Dreizehntes Kapitel. - „So, mein Junge! Jetzt hast du zum erstenmal die Sonne gesehen ...

„So, mein Junge! Jetzt hast du zum erstenmal die Sonne gesehen, und diese Sonne sollst du siebenundsiebzig Jahre sehen in Gesundheit und Glück, und wenn die siebenundsiebzig Jahre um sind, soll dir unser Herrgott noch einmal Urlaub geben. Gestern abend haben sie dir zulieb tausend Millionen Lichter angezündet, das ist aber alles nichts gegen die Sonne, die dir heute unser Herrgott am Himmel anzündet. Bursche! sei immer brav, daß du’s wert bist, daß die Sonne auf dich scheint. Ja, jetzt lacht ein Engel aus dir! lach nur im Schlaf! Du hast einen Engel auf Erden und das ist deine Mutter, und du bist auch mein, ja, du bist mein!“
So sprach Walpurga mit leiser Stimme, aber im innigsten Tone in das Antlitz des Kindes hinein, das in ihrem Schoße schlief. In ihrer Seele begann bereits jener geheimnisvolle liebende Zusammenhang, der sich aus der Nahrunggebung entwickelt. Es ist ein tiefer Zug der Menschennatur, daß wir die lieben, denen wir Wohlthaten erzeigen können; ihr Leben wird eins mit uns.
Walpurga vergaß sich, vergaß alles, was draußen in den Bergen, in der Gstadelhütte am See ihr zugehörte; hier war sie jetzt nötig, hier war ein Leben auf sie angewiesen.
Strahlenden Auges schaute sie auf Mamsell Kramer, deren Blick voll Freude auf ihr ruhte.
„Ich meine,“ sagte sie, „in dem Schloß ist’s wie in einer Kirche; da hat man lauter gute fromme Gedanken, alle Menschen sind so sanft und herzlich und ohne Hinterhalt.“
Mamsell Kramer lächelte und erwiderte:
„Liebes Kind –“
„Heißen Sie mich nicht Kind! Ich bin kein Kind. Ich bin eine Mutter.“
„Aber hier in der großen Welt bist du doch noch ein Kind. Ein Hof ist gar was Besonderes. Jetzt geht der eine jagen, der andre fischen; der eine baut, der andre malt; der eine lernt seine Schauspielrolle, der andre übt sein Musikstück, eine Tänzerin lernt einen neuen Tanz, ein Gelehrter schreibt ein neues Buch – alle im ganzen Land kochen und braten, exerzieren und musizieren, schreiben und malen und tanzen, alle thun alles, damit der König und die Königin eine Freude daran haben; denen wird’s zugerichtet!“
„Das verstehe ich!“ fiel Walpurga ein und Mamsell Kramer fuhr fort:
„Glaube mir, ich habe sechzehn Ahnen im Schlosse“ – es waren eigentlich nur sechs, aber sechzehn spricht sich besser, und darum erlaubte sich Mamsell Kramer diesen Aufputz – „seit vielen Geschlechtern sind meine Ahnen Hofdiener, mein Vater ist Kastellan auf der Sommerburg; ich bin dort geboren, ich kenne den Hof; ich kenne alles; ich kann dich viel lehren.“
„Und ich lerne gern,“ schaltete Walpurga ein.
„Du denkst, alle Menschen meinen’s gut? Glaube mir, in einem Schlosse sind Menschen von allen Arten, schlechte und gute, da laufen alle Laster herum und alle Tugenden, Dinge, von denen du gar keine Ahnung hast und nie bekommen sollst; aber manierlich thun sie alle. Ich bitte dich: bleib so, wie du bist, und gehe wieder so heim, wie du gekommen.“
Walpurga sah die Mamsell groß an. Wer kann sie denn anders machen?
Es kam die Nachricht, die Königin sei erwacht, Walpurga solle mit dem Prinzen zu ihr kommen.
Sie ging, das Kind auf dem Arme, durch die Zimmer, geleitet vom Leibarzt, Mamsell Kramer und zwei Kammerfrauen. Die Königin lag ruhig und schön auf dem Kissen, sie wendete nur grüßend das Antlitz zu den Eintretenden. Ein breiter, schräger Strahl des Sonnenlichtes fiel durch den zurückgesteckten Vorhang in das Zimmer; es war heute noch viel schöner, noch viel stiller in dem Gemache, als ob es eine Stille gäbe, die noch mehr als Lautlosigkeit sei.
