Neuntes Kapitel. - Taumelnd stand Walpurga auf dem Boden; in dem weiten, viereckigen, innern Schloßhof.

Taumelnd stand Walpurga auf dem Boden; in dem weiten, viereckigen, innern Schloßhof. Da sind Thüren, große Fenster, breite Freitreppen, Wappen mit wilden Männern und wilden Tieren und alles sieht so wundersam aus in der Beleuchtung der Gaslampen, hier hell, dort dunkel und geheimnisvoll. – Träumerisch in sich versunken starrte Walpurga drein. Alte Märchen tauchten in ihrer Erinnerung auf, wie eine junge Mutter in der Nacht zu den Berggeistern in die unterirdische Höhle geholt wird, um verzaubert da zu bleiben und ein Neugeborenes zu nähren.
Aber jetzt erwachte sie. Aus der Schloßwache, wo die Flinten in zwei langen Reihen aufgestellt sind und ein Soldat auf und ab geht, ertönt ein Lied aus ihrer Heimat und helle Jodler hinterdrein.
„Der Herr Schloßhauptmann haben den Soldaten Wein geschickt,“ sagte ein junger Mann in Livree, der die Pferde ausspannen half, zu dem Lakai Baum, „heut betrinkt sich die ganze Stadt!“
Walpurga hätte gern gesagt, man solle die Soldaten nicht so laut singen lassen, weil droben eine junge Wöchnerin liegt und schlafen soll. Sie hatte keine Ahnung von dem weiten Umfang des Schlosses. Sie sollte ihn bald kennen lernen.
„Komm mit!“ winkte der Hofarzt, „ich will dich zur Oberhofmeisterin bringen. Sei nur unverzagt, es wird dich jedermann herzlich willkommen heißen!“
„Ich will nur meine Kissen mitnehmen,“ erwiderte Walpurga.
„Laß das nur, Baum wird die Sachen schon nachbringen.“
Walpurga folgte dem Hofarzt. Sie gingen eine hellerleuchtete, mit Blumen besetzte Treppe hinauf und Walpurga schämte sich schon im voraus, so mit leeren Händen zu kommen, als ob sie gar nichts besitze, nicht einmal ein Päckchen in der Hand. So arm bin ich doch nicht – sagte sie fast laut.
Sie kamen auf den großen Korridor. Alles war erleuchtet und mit Blumen besetzt. Menschen in Uniformen gingen hin und her, aber man hörte auf den Teppichen keinen Tritt. Die Niederbediensteten blieben stehen und ließen die beiden vorüber. Endlich hielt man vor einer Thüre. Der Hofarzt sagte dem hier wachhaltenden Diener:
„Melden Sie den Hofarzt Sixtus bei ihrer Exzellenz, und sagen Sie, ich bringe die Amme!“
„Die Amme“ hörte sich Walpurga zum erstenmal nennen, und sie wurde „gebracht“. Sie kam sich aufs neue wie verzaubert, aber noch mehr wie verkauft vor. Aber sie faßte sich ein Herz, und plötzlich war’s ihr, als säße sie, wie so oft, im Kahne auf dem See; sie führt die beiden Ruder mit ihren starken Armen, der Wind bläst ihr entgegen und will sie nicht weiterlassen, die Wellen klatschen und stürmen, aber sie ist stark, sie setzt fest ein, sie überwindet Wellen und Wind. – Sie strammte beide Arme und ballte beide Fäuste, als müßte sie die Ruder fester fassen.
Der Diener, der hineingegangen war, kam bald wieder heraus und hielt die Thür offen. Sixtus und Walpurga traten in ein großes hellerleuchtetes Zimmer. In einem Lehnstuhl am Tische saß eine große hagere Frau, in schwarzen Atlas gekleidet. Sie erhob sich ein wenig von ihrem Sitze, setzte sich aber sofort wieder.
Die Oberhofmeisterin hatte heute ihren großen Tag, denn es ist kein Geringes, Oberhofmeisterin bei der Geburt eines Kronprinzen zu sein. In der großen Staatsaktion, die heute aufgenommen wurde, war ihr Name mit fester Schrift zu lesen für ewige Zeiten.
Die Oberhofmeisterin, die auch streng gegen sich selbst war, durfte heute mit sich zufrieden sein; sie hatte in aller Unruhe des ganzen Hofes und der Stadt ihre Haltung bewahrt und dem ganzen Hofe Haltung gegeben, zumal dem König, der sich auffallend schwach und aufgeregt gezeigt hatte.
