Viertes Kapitel. - Im offenen Wagen fuhr der junge Hofarzt Sixtus dem Gebirge zu.

Im offenen Wagen fuhr der junge Hofarzt Sixtus dem Gebirge zu.
Er war ein Mann von gefälligen Weltformen; den jetzigen König, als derselbe noch Kronprinz war, hatte er auf Reisen begleitet und in Gesellschaft der Kavaliere jenen leichten Ton, den er sich bei einem dreijährigen Aufenthalt in Paris angeeignet, noch bequemer gemacht. Wie die Fürstlichkeiten über untergebene Personen verfügen und den Dienst in eine Verbindlichkeit verwandeln, so geschieht es auch leicht, daß Hofbeamte wieder mit den ihnen Untergebenen schalten. Der Hofarzt hatte sich einen Lakaien ausgesucht, den er als einen der dienstfertigsten kannte.
„Feuer, Baum!“ sagte er, der Lakai reichte ihm sofort eine brennende Lunte vom Bock, wo er neben dem Kutscher saß. Mit leutseliger Herablassung bot Sixtus sein Etui hin, der Lakai nahm dankend eine Zigarre; die Zigarren des Hofarztes sind zwar zu schwer und treiben ihm den Angstschweiß aus, wenn er sie raucht, aber es ist eine weise Regel, man soll eine angebotene Gunst nicht abweisen.
Es fuhr sich bequemlich auf der guten Straße dahin. Auf der nächsten Poststation schickte man die Marstallpferde zurück und fuhr nun mit Extrapostpferden. Der Hofarzt hatte von dergleichen nichts anzuordnen; Baum wußte und besorgte alles.
„Baum, von wo sind Sie gebürtig?“ fragte der Hofarzt, als man weiterfuhr.
Baum erschrak, aber er wendete sich nicht um, er that, als ob er die Frage nicht gehört, er schien sich erst ruhig fassen zu müssen, ehe er antworten konnte; sein Antlitz zuckte, aber schnell wußte er wieder eine bescheidene und arglose Miene anzunehmen.
Der Arzt fragte noch einmal: „Baum, wo sind Sie geboren?“
Ein dienstwilliges Gesicht wendete sich ihm zu.
„Ich bin auch aus dem Gebirg, weit dahinten an der Grenze; aber ich bin nie dort daheim gewesen,“ erwiderte der Lakai.
Der Arzt hatte nicht Lust, weiter nach den Schicksalen Baums zu fragen; er hatte überhaupt die Worte nur so leichthin gesprochen.
Der junge Hofarzt war gegen Baum zuvorkommend, Baum ist einer der beliebtesten Diener am Hofe, denn er wußte stets durch sein Benehmen auszudrücken, wie sehr er die hohe Stellung eines jeden respektiere.
„Halten Sie sich immer möglichst in der Nähe des Telegraphen!“ hatte der Leibarzt dem Wegreisenden gesagt, „geben Sie jeden Morgen und Abend Nachricht, wo Sie zu treffen sind, damit Sie sofort zurückbeordert werden können.“
Als Doktor Sixtus jetzt im Weiterfahren die Telegraphendrähte betrachtete, die bereits auch hier über alle Berge klettern und durch alle Thäler ziehen, lächelte er vor sich hin. „Ich bin auch nichts als ein fortgeschickter elektrischer Funke, nur weiß mein Meister nicht, wo ich anlange. Aber eigentlich bin ich ein Märchengeist; ich bringe Geld und Ueberfluß in eine unscheinbare Hütte, denn eine reiche Bäuerin bekomm’ ich nicht. Wo bist du, edle Nährmutter?“
Der Hofarzt schaute lächelnd in die weite Landschaft, und um ihn spielten und verflogen Bilder aller Art, wie die Rauchwölkchen seiner Zigarre ihn umspielten und in die Luft verflogen.
Es war bereits Nacht, als man einem kleinen Badeort im Gebirge zufuhr.
