Erstes Kapitel. - In der Schloßkapelle der königlichen Sommerburg wurde Frühmesse gelesen.

In der Schloßkapelle der königlichen Sommerburg wurde Frühmesse gelesen.
Das Schloß, nicht weit von der Residenz, lag an einem mäßigen Berghang mitten im Park. Nach der Morgenseite war der Berg weit hinauf mit Reben bepflanzt und dann bis zur Spitze mit mächtigen Buchen bestanden. Im Parke gediehen Ahorn, Platane und Rüster und breiteten ihr Laub aus neben Tannen und Weimutskiefern; selbst die Arve war vom Hochlande hieher verpflanzt und zeigte in dichten Nadelbüscheln, daß sie heimisch geworden. Auf Wiesenplanen standen einzelne hohe Fichten, die von unten auf ihr volles Gezweige behalten. Gebüschgruppen von mannigfaltiger Blüten- und Blätterart boten erfrischende Blicke. Das Auge eines wohlordnenden Künstlers schaute aus der ganzen Anlage.
Die Wege waren sauber, die Blumen trieften im Morgentau, die Vögel sangen, das frischgemähte Gras duftete, auf dem großen Teiche schwammen Schwäne und fremdländische Enten und wateten bunte Flamingos; mitten im Teiche schnellte ein Springbrunnen seinen Wasserstrahl hoch empor und plätscherte in Wolkenflocken und Wasserstaub wiederum herab.
Ein klarer, von Erlen und Hängeweiden eingehegter, vielfach überbrücktet Waldbach rauschte vom Berge nieder, strömte in den Teich und floß aus ihm wieder ab ins Thal nach dem Strome, von welchem da und dort durch das Gebüsch eine blinkende Fläche aufblitzte.
An gelegenen Fernsichten und unter Bäumen standen zierliche eiserne Tische, Stühle und Bänke.
Nicht weit von der Kapelle saß ein sorgfältig gekleideter stattlicher Mann; die vollen Haare auf seinem Haupte waren so weiß wie die Binde, die er um den Hals trug. Mit jugendlich glänzenden blauen Augen schaute er hinein in die weite Landschaft, über die mit Obstbäumen wie mit einem Walde bestandene Thalsohle, über die Vorberge bis zur Spitzenkette des Hochgebirges, dessen Schrofen sich heute scharf von der blauen Luft abhoben. Er legte ein Buch, das er in der Hand hielt, neben sich und sog den Frieden dieser Stunde in vollen Zügen ein.
Das große Thor der Kapelle war offen, brausende Orgeltöne klangen, jetzt schwebte ein Weihrauchwölkchen heraus und verflüchtigte sich schnell in der Morgenluft.
Der stattliche Mann war Leibarzt des Königs. Er war Protestant und darum nicht mit zur Messe gegangen.
Da kam aus der rebenumzogenen Veranda eine schöne Frauengestalt in weitem weißem Gewande; sie hielt den Sonnenschirm aufgespannt und hatte eine einfache Morgenhaube mit blauem Bande auf dem Kopfe. Das leise gerötete helle Antlitz mit dem reichen blonden Haar strahlte von Jugend und Schönheit; sie erschien wie der leibhaftige helle Tag.
Der Leibarzt hörte das Rauschen des Gewandes, stand rasch auf und verbeugte sich.
„Guten Morgen, lieber Geheimrat!“ rief die Dame, der noch zwei andre wenige Schritte hinter ihr folgten; ihre Stimme klang nicht hell, es war etwas darin von jenem zu Herzen sprechenden Violoncellton, der nicht für laute Freude, um so mehr aber zum Ausdruck des Innigsten gestimmt ist.
„Ein herrlicher Tag,“ fuhr die Dame fort, „aber doppelt traurig, wenn man ihn im Krankenzimmer verbringen muß. – Wie geht es unsrer Gräfin Brinkenstein?“
„Majestät, die Frau Oberhofmeisterin darf heute eine Stunde im Freien zubringen.“
„Das freut mich herzlich. Ach, es ist so wundersam schön hier, und da sollte niemand traurig oder krank sein,“
„Die Frau Oberhofmeisterin ist besonders glücklich, jetzt, wo schöne Pflichten ihrer warten, solche nun vollkommen erfüllen zu können.“
„Sprechen wir leise,“ sagte die Königin plötzlich, denn in der Kapelle war die Orgel verstummt und das Geheimnis der Wandlung ging vor sich. „Ach, lieber Geheimrat, ich möchte Ihnen etwas anvertrauen.“
Die beiden Damen zogen sich weiter zurück und die Königin ging mit dem Leibarzt auf dem freien Platz vor der Kapelle auf und ab.