Nun ruhte sie, wie nach einer schön vollbrachten That. Eine Aergerlichkeit stand noch in ihrer Seele, aber sie bezwang sie, denn sie hatte einen festen Entschluß; sie wußte immer, was sie wollte, denn sie wußte, was man soll. Es war eigentlich unerhört, daß nicht bereits eine Amme bestimmt war. Es hatten sich viele gemeldet, ja sogar mehrere von Familie, das heißt von Adel, die an niedere Bedienstete verheiratet waren. Die Oberhofmeisterin fand eine übertriebene Delikatesse – so darf man einen Fehler der Fürsten doch nennen – darin, daß die Königin gerade eine Amme aus dem niedern Volke, aus dem Bauernstande wollte. Die Erhalterin des guten Tons war daher entschlossen gewesen, mit einem entschiedenen Machtgebote einer ihrer Erwählten die Stelle zu geben, als das Telegramm des Hofarztes kam, der das Ideal einer Bäuerin gefunden haben wollte. Der Mißmut gegen das Verfahren der Königin wendete sich nun im voraus gegen die noch unbekannte Bäuerin, die gewiß manche Unzuträglichkeiten ins Schloß brachte. Indes, wozu hat man feste Normen und Dressuren? Mit folgerichtigen Maßnahmen wird sich alles geben.
Als nun die Bäuerin gemeldet wurde, richtet sich die Oberhofmeisterin auf und ein edler Gedanke verschönte mild ihr strenges Antlitz: das arme Weib aus dem Volke soll nicht darunter leiden, daß die Königin diese neumodische Phantasie für das Volk hat, das man dadurch nur unglücklich und unzufrieden macht.
Der Hofarzt stellte Walpurga vor und rühmte sie, daß sie die Augen niederschlug. In französischer Sprache setzte er dann hinzu, wieviel Kunst es erfordert habe, die schönste und ehrbarste Frau des ganzen Gebirges zu gewinnen. Ebenfalls in französischer Sprache lobte die Oberhofmeisterin den Arzt für sein glückliches Gelingen und sprach mit großer Kennerschaft über die kräftige Erscheinung der Walpurga. Am Schlusse aber fragte sie, immer in französischer Sprache:
„Hat sie auch gesunde Zähne?“
Der Hofarzt wendete sich an Walpurga:
„Die gnädige Frau meinen, du könntest gar nicht lachen.“
Walpurga lächelte und die Oberhofmeisterin lobte die tadellose Denture. Dann drückte sie auf eine Klingel, die auf dem Tische stand; sofort erschien ein Lakei und die Oberhofmeisterin sagte:
„Melden Sie dem Herrn Geheimrat Gunther, daß die Amme Seiner königlichen Hoheit angekommen ist und ich ihn hier erwarte.“
Der Lakai ging. Die Oberhofmeisterin drückte jetzt zweimal auf die Klingel; eine große Dame vorgerückten Alters, mit zwei langen Locken wie Hobelspäne hüben und drüben, erschien und verbeugte sich so tief, daß Walpurga glaubte, sie wolle sich geradezu auf den Boden setzen.
„Kommen Sie näher, liebe Kramer,“ winkte die Oberhofmeisterin. „Hier ist die Amme Seiner königlichen Hoheit, die Ihrer speziellen Aufsicht empfohlen ist. Nehmen Sie sie jetzt mit in Ihre Stube und lassen Sie ihr etwas zu essen geben. Was soll sie essen, Herr Hofarzt?“
„Eine gute Bouillonsuppe, weiter nichts.“
„Geh mit dem Fräulein,“ befahl die Oberhofmeisterin zu Walpurga gewendet, und blickte sie dabei sehr huldreich an, „sage ihr immer, was du wünschest, liebes Kind! Geh mit Gott!“
Das Fräulein mit den Hobelspänen reichte Walpurga die Hand und sagte: „Kommen Sie mit, meine Gute!“
Walpurga nickte dankend. So ist doch hier noch ein Mensch, der ihr die Hand reicht und deutsch mit ihr spricht, und gute Worte haben sie auch, die Alte hat sie „liebes Kind“ genannt und die Mamsell sogar „meine Gute“. Bei dem Frauzösischsprechen kam sie sich wie verraten vor, denn sie fühlte wohl, daß da von ihr die Rede war. Sie ging nun, von Mamsell Kramer geleitet, in das zweitnächste Zimmer.
