Erstes Kapitel. - Das Leben im Schlosse bewegte sich wieder in seinen festen Linien und stetigen Formen ...

Das Leben im Schlosse bewegte sich wieder in seinen festen Linien und stetigen Formen. Es wurden keine Bulletins über das Befinden der Königin und des Kronprinzen mehr ausgegeben. Die infolge des glücklichen Ereignisses erlassene Amnestie wurde im Lande mit großer Befriedigung aufgenommen.
Irma war viel in den Gemächern des Kronprinzen und sie suchte sich in das Gemüt der Bauernfrau zu versetzen, die in ein ganz neues Dasein verpflanzt war; sie erlustigte sich an den possierlichen Bildern und Betrachtungen, die das Weib aus dem Volke von diesem Dasein hatte und weckte damit eine gewisse kecke Umstellung aller Dinge in Walpurga: ihre eigentümliche Art, die Dinge zu sehen, fand manchen Einklang mit dem weltfremden Wesen Walpurgas und wenn Irma nicht zugegen war, konnte die Amme stundenlang zu dem Kinde sprechen und sie überbot sich dabei in allerlei possierlichen, immer sich nicht genügenden Ausdrücken.
Eine tiefe Urwelle von Glück und Zufriedenheit, rechtschaffenem Vorsatz und allem, was den Menschen echt macht, quoll aus Walpurgas Seele herauf, und floß zu Gedeihen über in das Kind, das sie ans Herz gelegt hatte und das ihr ins Herz wuchs.
Tage vergingen. Mit steter Regelmäßigkeit wurde der Prinz täglich einmal zur Königin gebracht; das war die große Stunde des Tages; dann war wieder stilles gedeihliches Leben in den Gemächern des Neugeborenen.
Der Leibarzt erweiterte die gewohnte Ordnung, denn er kam eines Tages und sagte: „Es ist heute ein schöner, windstiller Tag – es wird dem Prinzen wohlthun, wenn wir ihn zum erstenmal ins Freie schicken. Wir machen es so: um elf Uhr fahren Sie mit Walpurga und dem Prinzen bis zur Nymphenallee, dort gehen Sie unter den Tannen mit dem Kinde auf und ab, Sie können sich auch setzen, verweilen eine halbe Stunde, dann kehren Sie zurück und beziehen sogleich die neuen Gemächer. Walpurga, du hast dich gut gehalten; bleibe so, laß dich von nichts aus deiner Ordnung bringe“, und du wirst uns allen Freude machen und selbst Freude haben.“
Walpurga war glücklich.
„Du, wir fahren spazieren!“ rief sie, als der Leibarzt weggegangen, dem Kinde wieder zu. „Dir schenkt Gott alles im Schlaf, aber du schenkst mir auch immer davon, gelt, du hast ein gutes Herz? Ich geb’ dir auch mein Herz.“
Walpurga hätte noch lange so fortgesprochen, aber Mamsell Kramer warnte, ihr die Wange streichelnd:
„Du hast gleich wieder heiße Backen! Zeige dem Prinzen deine Liebe mit Ruhe und Folgsamkeit, und nicht mit solch übertriebenen Worten.“
„Sie haben recht,“ sagte Walpurga. Es ist wahr. Ich bin sonst nicht so, ich bin immer auch lustig, aber sachte gewesen, nie so wirbelig wie jetzt,“ begann sie, nachdem sie mehrmals in der Stube auf und ab gegangen und sich endlich ans Fenster gesetzt hatte. „Ich will Ihnen sagen, was mir fehlt.“
„So? fehlt dir etwas?“
„Ja, die Hauptsache. Ich hab’ nichts zu thun, ich weiß nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll. So, nichts als schwätzen und aus- und anziehen, essen und trinken, da werd’ ich eben dumm. Wenn der Doktor wieder kommt, sagen Sie ihm, er soll mir was zu schaffen geben. Ich will Holz herauftragen oder was es eben zu thun gibt. Jetzt wird im Schloßgarten geheuet, wenn ich dabei sein könnte, da wär’ ich wieder frischer. Im Grasmähen ist mir kein Mann zuvorgekommen: der Grubersepp hat’s oft gesagt: das Weibervolk wetzt die Sense siebenmal öfter als die Mannen; bei mir ist das aber nicht gewesen.“
„Das wird nicht gehen; aber du sollst dir Bewegung machen, dafür werde ich sorgen.“
„Komm, du sollst jetzt in die freie Luft hinaus,“ wendete sich Walpurga zum Prinzen.