„Guten Morgen!“ rief die Königin mit inniger Stimme. „Gib mir mein Kind!“ Sie senkte den Blick zu dem Kinde auf ihrem Arme, dann schlug sie die Augen auf und hauchte leise, ohne jemand anzublicken:
„Ich sehe mein Kind zum erstenmal im vollen Tageslicht!“
Geraume Weile war alles still, als atmete hier kein Menschenleben, und als dränge der breite Sonnenstrahl nur allein ins Zimmer.
„Habt Ihr gut geschlafen?“ fragte die Königin. Walpurga war froh, jetzt hat die Königin gefragt, jetzt darf sie antworten. Rasch streifte ihr Blick die Mamsell Kramer.
„Ja gewiß,“ sagte Walpurga. „Schlaf ist das Erste und Letzte und Beste, was man auf der Welt kriegt.“
„Sie ist klug,“ sagte die Königin in französischer Sprache, zum Leibarzt gewendet.
Walpurga erschrak bis ins Herz hinein. Sobald sie Französisch hörte, kam sie sich wie verkauft und verraten vor; die Menschen waren ihr in eine Tarnkappe gehüllt, wie die Kobolde im Märchen, sie waren unsichtbar und sprachen doch.
„Hat der Prinz auch gut geschlafen?“ fragte die Königin.
Walpurga wischte sich mit der Hand übers Gesicht, als ob sie eine Spinne abschüttle, die darüber kriecht. Die Königin nennt ihr Kind nicht Kind und nicht Sohn, sondern Prinz.
Walpurga antwortete:
„Ja, gottlob! ganz gut; wenigstens habe ich nichts von ihm gehört, und ich hab’ nur sagen wollen, ich möchte es mit ihm“ – sie konnte nicht Prinz sagen und sprach nur immer mit er – „ich möchte es mit ihm halten, wie mit meinem eigenen Kind. Das haben wir vom ersten Tag an gut gezogen. Meine Mutter hat mich’s gelehrt. So ein Kind hat von der ersten Minute an seinen Eigenwillen, dem darf man nicht nachgeben. Man darf es nicht aus der Wiege nehmen, wenn es will, und ihm auch nicht zu trinken geben, wenn es will; das hat alles seine gesetzte Zeit, es gewöhnt sich bald daran und es schadet ihm gar nichts, wenn man’s schreien läßt; im Gegenteil, da geht die Brust recht auseinander.“
„Schreit er?“ fragte die Königin.
Das Kind gab selbst die Antwort, es fing laut zu schreien an.
„Nimm ihn und beruhige ihn,“ bat die Königin.
Der König trat eben ein, als der Knabe noch laut schrie.
„Das gibt eine gute Kommandostimme,“ sagte er, streckte seiner Frau die Hand entgegen und küßte die ihrige.
Walpurga beruhigte das Kind; sie wurde mit Mamsell Kramer wieder in ihre Zimmer zurückgeschickt.
Der König erzählte von den eingegangenen Depeschen und der Bestimmung der Paten. Die Königin war mit allem einverstanden.
Als Walpurga wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt war und das Kind in die Wiege gelegt hatte, ging sie unruhig auf und ab.
„Es gibt keinen Engel auf der Welt! sie sind alle grad so wie wir und wer weiß ...“ so sprach sie. Sie war zornig auf die Königin: warum will sie nicht ruhig mit anhören, wie ihr Kind schreit? Man muß alles von den Kindern auf sich nehmen, Freud’ und Leid.
Sie trat auf den Gang hinaus, da hörte sie die Orgel in der Schloßkapelle. Zum erstenmal in ihrem Leben war ihr dieser Klang zuwider. Das gehört nicht ins Haus, dachte sie, nicht da grad nebenhin, wo allerlei getrieben wird; die Kirche muß allein für sich stehen.
Als sie wieder ins Zimmer kam, war ein Fremder da. Mamsell Kramer sagte, daß dies der Leibschneider der Königin sei.
Walpurga lachte laut auf über das Wort: Leibschneider. Der elegante Mann sah sie verdutzt an, und Mamsell Kramer erklärte, das sei der Kleidermacher Ihrer Majestät der Königin; er sei gekommen, um für Walpurga drei neue Anzüge zu machen.
„Soll ich Stadtkleider tragen?“
„Gott bewahre! du sollst die Tracht deiner Heimat ganz genau haben, und kannst dir ein rotes, blaues und ein grünes Mieder bestellen. Oder willst du lieber eine andre Farbe?“
„Ich wüßte nicht; aber ich möchte auch ein Werkeltagskleid haben. So immer im Sonntagsputz herumgehen für alle Tag – das geht doch nicht!“
„Am Hofe geht man immer in Sonntagskleidern, und du mußt, wenn Ihre Majestät die Königin wieder ausfahren, mit ihnen ausfahren.“
„So? Meinetwegen! Mir kann’s schon recht sein.“
Walpurga lachte immerfort, während ihr das Maß genommen wurde, so daß der Schneider bitten mußte, sich ruhiger zu halten. Während er das Maß einsteckte, erklärte er noch der Mamsell Kramer, daß er sich ein genaues Modell habe kommen lassen, auch habe ihm der Oberzeremonienmeister noch einige Zeichnungen zukommen lassen, so daß die Tracht gewiß die vollkommene würde.