„Nun seien Sie mir herzlich willkommen,“ sagte das Fräulein und ihr nicht schönes Gesicht wurde plötzlich anmutsvoll – „geben Sie mir beide Hände. Wir wollen gute Freundschaft miteinander halten, wir werden jetzt immer bei einander sein, Tag und Nacht. Man nennt mich die Kastellanin.“
„Und ich heiße Walpurga.“
„Ein schöner Name! Ich glaube, daß Sie ihn behalten werden.“
„Meinen Namen behalten? Wer kann mir ihn denn nehmen? So bin ich getauft, und so werde ich gerufen von Kindheit an.“
„Ereifern Sie sich nicht, gute Walpurga,“ bat die Kastellanin innig, „ja, seien Sie recht ruhig!“ setzte sie hinzu, „und wenn Ihnen etwas nicht recht ist, sagen Sie mir’s nur frei heraus, ich will’s dann besser machen. Sie sollen zufrieden sein. Jetzt aber setzen Sie sich hier auf den Lehnstuhl, oder wollen Sie sich lieber auf das Sofa legen und ein wenig ausruhen? Thun Sie ganz wie zu Hause.“
„Ich sitze da schon gut,“ sagte Walpurga und setzte sich in den großen weiten Lehnstuhl. Sie hielt die Hände auf den Knieen ineinandergefaltet. Mamsell Kramer befahl nun einem Dienstmädchen, sofort aus der Küche eine gute Bouillon mit etwas Weißbrot für die kronprinzliche Amme zu holen. Als sich Mamsell Kramer umwendete, sah sie die Fremde bitterlich weinen.
„Um Gottes willen, was ist Ihnen? Sie fürchten sich doch nicht? Sie haben doch nicht einen Kummer? Warum weinen Sie?“
„Laß mich nur weinen! Das thut mir gut! Es drückt mich schon lang auf dem Herzen. Laß mich nur. Ich werde doch weinen dürfen, wenn ich muß? Ich hab’ nicht gewußt, was ich thu’, wie ich ja gesagt hab’. Gott ist mein Zeuge, so hab’ ich mir’s nicht gedacht.“
„Was ist Ihnen denn geschehen? Wer hat Ihnen denn etwas gethan? Um Gottes willen! weinen Sie nicht, sonst bekomme ich einen Verweis, daß ich das geduldet habe. Das ist ja schädlich. Sagen Sie doch, was sie wünschen, ich will ja alles thun.“
„Ich wünsche gar nichts, als laß mich weinen. O mein Kind! o Hansei! o meine Mutter! Aber es ist schon gut. Ich werde schon ruhig. Fertig! Fort! Jetzt bin ich einmal da!“
Die Suppe wurde gebracht, Mamsell Kramer reichte sie ihr, hielt ihr einen Löffel voll an den Mund und sagte: „Genießen Sie etwas, meine Liebe, dann wird Ihnen besser!“
„Ich will keine Fleischbrühe! Muß ich mir denn verordnen lassen, was ich essen soll, wie ein Krankes, wenn ich doch kein Gelust dazu habe? Wenn eins im Haus wäre, das eine eingebrannte Mehlsuppe machen kann, das wäre mir das Liebste; oder ich will selber in die Küche gehen und will mir eine machen.“
Mamsell Kramer war in Verzweiflung, was sie thun sollte. Glücklicherweise klopfte es eben an die Thüre. Der Leibarzt trat ein in Begleitung des Hofarztes. Er streckte der Frau die Hand entgegen und sagte:
„Grüß dich Gott, Walpurga von der Gstadelhütte am See! Du hast einen guten Fischzug gethan, daß du in dies Haus gekommen bist. Hab nur keine Angst vor dem Schloßgethue und sei ganz so, wie wenn du daheim wärst. Glaub mir, man kocht in der ganzen Welt mit Wasser, und die Menschen sind hier gerad so wie bei dir daheim, gerad so gut und gerad so schlecht und gerad so gescheit und gerad so dumm, das heißt, das letzte wissen sie zu verbergen!“
Der Leibarzt sprach halb im Dialekt, und das Antlitz Walpurgas wurde plötzlich Heller.
„Ich dank’ schön! ich dank’ schön! Ich will mir’s schon merken!“ sagte sie mit heiterem Tone.
