschen, als ich es thun würde.“
Es trat eine Pause ein. Der König nahm mit schönem Freimute seinen Widerstreit gegen den Leibarzt zurück, und das Gespräch über diesen schien nur wie eine Brücke zu einem andern.
Der König sprach über seine Gattin und ihre eigenartige Gemütsverfassung.
Der König und Irma sprachen zum erstenmal über die Königin.
Daß Irma dies that und der König es nicht nur gestattete, sondern geradezu herausforderte, war der Keim einer unberechenbaren Entwickelung.
Sie lobten und priesen den dichterischen Sinn, den Schwung der Empfindung, die blumenhafte Zartheit der Königin, und indem die beiden sie so glänzend darstellten, durften sie im Innern unausgesprochen deren Schwäche und überschwengliche Schwärmerei tadeln.
Im ersten Aussprechen eines Gatten über den andern zu einem dritten liegt eine folgenreiche Verfremdung und Preisgebung.
Noch war alles verhüllt, mit lautem Lob, mit Begeisterung zugedeckt. Es war hier wie dort bei der Königin in der Kirche. Sie rang im Gebete, mit aller Kraft ihres Willens wollte sie ihre ganze Seele darein versenken, wieder vollauf sein, was sie ehedem war, und doch, während sie die Worte sprach und ihr Denken hineindrängte, wich in der Verborgenheit eine Erstarrung und Verfremdung nicht, die ihr sagen wollten: du kehrst nie mehr ganz wieder.
Während der König und Irma miteinander sprachen, erschienen sie sich als die gleichen; sie sahen die Welt und die Bewegungen der Menschenseele mit demselben Blicke an, sie sprachen davon, wie leicht man in Schwäche verfallen könnte, und ihre Vertraulichkeit erschien ihnen nicht als Schwäche, sondern als Stärke.
Sie gingen im gleichen Schritt und Tritt und Irma sagte nicht mehr: wir wollen umkehren. –
Die Königin war, seitdem sie wieder der Gesellschaft angehörte, wenn möglich, noch viel huldvoller, viel liebreicher gegen jeden; sie stellte jeden weit über sich; die Menschen waren nicht so schwach und schwankend gewesen wie sie. Sie glaubte jedem etwas besonders Gutes thun zu müssen, weil sie trotzdem ihm gleich, weil sie über ihm stehen durfte. Sie war in innerster Seele voll Demut.
Die Zeitungen brachten nach wenigen Tagen eine seltsam verhüllte Geschichte, wie man die engelsreine Güte einer Fürstin hatte benutzen wollen, um sie in der Einsamkeit von sich selbst abwendig zu machen, und ihr die Liebe des Landes zu entziehen.
Es war nicht schwer zu finden, daß damit der Uebertritt der Königin bezeichnet wurde.
Die Königin hatte sich stets offen zur liberalen Opposition des Landes bekannt, und der König hielt den Leibarzt für den Vermittler, der ihr die Gunst der Presse zuwendete und dabei auch eine Indiskretion nicht scheute. Er wurde durch diese offenbare Entstellung noch mehr gegen die Presse aufgebracht, nicht minder aber gegen die Machinationen der Partei der Königin am Hofe; er hielt indes beide Aergerlichkeiten zurück. Es wird sich die Zeit schon finden, beiden zugleich gerecht zu werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1