„Käfig auf! Käfig auf! Flieg fort!
Flieg in die weite Welt hinein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Käfig auf! Käfig auf! Flieg fort!
„Schade, daß die Vögel nicht mehr singen. Ja, Kind, die singen nur, solang sie Junge im Nest haben; aber ich hab’ dich noch ein ganz Jahr im Nest und singe dir Lieder, ich kann’s besser als alle Vögel!“ Und sie sang:
„Wir beide sein verbunden
Und fest geknüpfet ein,
Glückselig sein die Stunden.
Wo wir beisammen sein.
„Mein Herz trägt eine Ketten,
Die du mir angelegt,
Und ich wollt’ das Leben wetten,
Daß keiner schwerer trägt.“
„Bravo! prächtig!“ rief die eintretende Gräfin Irma. „Das Lied will ich lernen, sing es noch einmal!“
Walpurga sang es noch einmal und schon bei der zweiten Strophe stimmte Irma ein.
„Das Lied paßt eigentlich gar nicht für ein Kind,“ sagte Walpurga, „aber was weiß so ein Bursch, ob eine Kuh brummt oder ein Vogel singt – das ist ihm alles eins! Fahren Sie auch mit uns? Wir fahren heut spazieren!“
„Ich möchte mit dir fahren, aber ich darf nicht,“ erwiderte Gräfin Irma.
„Also, Sie dürfen auch nicht alles?“ fragte Walpurga.
Irma ward betroffen. „Wie meinst du das?“ fragte sie mit scharfem Tone.
„Wenn ich was Dummes gesagt hab’, so verzeihen Sie mir – ich hab’ nur sagen wollen: sind Sie auch hier im Dienst, als Hoffräulein?“
„Ja, man kann es so nennen. Alle Menschen müssen dienen, und der König und die Königin müssen Gott dienen.“
„Das müssen wir andern alle auch.“
„Ja, aber nicht so schwer wie Fürsten, die haben eine viel größere Verantwortung. Doch, was red’ ich da? Sei froh, daß du nicht alles zu wissen brauchst. Ich bringe dir hier eine Vorschrift und da sollst du nachschreiben lernen. Ich verdanke dir schon etwas. Seit ich den Vorsatz habe, dich schreiben zu lehren, schreibe ich für mich selbst viel deutlicher –“
Irma hielt plötzlich inne; diese Thatsache wurde ihr zum Bilde.
„– denn du sollst recht gut schreiben lernen,“ schloß sie.
Baum kam und meldete, der Wagen sei vorgefahren. Irma verabschiedete sich und sagte, sie werde Walpurga im Parke treffen.
Nun ging’s die Treppen hinab, Baum öffnete den Kutschenschlag, Mamsell Kramer stieg zuerst ein, nahm Walpurga das Kind ab, bis sie eingestiegen war und es wieder auf die Arme nahm; Baum sprang zum zweiten Lakaien auf den Tritt hinten, die vier Schimmel zogen an, griffen aus, und der Wagen rollte davon.
„Fahren wir denn?“ fragte Walpurga.