Mamsell Kramer brachte nun die große Weltfrage vor, ob Bouillon oder eingebrannte Mehlsuppe. Der Leibarzt lachte und entschied:
„Eingebrannte Mehlsuppe! Natürlich! Das ist das Beste! Ueberhaupt, Walpurga, sag, was du daheim gewohnt gewesen; das sollst du auch hier haben, nur nichts Saures und nichts Fettes, aber sonst was du willst!“
Zu dem Kollegen gewendet, fuhr er fort:
„Wir halten die Amme bei ihrer gewohnten Kost, allmählich wollen wir dann auf andre Nahrung übergehen. Jetzt komm her, Walpurga, laß dir in die Augen schauen. Ich will dir was anvertrauen: in einer Viertelstunde sollst du zur Königin. Brauchst nicht zu erschrecken, es geschieht dir nichts; sie will dich nur sehen. Jetzt zeig gleich, daß deine Augen recht haben, wenn sie sagen: wir schauen aus einem gescheiten Kopf. Sprich recht ruhig mit der Königin. Wenn du noch Heimweh hast nach deinem Kind und den Deinigen, ich kann mir’s denken, so unterdrück’s bei der Königin. Du könntest sie weinen machen und sie könnte dadurch krank werden. Sie ist gar zimpfer. Verstehst du mich?“
„Wohl! Wohl! o lieber Gott! das thu’ ich gewiß nicht; ich will sie schon erheitern.“
„Das thu auch nicht. Sei ganz ruhig und gesetzt, sprich leise und wenig und mach, daß du mit guter Manier bald wieder fortkommst; sie soll jetzt viel schlafen.“
„Ich will schon alles gut machen, verlaßt Euch drauf. Geht Ihr auch mit?“
„Nein, aber du triffst mich dort. Jetzt iß etwas. So, da kommt schon die eingebrannte Mehlsuppe; laß dir’s schmecken, brauchst aber nicht alles aufzuessen, iß nur die Hälfte. Aber halt, laß die Suppe eine Weile verkühlen. Komm einen Augenblick mit mir. Du gehst doch gern mit mir allein?“
„Ja, ich mein’, ich hab’ Eure Stimme schon oft gehört?“
„Kann wohl sein, ich bin auch aus dem Gebirge und war schon in deinem Elternhaus. Wenn ich mich recht erinnere, ist deine Mutter aus meiner Gegend. Ist sie nicht Magd gewesen beim Freihofbauer?“
„Ja freilich.“
„Gut, das ist eine Brave. Vergiß nicht, daß du der Königin sagst, daß deine Mutter dein Kind gut versorgt. Das wird sie freuen. Deinen Vater habe ich auch gut gekannt, er war ein lustiger und grundbraver Mann.“
Walpurga war glücklich, da hier ihrer Eltern gedacht wurde, und die andern haben’s gehört, wer sie sind. Sie folgte dem Leibarzt, der ihren Vater gekannt hatte, so willig, als wäre er selbst ihr Vater, ins Nebenzimmer. Er kam bald wieder heraus, verließ die Stube mit dem Hofarzt und endlich kam Walpurga. Sie schaute nicht auf, und wie sie endlich aufblickte, war sie froh, daß niemand da war als Mamsell Kramer.
Ihre Gedanken mußten jetzt heimwärts gegangen sein, denn plötzlich rief sie:
„Ach lieber Gott! Das hab’ ich ja noch!“
Sie holte das Brot aus der Tasche, das ihr die Mutter mitgegeben, und das erste, was sie im Schlosse genoß, war das Brot von daheim, das die Mutter gebacken. Die Mutter hat gesagt, davon geht das Heimweh weg, und es ist auch so, mit jedem Bissen wird sie munterer.
Jetzt können sieben Königinnen kommen, sie fürchtet sich nicht mehr und weint auch nicht mehr. Sie aß noch die Brosamen auf, die ihr in den Schoß gefallen waren, als wären das lauter Heiligtümer. Dann versuchte sie auch ein wenig von der Mehlsuppe.
„Kann ich mir nicht irgendwo das Gesicht waschen und mich frisch zöpfen?“ fragte sie.
„Gewiß, der Herr Hofarzt haben das noch befohlen.“
„Just zu allem brauche ich keinen Befehl!“ sagte Walpurga trotzig.
Mamsell Kramer wollte, daß ihr Kammermädchen Walpurga frisiere, aber diese duldete das nicht.
„Auf meinen Kopf kommt keine fremde Hand,“ sagte sie, und nach kurzer Weile stand sie stramm und fast heitern Antlitzes da.
„So! Jetzt will ich zur Königin!“ sagte sie. „Wie redet man sie denn an?“
„Majestät, oder allergnädigste Frau.“
„Mir hat’s besser gefallen, daß sie im Kirchengebet Landesmutter geheißen hat. Das ist ein schöner stolzer Name, den ließe ich mir nicht nehmen, wenn ich ihn hätte. Ich will jetzt gehen.“
„Nein, Sie müssen noch warten, Sie werden gerufen.“
„Ist mir auch recht. Aber ich habe eine Bitte: nennen Sie mich du!“
„Wenn’s die Oberhofmeisterin erlauben, recht gern.“
„Also hier muß man um alles fragen? Jetzt aber ist’s genug geschwätzt! Wir wollen still sein. Nur noch eins: wer ist denn die Frau, die da an der Wand hängt?“
„Das ist die Königin!“
„Das ist die Königin? O, wie schön! Aber noch gar so arg jung!“
„Ja, sie ist erst achtzehn Jahre alt.“
Walpurga betrachtete lange das Bild, dann wendete sie sich ab, kniete an dem großen Stuhle nieder, faltete die Hände und betete leise ein Vaterunser.
Walpurga lag noch auf den Knieen, als es an die Thüre klopfte, ein Lakai trat ein und sagte:
„Die Amme Seiner königlichen Hoheit soll zur Majestät kommen!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1