„Vor dem Arzte darf es kein Geheimnis geben,“ begann der Leibarzt, „Majestät haben ja noch vor kurzem gesagt, daß Sie mir auch ein Stethoskop zutrauen, um die Bewegungen der Seele zu erlauschen.“
„Ja,“ sagte die Königin, und sie wurde rot bis zu den Stirnhaaren hinauf – „ich dachte auch schon daran, Sie um seelischen Beirat anzusprechen, aber es geht doch nicht; das muß ich mit mir allein erledigen. An den Arzt aber habe ich eine Bitte.“
„Majestät befehlen –“
„Nein, das kann ich hier nicht! Ich meine –“
Plötzlich tönte die Glocke von der Kapelle. Der König trat heraus, in einfach bürgerlicher Kleidung, ohne irgend eine Auszeichnung; ihm folgten die Herren und Damen vom Hofe. Die Herren waren alle in bürgerlicher Kleidung, großenteils in der kleidsamen und modisch verschönerten Gebirgstracht.
Der König, eine mannhaft frische Erscheinung von strammer Haltung, grüßte schon von ferne mit der Hand und ging seiner Gemahlin entgegen; das Gefolge hielt sich wieder im Hintergrund und wechselte leise Morgengrüße. Der König sprach einige Worte mit der Königin, sie lächelte und er neigte sich gleichfalls lächelnd mit jugendlicher Anmut; dann bot er der Königin den Arm, sie gingen nach dem Pavillon, die Herren und Damen folgten, jetzt fröhlich und ungezwungen miteinander plaudernd.
Eine junge Hofdame von hoher schöner Gestalt, mit braunen Locken und braunen Augen, gesellte sich zum Leibarzt und drückte ihm herzlich die Hand. Sie trug ein einfaches hellfarbiges Sommerkleid, eine offene lockere Jacke und darunter die bauschige Chemisette; ein mit Stahlknöpfen besetzter naturfarbener Ledergürtel umspannte die Taille; ihre Bewegungen waren geschmeidig, der Ausdruck ihres Gesichts halb schalkhaft, halb ernst. „Darf man wissen,“ fragte sie den Leibarzt, „darf man wissen, welch ein Buch Sie für würdig hielten, an diesem schönen Morgen im Freien gelesen zu werden?“
„Es war würdig, gelesen zu werden, wurde aber nicht gelesen,“ erwiderte der Arzt, und reichte ein kleines Buch hin. Es war Horaz.
„Ach – Lateinisch!“ sagte die Hofdame, ihre Stimme hatte etwas Helles und Keckes, wie das Schmettern des Buchfinken. „Lateinisch – das ist also Ihre Messe!“
Der Leibarzt erklärte mit kurzen Worten, wie glücklich die Alten waren, in einem so wenig umfangreichen Buche einen gedrungenen und dauernden Inhalt zu geben. Man trat in den Saal und setzte sich nach Belieben, da es beim Frühstück keine Rangordnung gab. Ueberhaupt war man auf dem Lande, wo man die Uniform abgelegt hatte, auch mancher Beschwernis der Etikette erledigt.
Nichts Wohlgemuteres, als eine Gesellschaft heiterer und freier Menschen beim Frühstück; die ganze Wundermacht der Schlafesstärkung ist noch in den Menschen; sie waren allein, jetzt sind sie gemeinsam; auf der ganzen Empfindung ruht etwas wie Morgentau.
Beim Frühstück waren keine Diener zugegen, die Hofdamen bedienten, und es herrschte ein ungebundener, fast familienhafter Ton. Der Leibarzt trank stets Thee, den er sich auf einer vor ihm aufgestellten Maschine selbst bereitete; die braungelockte Hofdame lud sich heute bei ihm zu Gaste, setzte sich neben ihn und schenkte ihm ein. Zu ihrer Linken saß Oberst von Bronnen, der Generaladjutant des Königs, fast der einzige, dem man es nicht ansah, daß ihm die Uniform fehlte.
Die Gespräche waren laut, durcheinander – auch die Geister waren in Morgentoilette.
„Ach Gott, heut ist ja Sonntag!“ sagte die braungelockte Hofdame.
Es wurde hell aufgelacht, und die Königin fragte, warum man lache. Der Leibarzt berichtete die Entdeckung der Gräfin Irma von Wildenort. Auch die Königin lächelte.