Zuletzt bat er noch, den Kronprinzen sehen zu dürfen.
Mamsell Kramer wollte es gewähren, aber Walpurga wehrte sich dagegen. Bevor das Kind getauft ist, darf es keiner aus Neugierde ansehen; und nun gar ein Schneider. Da wird das Kind sein Lebtag kein rechter Mann.
Mamsell Kramer gab dem Hofschneider einen verständnisreichen Wink, daß man gegen den Aberglauben der Leute aus dem Volk nichts thun und die Amme nicht aufregen dürfe; der Schneider verabschiedete sich.
Walpurga hatte nach diesem Vorfall die erste heftige Zurechtsetzung mit Mamsell Kramer. Sie begriff nicht, wie sie das Kind wollte begucken lassen. „Nichts thut einem Kinde weher, als wenn man’s im Schlaf ansieht, und noch dazu ein Schneider! Meck, meck!“
Die ganze tolle Laune, die sich im Volkslied gegen die Schneider kundgibt, brach in Walpurga hervor, und sie sang eines jener herben Spottlieder:
„Hei lustig Blut und unverzagt,
Es hat ein’ Schneck ein’ Schneider g’jagt,
Und wär der Schneider nicht tapfer g’sprunge,
So hätt die Schneck den Schneider g’funge.
Die Kuchipfanne hat ein Loch,
Gibili Gäbeli Geißebock.“
Durch die Bekanntschaft mit dem Hofschneider war Mamsell Kramer sehr in ihrer Achtung gesunken. Diese suchte die spottsüchtig Aufgeregte zu beruhigen und sagte:
„Freust du dich denn gar nicht auf deine schönen, neuen Kleider?“
„Ehrlich gestanden: Nein! Ich zieh sie ja nicht für mich an, ich zieh sie für andre an, die hängen an mich hin, was ihnen gefällt. Meinetwegen! Ich hab’ mich einmal hergegeben und muß mir’s gefallen lassen.“
„Ist’s erlaubt, einzutreten?“ fragte eine holde Stimme.
Gräfin Irma trat ein. Sie streckte Walpurga beide Hände entgegen und sagte:
„Grüß Gott, Landsmännin! Ich bin auch aus dem Gebirge, sieben Stunden weit von deinem Ort; ich kenne ihn. Ich bin einmal mit deinem Vater über den See gefahren. Lebt er noch?“
„Nein, leider nicht mehr; er ist ertrunken und der See hat nicht einmal den Toten mehr hergegeben.“
„Es war ein schöner alter Mann. Du siehst ihm gleich, wie aus dem Gesichte geschnitten.“
„Das freut mich, daß noch jemand hier ist, das meinen Vater gekannt hat. Der Leibschneider – ich hab’ sagen wollen, der Leibarzt hat ihn auch gekannt. Ja, Land aus, Land ein hat es keinen braveren Mann gegeben, als meinen Vater, das muß jeder sagen.“
„Jawohl, das hab’ ich auch gehört.“
„Darf man fragen: Wie heißt denn das Fräulein?“
„Gräfin Wildenort.“
„Wildenort? Den Namen hab’ ich auch schon gehört. Ja, jetzt besinn’ ich mich, meine Mutter hat mir ihn genannt. Ja, Ihr Vater soll ein gar wohlthätiger Mann gewesen sein. Ist er auch schon lang tot?“
„Nein, er lebt noch.“
„Ist er auch hier?“
„Nein.“
„Und als was sind Sie denn hier, Fräulein Gräfin?“
„Als Hofdame.“
„Was ist das?“
„Gesellschafterin der Königin, so was man bei euch Gespiel heißt.“
„So? Und da hat Sie Ihr Vater fortgegeben?“
Der Gräfin Irma war dieses viele Fragen gar nicht genehm. Sie sagte daher: „Walpurga, ich habe dich fragen wollen, kannst du gut schreiben?“
„Ich hab’s gekonnt, aber wieder ganz verlernt.“
„Da hab’ ich’s doch recht getroffen, daß ich deshalb gekommen bin. Also, wenn du an deinen Mann, an Mutter und Kind schreiben willst; diktiere mir’s in die Feder, ich schreibe dir alles, wie du mir’s vorsagst.“
„Ich könnte das ja auch thun,“ warf Mamsell Kramer schüchtern ein, „und die gnädige Gräfin brauchten sich nicht zu bemühen.“
„Nein, das Fräulein Gräfin schreibt mir. Wollen wir gleich?“
„Jawohl!“
Aber Walpurga mußte zu dem Kinde.
