Siebzehntes Kapitel. - Die Nacht war schlimm. Der Kronprinz spürte den Schreck. ...

Die Nacht war schlimm. Der Kronprinz spürte den Schreck, den der Mohr des Oheims seiner Nährmutter eingejagt hatte. Der Hofarzt ging immer ab und zu und wachte im Nebenzimmer. Er gab Mamsell Kramer den Befehl, daß künftig ohne seine Genehmigung die Amme nicht aus dem Zimmer gehen dürfe.
Walpurga war diese Gefangenschaft recht, sie wollte von der ganzen Welt nichts mehr wissen; ihre Pflicht gegen das Kind, die Liebe zu ihm erfüllte ihre Seele, und als sie auf dem Sofa lag, gelobte sie zu Gott, an nichts andres mehr zu denken. Sie schaute hinüber nach den neuen Kleidern, die auf dem großen Tisch noch ausgebreitet lagen, und schüttelte den Kopf; der ganze Plunder war ihr jetzt gleichgültig, fast verhaßt, denn er hatte zu Bösem verleitet; aber die Strafe war schnell gekommen.
Walpurga hatte nur kurzen und oft unterbrochenen Schlaf, und wenn sie die Augen schloß, sah sie sich immer von hinten ganz deutlich, und der Mohr verfolgte sie. Erst gegen Morgen fand sie und das Kind mehrstündigen ruhigen Schlaf. Die große Feierlichkeit konnte zur festgesetzten Zeit vollzogen werden.
Als Baum die schönen Kissen und die brokatne, mit zwei wilden Tieren gestickte Decke brachte, sagte er im Vorbeigehen leise zu Walpurga:
„Halt dich tapfer, daß du nicht mehr krank wirst. Sowie du wieder krank wirst, lohnt man dich zur Stunde ab und schickt dich fort. Ich meine es gut mit dir, darum sag’ ich dir das.“
Er sprach ruhig und leise, er verzog keine Miene dabei, denn Mamsell Kramer sollte nichts merken.
Walpurga schaute ihm betroffen nach, und Baum sah auch heute in dem grauleinenen Interimsgewand gar sonderbar aus.
„Also fortgeschickt wirst du, wenn du krank wirst?“ dachte Walpurga still. „Eine Kuh bin ich! Da haben sie recht. Eine Kuh gibt man aus dem Stall, wenn sie gelt ist.“
„Ich und du und Müllers Kuh“ – sagte sie zu dem Prinzen, als sie ihn wieder an die Brust legte, und lachte und scherzte und sang:
„Güggerü-güh
Z’ Morgens um drü,
Z’ Morgens um viere
Schlafen alle Tiere.
Eins im Kloster, eins im Schloß,
Wo man saure Rüben kocht,
Wo man süße Mandeln ißt
Und die kleinen Kinder nicht vergißt.“
Noch viel wollte Walpurga singen und sagen, aber heute war viel Laufen ab und zu in den Prinzengemächern; selbst die Oberhofmeisterin kam und sagte zu Walpurga:
„Nicht wahr, Ihr habt allerlei geheime Mittel, die Ihr zum Segen für das Kind unter das Kissen legt?“
„Ja, da wär’ ein Mistelzweig gut, und auch ein Nagel, den ein Roß aus dem Hufeisen verloren hat, daheim hätt’ ich schon, aber hier hab’ ich nichts so!“
Mit großem Stolze gab Walpurga Kunde von den geheimen Zaubermitteln, die sie wisse; sie erschrak aber, als sie statt lächelnder Mienen das Antlitz der Oberhofmeisterin sah, das noch einmal so lang und streng wurde.
„Mamsell Kramer,“ sagte sie, „ich mache Sie verantwortlich, daß die Bäuerin nichts von ihrem abergläubischen Unsinn mit dem Kinde treibt.“
Walpurga erhielt gar keinen Befehl und sie, die sich eingeredet hatte, die erste Person im Schlosse zu sein, empfand zum erstenmal, wie das ist, so über sich wegsprechen zu lassen, als ob man nichts als leere Luft wäre.
„Ich ärgere mich aber doch nicht, ich thue dir den Gefallen nicht, daß ich krank werde und du mich wegschicken kannst,“ sagte Walpurga hinter der weggehenden Oberhofmeisterin drein und lachte sie aus.
Nun aber kam eine wirklich schöne Stunde. Es kamen zwei Mädchen, die den Prinzen kleideten, auch Walpurga ließ sich von ihnen ankleiden; sie gefiel sich darin, sich so bedienen zu lassen.