Der Lakai ging neben dem Postillon bergan zu Fuß; der Hofarzt hatte ihm die Mission mitgeteilt, welche sie auf dieser Reise hatten. Die beiden hatten schon ganz andre Abenteuer in seinen Ländern miteinander bestanden. Jetzt besprach sich Baum mit dem Postillon über Leben und Sterben in der Gegend, und kam sehr geschickt darauf, sich nach jungen Wöchnerinnen zu erkundigen. Da war er just an den rechten Mann gekommen: die Mutter des Postillons war Hebamme – sie hatte nur den Fehler, daß sie bereits tot war.
Der Doktor im Wagen streckte sich behaglich; er hat nun doch eine Handhabe, wie er die seltsame Sache angreifen könnte: an die Hebammen in den Dörfern muß er sich wenden, man muß ihnen nur nicht sofort sagen, für wen man die Nährmutter sucht, sonst kommt man gar nicht mehr los. Als es wieder zum Aufsteigen kam, winkte er den Lakai heran und sagte: „Auf der ganzen Reise nennen Sie mich nur ›Herr Doktor‹, weiter nichts!“ Der Lakai fragte nicht, warum; das ist nicht seines Amtes. Er forschte aber auch vor sich nicht weiter nach dem Grund: er ist ein Lakai, er thut, was man ihm sagt. „Wer weiter geht als sein Auftrag, ist unbrauchbar,“ hat der Kämmerer der Baronin Steigeneck hundertmal gesagt, und was der gesagt hat, ist heiliges Gesetz.
In dem kleinen Badeorte war lustiges Treiben. Die Tafel war eben aufgehoben, man sprach von der heutigen Landpartie und von der morgigen, ein junger Offizier in Zivil und ein dicker Herr schienen die Lustigmacher in der Gesellschaft, man scherzte, man lachte, und im Hintergrund wurde zu einem verstimmten Klavier gesungen. Die Menschen waren in gewaltsamer Erregung, sie waren ins Gebirge gegangen, um die Langeweile los zu werden, und die meisten fanden sie hier erst recht, denn es ist nur wenigen gegeben, sich von Sonnenaufgang bis -niedergang und dann noch gar bei Sternenschein an der ewigen Natur zu erfreuen.
Der Hofarzt sah sich glücklicherweise hier unerkannt und Baum, der keine Livree, ja nicht einmal Wappenknöpfe trug, ließ sich nicht ausforschen. Der Hofarzt betrachtete sich das Treiben der kleinbürgerlichen Welt mit einem gewissen Schloßgefühle.
In der hiesigen Gegend wollte er sich gar nicht erkundigen, denn die Umgegend war wegen ihrer Kröpfe bekannt.
Am Morgen ging’s nach einem kleinen Gebirgsstädtchen. Der Hofarzt wendete sich an den Physikus, reiste mit ihm mehrere Tage umher, fand aber nichts, für das er sich entscheiden konnte: dennoch verzeichnete er einige Namen in sein Taschenbuch.
Der Kavaliersmut wollte dem Hofarzt bald ausgehen. Er sah in die Hütten des Elends, in so viel Plage und Armseligkeit, daß es als ein Traum erschien, wie Menschen vom gleichen Fleisch und Blut so sorglos in Schlössern leben. Hier draußen ist das Dasein eitel Müh’ und Sorge, nichts als ein Arbeiten, um sich am Leben zu erhalten, damit man morgen wieder arbeiten und wieder sorgen kann.