„Ich dächte, Gräfin Irma,“ rief der König, während er sich eine Zigarre anbrannte – er allein rauchte im Salon – „ich dächte, bei Ihnen wäre alle Tage Sonntag.“
„Ja, gnädigster Herr, aber nur hier,“ antwortete im lustigsten Tone die Gräfin und schüttelte ihre reichen braunen Locken. „Seitdem ich die Ehre habe, bei Eurer Majestät zu sein, wo alle Tage Kuchen auf der Tafel steht, ist bei mir alle Tage Sonntag; aber im Kloster, da war der Sonntag mit Kuchen angestrichen, und nun muß ich hier den Sonntag immer erst entdecken.“
Der Legationsrat von Schnabelsdorf, erst vor kurzem aus Spanien zurückgekehrt und auf seine neue Verwendung wartend, sagte zum Leibarzt, dem er gegenüber saß, daß binnen kurzem von einem seiner Freunde in Madrid ein interessantes Werk über die Geschichte des Sonntags oder vielmehr des Sabbaths erscheinen werde; er selbst habe auch einige Ideen dazu beigetragen.
Der König, der diese Unterredung gehört, fragte, welches diese Ideen seien, und Schnabelsdorf teilte nun mit, wie die Siebenzahl als Vierteilung des Mondmonates die natürliche und der Sabbath älter sei, als alle positiven Religionen. Er wußte alles mit Citaten zu belegen, und dabei seiner berühmten Freunde zu erwähnen.
Nach der beifällig aufgenommenen Mitteilung des gelehrten Legationsrates gab es noch viel des leichten Scherzes, bis sich die Königin erhob. Sie winkte dem Leibarzt, der König gab ihr wieder den Arm, und sie gingen miteinander durch die Veranda zu einem schönen Sitz, der unter einer Hänge-Esche am Wiesenhange angebracht war.
Es war eine Lust, dies schöne Königspaar zu sehen, so stattlich und groß, und die Königin war doppelt schön, denn in ihr blühte ein doppeltes Leben.
Die Königin setzte sich, neben ihr der König; der Leibarzt, ohne auf Befehl zu warten, rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich ihnen gegenüber.
„Ja,“ begann die Königin, „ich muß doch mit Ihnen darüber sprechen, ich muß Ihnen einen Scherz –“
„Willst du nicht lieber allein –?“ fragte der König.
„Nein, du mußt dabei sein. Ich frage also noch einmal: soll mir’s nicht erlaubt sein, mein Kind, das mir Gott in Gesundheit schenken möge, selbst zu nähren?“
Ein kaum merklicher Augenwink des Königs belehrte den Leibarzt, was er zu antworten habe.
„Majestät,“ sagte er, „ich hatte bereits die Ehre, es Ihnen als Aberglauben zu bezeichnen, daß man durch einfache Erfüllung der Mutterpflicht seine Schönheit bewahre. Sie, Majestät, läßt die echt schöne Regung diesen Wunsch aussprechen. Aber die Gewährung ist unmöglich, um Ihretwillen und um des Kindes willen. Die Pflichten einer Fürstin, die Notwendigkeit der Haltung, der Sammlung, der Repräsentation, die vielerlei Gemütsbewegungen, gestatten es durchaus nicht. Die höhere Ausbildung erzeugt notwendig eine Nervosität, die sich dann dem Kinde mitteilt und ihm sein Leben lang anhaftet.“
„Ich bitte, liebe Mathilde,“ half der König nach, „quäle dich nicht mehr mit diesem Wunsche. Denke an das Wohl des Prinzen.“
„Sprich doch nicht immer von einem Prinzen! Versprich mir, daß du ebenso glücklich sein wirst, wenn es eine Prinzessin –“
„Das kann ich nicht – ebenso glücklich? Das kann ich mir nicht befehlen; aber glücklich, von Herzen glücklich, wenn du und das Kind gesund, das verspreche ich dir!“
„Gut denn, so mag eine Amme kommen. – Ich bin ihr schon jetzt neidisch, daß sie mir so viele gute Blicke und Herzlichkeiten meines Kindes wegnimmt – aber es sei, ich füge mich!“
„Und welches Leid wolltest du klagen?“