Die Glocken läuteten in der ganzen Stadt und die Glocken auf dem Schloßturm sprachen alle mit, und der Ton durchzitterte das weitläufige Gebäude. Jetzt kam auch Baum. Er sah prächtig aus. Die reichgestickte Gala-Uniform mit den silbernen Fangschnüren, die rote goldgestickte Weste, die silberplüschenen kurzen Hosen, die weißen Strümpfe und Schnallenschuhe, alles war wie aus einem Zauberschranke, und Baum wußte, wie stattlich er aussah. Er schmunzelte, als Walpurga ihn groß anstarrte; er wußte, was dieser Blick bedeutet. Aber er kann warten.
„Man muß nicht vorschnell ernten wollen!“ hat der Oberkämmerer der Baronin Steigeneck oft gesagt, und der versteht’s.
Baum meldete einen Kammerherrn und zwei Pagen. Sie traten bald ein.
Man hörte im Nebensaale schwere Schritte und Kommandoworte, ein Diener öffnete die Thüre, ein Kommando des Kürassierregimentes, bei dem der Prinz eintritt, sobald er einen Namen hat, kam ebenfalls ins Gemach.
Pünktlich setzte sich der Zug mit dem Prinzen in Bewegung. Der Kammerherr ging voran, die Pagen hinter Mamsell Kramer und Walpurga. Es war gut, daß Baum neben ihr ging, denn sie war in einer Verschüchterung, daß sie, wie Hilfe suchend, um sich schaute. Baum verstand das und sagte leise: „Halt’ dich tapfer, Walpurga!“ Sie nickte dankend, sie konnte kein Wort reden. Durch eine Hecke von Kürassieren, die die Säbel gezückt hatten und in den glänzenden Panzern wie leblos dastanden, trug Walpurga das Kind und plötzlich ging ihr durch den Sinn, wo sie am vergangenen Sonntag um diese Stunde gewesen; der sonnenbeschienene See glänzte vor ihr auf. Wenn nur Hansei das auch sehen könnte! Und Franz, der Sohn des Schneiders Schneck ist auch bei den Kürassieren, vielleicht ist er unter den Leblosen; sie leben doch alle, ihre Augen leuchten. Sie blickte auf, sie erkannte den Sohn des Schneiders Schneck nicht, und doch stand er mit in dem Spalier.
Der Zug des Prinzen mit dem Geleite ging nach der sogenannten großen Mittelgalerie. Dort versammelte sich der Kern des großen Zuges.
Walpurga erhielt den Befehl, sich mit dem Prinzen auf der untersten Stufe des Thrones niederzusetzen.
Da saß sie nun und schaute um und um in ein Wogen von Glanz und Pracht, von schöngestickten Kleidern, von Blumen auf den Köpfen der Frauen, von Edelsteinen, die flimmerten wie Tautropfen auf einer Wiese am Morgen.
„Guten Morgen, Walpurga! Bleib nur sitzen!“ redete sie eine holde Stimme an. Es war Gräfin Irma, die sich ihr genähert hatte. Aber kaum hatte sie einige Worte gesprochen, als der Stab des Oberhofmarschalls dreimal auf den Boden klopfte und der diamanten besetzte Goldknopf blitzte.
Aus dem Seitengemach schritten Hellebardiere mit bunten Federbüschen auf dem Kopfe.
Jetzt kam der König. Er trug den Helm in der linken Hand an die Seite gestemmt, sein Antlitz strahlte in freudigem Ernste.
Neben ihm ging die Herzogin, eine diamantene Krone auf dem Haupte und angethan mit einem langen seidenen Schleppkleide, das zwei Pagen trugen; hinterdrein großes, glänzendes Gefolge.
Schnell war Irma zu ihrer Gruppe geeilt. Die Glocken dröhnten; der Zug setzte sich in Bewegung. Am Eingange der Schloßkapelle nahm die Herzogin der Amme das Kind ab und trug es bis zum Altar, wo die Priester in Prachtgewändern harrten und unzählige Kerzen brannten.
Walpurga ging wie beraubt hinterdrein – es war ihr, wie wenn man ihr nicht nur alle Kleider vom Leib, sondern den Leib von der Seele weggerissen. Das Kind mochte auch fühlen, was ihm geschehen, denn es schrie laut, aber sein Schreien wurde übertönt, denn von der Empore herab brauste die Orgel und schallte Gesang, und wie aus dem Boden herauf donnerte es dumpf krachend. Es hatte nicht des Befehls zum Niederknien am Altar bedurft; Walpurga that es von selbst.
Das ist ein Singen und Donnern und Dröhnen. Die Welt geht unter! Alles vorbei! Die gemalten Engel an der Decke singen, die Säulen singen – jetzt ist die Ewigkeit da!
Plötzlich trat wieder Stille ein.
Das Kind erhielt seinen Namen, nicht einen, es waren deren acht; ein ganzes Stück Kalender wurde ausgeleert für das Kind.
Von nun an aber wußte Walpurga nichts mehr.