Während sie im zweiten Zimmer war, besprach sich Gräfin Irma mit Mamsell Kramer.
Walpurga kam wieder herein, Irma saß mit der Feder in der Hand vor dem Papier und Walpurga begann zu diktieren:
„Lieber Mann, liebe Mutter und liebes Kind. Nein, halten Sie ein! schreiben Sie nicht so! Nehmen Sie ein frisches Blatt! So, jetzt hab’ ich’s! jetzt schreiben Sie.“
„Ich will Euch zu wissen thun, daß ich mit Gottes Hilfe in der Kutsche mit den vier Pferden gesund und gut hier angekommen bin. Ich weiß nicht wie. Und die Königin ist ein Engel und Millionen Lichter und mein Kind ...“
Plötzlich bedeckte sich Walpurga das Gesicht mit beiden Händen – sie wußte nicht, wen sie meine, als sie „mein Kind“ sagte.
„Und mein Kind“ – wiederholte Gräfin Irma nach längerer Pause.
„Nein!“ rief Walpurga, „ich kann heut nicht schreiben. Verzeihen Sie mir, es geht nicht. Aber ich hab’ Ihr Versprechen, daß Sie mir schreiben, morgen oder übermorgen. Kommen Sie nur jeden Tag zu uns!“
„Und soll ich dann noch eine gute Freundin mitbringen?“
„Wer mit Ihnen gut Freund ist, kann schon kommen! Nicht wahr, Mamsell Kramer?“
„Jawohl, Gräfin Irma haben besondere Erlaubnis.“
„Ich bringe dir eine sehr gute Freundin mit, die kann prächtig singen, sie hat eine Summe so lind und sacht – aber ich will dich nicht lange mit Rätseln Plagen, ich kann Zither spielen, und da bring’ ich meine Zither mit!“
„Du kannst Zither spielen!“ rief Walpurga, und knirschte die Zähne vor Freude aneinander.
Ihr weiterer Ausruf wurde unterbrochen, denn der König trat ein.
Er begrüßte mit sanfter Neigung der Augen Gräfin Irma. Sie war aufgestanden und verbeugte sich vor ihm wieder so, als ob sie sich geradeswegs auf den Stubenboden setzen wollte.
„Was schreiben Sie da?“ fragte der König.
„Majestät, das sind Geheimnisse der Walpurga,“ erwiderte Gräfin Irma.
„Was da steht, kann der König schon lesen,“ sagte Walpurga und übergab ihm das Blatt.
Er durchflog es, faltete es dann zusammen und steckte es mit einem Blick auf die Gräfin in die Brusttasche.
„Ich werde mit Walpurga singen,“ sagte Irma, „da sehen Majestät wieder, wie Musik das Höchste ist auf der Welt. Walpurga und ich, wir sind gleich, wenn wir singen. Was andre Künste hervorbringen, zumal die Dichtkunst, übersetzt jeder in seine eigene Sprache, nach seiner Erfahrung und Anschauung.“
„Gewiß,“ erwiderte der König. „Musik allein ist die Weltsprache und braucht nicht übersetzt zu werden, da spricht Seele zu Seele.“
Walpurga sperrte Mund und Augen auf, wie die beiden so miteinander sprachen.
Mit Gräfin Irma gemeinsam betrachtete nun der König eine kurze Weile den Prinzen, dann sagte er: „Nächsten Sonntag ist die Taufe,“ und verabschiedete sich.
Walpurga sah dem König mit seltsamem Blicke nach, dann betrachtete sie ernsten Auges Gräfin Irma.
Diese machte sich schnell mit den Papieren zu schaffen, dann verabschiedete sie sich mit heiterer Stimme, und zwar so heiter, daß es fast erzwungen schien – es war kein Grund zum Lachen da, und sie lachte doch.
Walpurga sah noch lange auf die Thürvorhänge, hinter denen die Gräfin verschwunden war, dann sagte sie zu Mamsell Kramer:
„Sie haben ein wahres Wort gesagt, das Schloß ist keine Kirche.“
Sie ließ sich nicht dazu herbei, sich näher zu erklären.
„Ich will dich schreiben lehren,“ sagte Mamsell Kramer, „dann haben wir eine gute Beschäftigung und du kannst allein an die Deinigen schreiben.“
„Ja, das will ich,“ schloß Walpurga.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1