„Nur keine Sentimentalitäten!“ rief sich der Arzt zu. „In dieser besten Welt ist es einmal so! Die Menschen sind nichts andres als die Tiere. Das Reh im Walde lebt und fragt nicht, wie es dem Vogel geht, und der Vogel kümmert sich nicht um den Frosch, außer wenn es ein Vogel Storch ist, der ihn fressen will! Nur keine Sentimentalitäten! Nur keine Weltbeglückereien!“
Der Hofarzt fuhr im Gebirge umher, sich immer in der Nähe des Telegraphen haltend und jeden Tag zweimal Bericht erstattend. Er verzweifelte am Gelingen seines Auftrages und schrieb seinem Chef, daß er keine verheiratete Frau finde, ledige dagegen vortreffliche; er schlage daher vor, da man doch die Fürstin nicht täuschen dürfe, schnell die tauglichste mit ihrem Geliebten trauen zu lassen.
In der Gegend des Sees wartete er auf Antwort, denn hier traf er in dem Physikus einen ehemaligen Studiengenossen.
Das vielfach zersäbelte Gesicht des wohlbeleibten Physikus strahlte noch von der alten Studentenheiterkeit, die man einst gemeinsam erlebt; er war auch noch jetzt stündlich mit gutem Durst versehen und zu jeder Lustbarkeit aufgelegt; in seinen Manieren war er dabei ziemlich bäuerisch geworden und der Hofarzt sah mit Befriedigung, welch ein andres Leben ihm beschieden war.
Doktor Kumpan, das war der Kneipname des Landarztes, betrachtete diese Ausfahrt seines Freundes wie eine alte Studentensuite und fuhr und ritt mit ihm über Berg und Thal zur Ammensuche, wobei sich Kumpan nicht scheute, einen kleinen Umweg zu machen, wenn er wußte, daß man zu einem Wirtshaus kam, wo man seinen Hunger mit einer guten Mahlzeit und was noch wichtiger, seinen Durst mit einem guten Tropfen stillen konnte, – der Tropfen mußten aber viele sein.
„So manche von unsern Institutionen,“ sagte der Hofarzt einmal, „sind doch auf Unsittlichkeit gegründet, das lehrt auch unsre Ammensuche.“
Doktor Kumpan lachte übermäßig und rief:
„Also auch du, Schniepel?“ – das war der Studentenname des Hofarztes – „also auch du bist ein Volksfreund vom neuesten Gemächte? Ihr Herren, mit permanent zugeknöpften Handschuhen behandelt das Volk viel zu zimperlich. Wir, die wir drunter leben, kennen’s ganz anders. Das ist eine Bande von Schelmen und Dummköpfen, gerade so gut wie oben; der ganze Unterschied ist nur, sie sind ehrlichere Schelme und ehrlichere Dummköpfe. Mit eurer Vorsorge könnt ihr es nur noch verderben. – Es ist aber gut, daß Waldbäume wachsen ohne künstliche Bespritzung!“
Doktor Kumpan ließ auf diesen Fahrten seinen ganzen derben Humor los.
„Jetzt hab’ ich’s, was wir suchen!“ rief er ein andermal. „Weißt du, was wir eigentlich suchen? Eine Futteralmutter! Eigentlich sollte es Futtermutter heißen und ich behaupte: das Wort Futteral ist vom Institut der Ammen hergenommen. Eine Amme ist ein Futteral zur Schonung der rechten Mutter. Wenn du heimkommst, gib meine Entdeckung der Akademie. Sie soll mich zum Mitglied machen, ich verdien’s dafür. Futteralmutter!“
Drei Tage lang zehrte Doktor Kumpan von einem schlechten Witz und auch dieser war ihm ausgiebig genug.
Dem Hofarzt war es unheimlich und fremd in dieser Kameradschaft, und doch mußte er die alte Zutraulichkeit bewahren; er suchte sich daher bald davonzumachen.
Am zweiten Sonntag morgens wollte er abreisen, da rief Doktor Kumpan plötzlich:
„Ich könnte mir selbst aufbrummen, weil ich so einfältig war. Ich hab’ sie, die Mutter Natur, die unbedingt absolute, wie der alte Professor Genitivus, der Sohn des berühmten Vaters, immer gesagt und dabei den Katheder geknufft hat. Komm mit!“
Und sie fuhren miteinander im offenen Wagen nach dem See.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1