„Es quält mein Gewissen, einem andern Kinde seine Mutter zu entziehen. Wenn das auch Tausende schon lange thun – wer ein Unrecht begeht, thut es allein für sich und thut es zum erstenmal auf der Welt. Doch ich füge mich. Davon aber gehe ich nicht ab: nur eine verheiratete brave Frau aus einer ehrbaren Familie darf Nährmutter meines Kindes sein. Ich hätte keinen Frieden im Gewissen, wenn ich einem ohnedies schon verlassenen Kinde sein Einziges noch nähme: die Mutter. Ich frage jetzt nichts nach Welteinrichtungen und festgesetzten Geltungen. Das arme verlassene Kind, das in eine feindliche Welt gesetzt ist, soll dem auch noch der einzige Liebesquell entrissen werden? Nehmen wir aber eine verheiratete rechtschaffene Frau, so entziehen wir auch da noch einem Kinde seine Mutter und schädigen ein fremdes Leben – es ist hart, daß jeder trotz besseren Wissens Unrecht thun muß. – Doch ich füge mich der Notwendigkeit. Das Kind aber der Mutter, die wir uns nehmen, steht unter dem Schutz der Familie, hat einen Vater, vielleicht eine brave Großmutter, und sorgliche Geschwister: ein Liebesdach schirmt das kleine Haupt –“
„Majestät!“ rief der Arzt voll Begeisterung. „Majestät, in diesem Augenblicke wird in tausend und tausend Kirchen für Sie gebetet und Millionen Stimmen sagen Amen!“ „O Gott, welche Pflichten legt das auf! Man sollte mehr als ein Mensch sein, um das zu tragen – mich drückt es nieder.“
„Das soll es nicht: es muß Sie erheben, Majestät! In diesem Augenblick wird der Hauch von Millionen Lippen zu einer Wolke, die Sie trägt. Das ist echte Humanität, wenn der Geschützte, Behütete und aufrecht Stehende sich des Ungeschützten, Unbehüteten und Gefallenen erbarmt und nicht den Stein der Verwerfung gegen ihn aufhebt. Es ist ein Naturgeheimnis, was von solcher Stimmung übergeht auf das Kind unter dem Herzen. Dieses Kind muß ein edler schöner Mensch sein, denn seine Mutter hat die Reinheit der Menschenliebe in das ungeborene Kind hineingedacht.“
Der König hatte die Hand seiner Frau gefaßt und fragte jetzt:
„Du wußtest also nichts von dem Gesetze? Es ist nicht nur Hausgesetz, daß die Prinzen und Prinzessinnen unseres Hauses in der Residenz geboren werden – weshalb wir morgen in die Stadt ziehen – es ist auch Hofgesetz, daß nur eine verheiratete Frau Amme eines Prinzen sein darf.“
„Mein Gott – und da quäle ich mich so sehr! Aber ich will künftig die Hofgesetze achten, weil auch so Schönes darunter.“
„Majestät haben es neu geschaffen aus Ihrer Seele heraus,“ schaltete der Leibarzt ein. „Das erst ist das freie und heilige Gesetz, das wieder in uns lebendig geworden ist.“
„Sehr schön und wahr,“ sagte der König – die Zigarre entfiel ihm, er griff an sich herum und sagte dann: „Entschuldigen Sie, liebster Geheimrat, wollten Sie nicht die Güte haben und Zigarren für uns bringen lassen?“
Der Arzt ging hinein und jetzt sagte der König:
„Mathilde, ich bitte, war das alles, was du auf dem Herzen hattest? Ich sehe dir seit geraumer Zeit an, daß du etwas in der Seele trägst –“
„Ja, ich trage etwas in der Seele, aber ich kann dir nicht eher davon Mitteilung machen, bis es volle Wahrheit geworden; es ist lauter Liebe zu dir. Frage mich nicht mehr, du wirst es bald von selbst erfahren.“
Als der Leibarzt zurückkam, saß der König allein unter der Esche, die Königin hatte sich zurückgezogen.
„War diese Huldigung eine ärztliche Rücksicht?“ fragte der König den Leibarzt, sein Auge war finster.
„Nein, Majestät, meine freie Herzensmeinung.“
Der König schaute vor sich nieder und schwieg lange; endlich sagte er sich aufrichtend und mit der Hand eine Bewegung machend als werfe er etwas weit weg:
„Ja, also die Königin wünscht zur Amme eine junge Frau aus den Hochlanden, die eine ehrbare Familie hat. Wäre es nicht noch Zeit, daß Sie selbst hinreisten und eine solche auswählen? Stammen Sie nicht auch aus dem Gebirge? Das wäre – doch nein, Sie dürfen jetzt nicht fort. Schicken Sie also den Hofarzt Sixtus, er soll von Dorf zu Dorf reisen und geben Sie ihm die genauesten Instruktionen! er kann ja auch mehrere proponieren und Sie wählen dann das Beste aus und die andern lohnen wir ab und – doch das machen Sie ganz nach Ihrem Ermessen, aber schicken Sie noch heute den Hofarzt ab.“
„Wie Majestät befehlen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1