„Jawohl!“
„Ich mein’, wir fliegen; ich hör’ ja gar kein Rollen von den Rädern.“
„Die hört man auch nicht – die Eisenreifen sind mit Gummi überzogen.“
„Die haben also auch so Schlurken an, wie man anziehen muß, wenn man durch die glatten Stuben geht? O Gott, wie gescheit sind doch die Menschen und wie weiß man so gar nichts da draußen! Es ist wahr, man lebt wie eine Kuh; es ist alles, daß man nicht Gras frißt! Aber was ist denn das?“ schrak sie plötzlich zusammen, „da trommeln sie und da springen die Soldaten heraus! Brennt’s wo?“
„Das ist wegen unser, die Wache tritt ins Gewehr, wenn eines von den Herrschaften vorbeifährt. Schau nur, jetzt präsentieren sie, dann legen sie die Gewehre ab und gehen wieder in die Wachtstube. Das sind Soldaten vom Regiment Kronprinz, es gehört ihm.“
„Also wenn er heranwächst, kann er mit lebendigen Soldaten spielen?“
Es war viel Beherrschung von Mamsell Kramer – sie hat nicht umsonst sechzehn Ahnen – bei diesen Worten Walpurgas nur ein wenig aufzuzucken, dann machte sie eine Miene, wie wenn sie ein Gähnen unterdrücken müßte, ihre Gesichtszüge machten seltsame Wandlungen durch; sie darf nicht lachen; ein echter, hoher Diener muß alles mit erleben, hören und sehen, und dabeistehen als beweglicher Tisch, als beweglicher Teller; und so wenig Herrschaft auch Walpurga war, man darf nicht über sie lachen: sie ist die Amme Seiner Königlichen Hoheit des Kronprinzen. Mamsell Kramer lachte nicht und sagte nur ausweichend: „Wenn wir zurückfahren, an der Wache vorbei, geschieht das noch einmal.“
„Jetzt darf ich fragen, wozu das gut ist?“
„Jawohl, es hat alles seinen guten Grund. Das dient dazu, die Menschen und besonders die Soldaten an Ehrerbietung zu gewöhnen.“
„Aber unser Prinz merkt ja nichts davon?“
„Man muß auch ehrerbietig sein gegen den, der nichts davon weiß. Ich will dir etwas sagen, es wird dir gut thun: Wenn du von Seiner Majestät dem König und Ihrer Majestät der Königin sprichst, ja auch wenn du von ihnen denkst, sage nie geradezu der König oder die Königin, sage und denke immer Seine Majestät und Ihre Majestät dazu; dann wirst du dich niemals verleiten lassen, unehrerbietig von ihnen zu sprechen oder zu denken. Merke dir das!“
Walpurga hörte diese Lehre kaum.
„O Gott,“ rief sie, „wie weise ist die Welt eingerichtet. Da haben die Menschen doch gewiß viele tausend Jahre gebraucht, bis sie’s so weit gebracht haben!“
„Jawohl, viele tausend Jahre. Du brauchst aber nicht zu nicken gegen die Menschen, die am Wege grüßen, es gilt doch nicht dir!“
„Ich möcht’s aber für meinen Prinzen thun, bis er’s selber kann. Ich sehe es allen an, wie gern sie ihn sehen möchten. Du! Alle Menschen grüßen dich, du hast’s gut! – O wie schön ist so ein Wagen! Da sitzt man wie in einem Bett und behäb wie in einer Stube, und kann doch alles sehen und – Huidi! Das geht schnell!“
Man bog in den Park ein, der Wagen ging im Schritt am großen Schwanenteich vorüber, und Walpurga sagte immer:
„Ich mein’, ich wär’ im Zauberland.“
An der Nymphenallee stieg man aus; hier war’s schattig und duftig. Als Walpurga ausgestiegen war und das Kind auf den Armen trug, sagte sie:
„Mach die Augen auf! Guck um! Da hast du die ganze Welt! Da sind Bäume und Wiesen und der blaue Himmel, den kann dir auch dein Vater nicht herunterholen, den mußt du dir selber verdienen mit Bravsein, und wenn du brav bist und ich bleib’s auch, dann kommen wir da oben wieder zusammen.“
„Setz dich hier, Walpurga, sprich jetzt nichts mehr!“ sagte Mamsell Kramer.
Sie hatte entsetzliche Angst wegen Walpurga. Das plaudert und tollt beständig fort, und ist so unbändig wie ein Füllen, das man ins Freie gelassen.
Sie wiederholte daher:
„Red’ alles nur zu mir und leise. Es wäre mir leid, wenn dich die Lakaien hinter uns auslachten. Sieh einmal, der Vorreiter dort, das ist meines Bruders Sohn.“
Jetzt erst sah Walpurga, daß zwei Lakaien, der eine davon war Baum, hinter ihnen hergingen. Der Wagen fuhr in den Nebenalleen auf und ab. Walpurga blieb wie gebannt vor einer Marmorstatue stehen.
„Nicht wahr, das ist wunderschön?“ fragte Mamsell Kramer.
„Pfui Teufel!“ erwiderte Walpurga, „das ist ja grauslich! und da gehen Männer und Frauen her und sehen so was an?“
Mamsell Kramer hatte damals, als der alte König diese Statuen aufstellte, sie auch zuwider gefunden; aber die Herrschaften fanden sie sehr schön und da mußte es doch so sein und allmählich fand sie es selbst.
Man ging in eine Seitenallee und hier setzte sich Walpurga auf eine Bank, träumte vor sich hin und wußte von der Welt so wenig mehr, wie das Kind auf ihrem Arme.