Erst als sie wieder mit Mamsell Kramer auf dem Zimmer war, fragte sie:
„Ja, wie heiß’ ich denn jetzt meinen Prinzen?“
„Das wissen wir alle noch nicht. Er behält drei Namen bis zu seiner Thronbesteigung, dann wählt er sich einen davon aus, und auf diesen Namen regiert er und danach schlägt man die Münzen.“
„Du,“ sagte Walpurga zu dem Kinde, „du, ich will dir was sagen, merk dir’s: den ersten Dukaten, den du mit deinem Namen und Bild prägen läßt, den schickst du mir! – Sehen Sie, wie er mir die Hand drauf gibt?“ rief sie aufjauchzend, da das Kind nach ihrer Hand faßte. „O du Sonntagskind! Die Oberhofmeisterin soll’s nur Aberglauben schelten; aber da zeigt sich’s. Ich bin eine Kuh und du bist ein Sonntagskind, und die Sonntagskinder verstehen die Sprache der Tiere, aber alle Jahr nur einmal, um Mitternacht am heiligen Abend; aber du bist ja ein Prinz, du kannst gewiß noch mehr.“
Walpurga wurde ins Gemach der Königin gerufen. Hier war’s wieder so schön und still wie in einer funkelnden Zauberhöhle; von dem Gelärm droben in der Welt merkt man hier gar nichts. Die Königin sagte:
„Dort auf dem Tische die Rolle – es sind hundert Goldstücke darin – das ist dein Taufgeschenk von meinem Bruder und den andern Paten. Macht dich das glücklich?“
„O, Frau Königin! Wenn auf jedem Goldstück der Mund von dem Mann, der da abgemalt ist, sprechen könnte, alle hundert könnten nicht sagen, wie glücklich ich bin. Das ist zu viel, dafür kann man ja unser halbes Dorf kaufen! dafür kann man ...“
„Sei nur immer ruhig! halte dich still! Komm her, hier hast du von mir noch was Besonderes! Dieser kleine Ring soll dich immer an mich erinnern und deine Hand soll dadurch meine Hand sein, die dem Kinde Gutes thut.“
„O, Frau Königin! Sie sind doch glücklich, daß Sie gleich, wenn es Ihnen so selig zu Herzen ist, alles sagen, und so Großes und Gutes thun können. Gott muß Sie doch recht lieb haben, daß er durch Ihre Hand so viel Gutes thun läßt. Ich sag’ Ihnen Dank, und ich sag’ tausendmal Dank dem, der’s Ihnen gegeben hat.“
„Walpurga, das thut mir wohler als alles, was der Erzbischof und alle mir gesagt haben. Ich werde es dir gedenken!“
„Ich weiß nicht, was ich gesagt hab’ – aber es kommt alles von dir! Wenn man so bei dir ist, da wird einem, weiß nicht wie! Mir ist’s, als ob ich im Allerheiligsten von der Kirche drin stünde. O, was für ein himmlischer Mensch bist du, ein echter guter Herzmensch! Ich will’s deinem Kinde sagen, wenn’s auch noch nicht versteht, es wird’s schon spüren, und es kriegt lauter gute Gedanken zu dir von mir! Ich bitt’ dich im voraus, verzeih mir, wenn ich je dich mit einem Gedanken beleidige, und wenn ich was verunschicke ...“ Sie konnte nicht weiter reden. –
Die Königin winkte ihr, still zu sein, und reichte ihr die Hand; die beiden sprachen kein Wort mehr. Es zogen in Wahrheit Engel durch die stille Stube.
Walpurga ging wieder fort. Sie sah allen den Hofherren frei ins Gesicht, und doch war sie nicht keck; die andern Menschen waren nur nicht da für sie.
Als sie wieder bei dem Kinde war, sagte sie:
„Ja, trinke du nur meine Seele aus! Es soll alles dein sein! Wenn du nicht ein Mensch wirst, an dem Gott und die Welt Freude haben, so bist du nicht wert, so eine Mutter zu haben!“
Mamsell Kramer sah Walpurga verwundert an. Aber diese hatte keine Lust, zu erklären, was mit ihr vorging; sie saß still, als höre sie noch die Orgel in der Kapelle und von der Decke die Engel singen; und doch war’s lautlos in der Stube.
„Du bist’s nicht, was mich so glücklich macht,“ sagte sie endlich, als sie das Geld wieder ansah. „So muß es sein, wenn man in den Himmel kommt, und unser Herrgott sagt: Ist recht, daß du da bist! – Ach, wenn ich nur fliegen könnte, in den Himmel hinein. Ich weiß gar nicht, was ich mit mir anfangen soll.“
Sie riß sich alle Kleider auf; es war ihr zu eng in der Welt.
„Gottlob, daß der Tag vorbei ist!“ sagte Walpurga, als sie sich am Abend zur Ruhe legte. „Es ist ein schwerer Tag gewesen, aber schön, so schön kommt keiner mehr!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1