„Ei, wer kommt denn da?“ fragte sie wie erwachend.
In der Mitte von zwei Reitern saß eine Frauengestalt auf glänzend schwarzem Pferde, ihr Gewand war blau und wallte weit hin, auf ihrem Haupte saß ein Männerhut, daran ein langer blauer Schleier wehte.
„Ich mein’, das wär’ unsre Gräfin!“
„Jawohl! Jetzt steigen sie ab, Seine Majestät der König und Ihre Königlichen Hoheiten der Erbprinz und die Erbprinzessin sind bei ihr. Die Herrschaften kommen zu uns!“ sagte Mamsell Kramer. „Bleib nur sitzen, du hast als Amme nicht nötig, höflich zu sein.“
Dennoch konnte es Walpurga nicht lassen, an ihren Hut zu greifen und nachzufühlen, ob die Troddel hinten ordentlich hängt und der Blumenbusch vorn noch steckt.
Mamsell Kramer bat die Herrschaften, das Kind nicht zu betrachten, es schlafe und der Blick der Betrachtenden könne es wecken.
„Sehen Majestät,“ sagte Irma, „wie tiefsinnig alle Naturgesetze sind. Der Blick des Wachenden weckt das schlafende Kind. Tief in jeder Menschenseele ruht eine schlafende Kindesseele. Es ist nicht wohlgethan, aus Teilnahme oder gar aus Neugier die ewige Kindschaft aufzuscheuchen.“
„Ich möchte nur wissen, wie Sie immer zu so originellen Gedanken kommen,“ erwiderte der König.
„Ich weiß das selbst nicht,“ erwiderte Irma, mit der Reitgerte spielend. „Ich habe nur den Mut, immer zu sagen, was ich denke, und das kommt dann originell heraus. Die meisten Menschen sind die Wechselbälge ihrer selbst; sie sind in der Bildungswiege verwechselt worden.“
Der König lachte. Walpurga aber sagte, indem sie schnell die beiden Daumen einschlug:
„Wechselbalg! Das ist nicht gesagt und nicht gehört. Man darf von so was nicht reden vor einem Kind, das noch nicht sieben Monat alt ist. Da haben die bösen Geister immer noch Macht, auch wenn das Kind schon getauft ist.“
Sie hauchte das Kind dreimal an, um jeden bösen Zauber von ihm zu scheuchen.
Die Erbprinzessin sah die Amme und das Kind mit schwerem Blicke an, aber sie sprach kein Wort.
„Ich verstehe keine Silbe von der Sprache der Amme,“ sagte der Erbprinz. Walpurga wurde feuerrot.
„Was siehst du mich so an?“ fragte Gräfin Irma. „Bin ich dir fremd?“
„Gar nicht, aber wissen Sie, wie Sie aussehen? Wie die Seejungfrau. So steigt sie herauf und hat einen faltigen See von Kleidern um sich herum.“
Irma erklärte lachend dem Erbprinzen und seiner Gemahlin in Hochdeutsch, was Walpurga gesagt, und jener nickte ihr jetzt freundlich zu, wie man einem braven Tiere zunickt, mit dem man’s gut meint, sich aber nicht mit ihm verständigen kann.
„Aber Gräfin Irma hat keine Schwanenfüße. Glaube das ja nicht, Walpurga!“ lachte der König. „Kommen Sie, Seejungfrau!“
Die Herrschaften stiegen wieder auf und ritten davon.
Es war Zeit, daß auch der Prinz wieder heimkehrte.
Während der Ausfahrt war alles in die Gemächer des Erdgeschosses gebracht worden, die man nun bezog.
Hier hatte man Morgen-, Mittag- und Abendsonne, und diese Gemächer gingen nach dem Parke hinaus, wo am hellen Tag noch die Schwarzamsel sang, Orangen dufteten, die großen Bäume flüsterten, und ein mächtiger Springbrunnen beständig zischte und plätscherte.
Walpurga war ganz glücklich, besonders über den Springbrunnen.
„Und auf gleicher Erde ist’s doch noch kommoder,“ sagte sie oft. „Ich mein’, ich käme von einer großen Reise zurück, und die Zimmer sind so schön kühl, und mein Nachtwächter schläft am Tag, wie’s einem Nachtwächter zukommt und – und – –“
Auch Walpurga schlief am hellen Tag ein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1