Achtes Kapitel. - Der Wagen rollte dahin, die Straße am See entlang, und verschwand den Nachschauenden ...

Der Wagen rollte dahin, die Straße am See entlang, und verschwand den Nachschauenden dort um die Ecke an dem Steinhaufen, wo noch das Heu lag, auf welchem Walpurga vor vierzehn Tagen gesessen hatte.
Ein schönes schwarzbraunes Mädchen in verwahrlostem halbstädtischem Anzüge, von mächtiger Gestalt und dicken bläulichschwarzen Flechten auf dem Kopfe, ging am Wagen vorüber, sah staunend auf Walpurga und grüßte erst, als sie vorüber war.
„Das ist die Tochter von der Alten, der Ihr ein Geschenk gegeben habt!“ rief Walpurga dem Lakai auf dem Bocke zu. „Man heißt sie die schwarze Esther. Die wird ihrer Mutter das Geld abnehmen, wenn sie’s nicht vergräbt.“
Baum wendete sich gegen die Sprechende um, schaute sie aber nicht an, sondern sah über den Wagen hinweg, dem Mädchen nach, denn es war seine Schwester und er hatte seiner Mutter, die ihn angebettelt, ein Geschenk gegeben und sie verleugnet. Nun saß er, die Arme auf der Brust übereinandergeschränkt, neben dem Postillon; er hatte es nötig, sich eine Brustwehr anzulegen, denn es war ihm doch, als wenn ihm die Brust zerspringen müßte. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber und er setzte sich oftmals wieder fest, um nicht vom Wagen zu stürzen. Jetzt fährt der Wagen an einem Bauernhofe vorüber, wo Baum, es sind jetzt volle zwanzig Jahre, auf Geheiß seiner Mutter zum erstenmal eine Gans gestohlen hat. Die Lücke im Zaun ist zugewachsen, wo er damals als schlanker Bursch auf dem Bauch hineinschlüpfte.
Baums Zwillingsbruder Thomas hatte sich den Wilddieben angeschlossen, aber Baum hatte hierzu kein Geschick und war damals froh, daß er zum Soldaten genommen wurde. Da stand er einst Wache im Innern des Schlosses. Ein alter Kammerdiener brachte einen Brief von der zu jener Zeit allmächtigen Baronin Steigeneck; er mußte lange warten, unterhielt sich mit Baum und fand offenbar Wohlgefallen an ihm; er lud ihn ins Palais der Baronin ein, sie zechten miteinander in der unteren Stube und waren überaus heiter.
„Warum hast du rote Haare?“ fragte ihn der alte Kammerdiener.
„Warum? – Weil sie so gewachsen sind!“
„Das kann man aber ändern.“
„So? das kann man ändern?“
Der Alte gab Baum sogleich die nötige Unterweisung.
„Und einen andern Namen mußt du auch annehmen! Rauhensteiner – das ist ein viel zu harter Name für die Herrschaften, der spricht sich nicht leicht, besonders für diejenigen, die falsche Zähne haben. Beck oder Schulz, oder Hecht oder Baum, so einen Namen mußt du annehmen. Schau, ein Hund heißt auch nicht, er wird nur gerufen, wie es seinem Herrn eben recht ist.“
„Baum – Baum wär’ mir schon recht.“
„Gut, also Baum!“ – Als er an jenem Abend heimkehrte, sagte er immer vor sich hin: „Baum, Baum – das ist leicht und kurz bei einander und dabei kennt mich niemand!“ Er hatte dem alten Kammerdiener auch geschworen, ewig von seiner Familie getrennt zu bleiben. Das war ihm heute in seinem Heimatsdorfe glücklicherweise wieder eingefallen; er machte sich zwar nichts aus einem Schwur, aber es war bequem, ihn zu halten, und er kam sich dabei sehr brav vor.
Auf Vermittlung des Steigeneckschen Kammerdieners wurde in seinen Soldatenabschied geschrieben: „Wolfgang Rauhensteiner, genannt Baum“; später hieß er nur noch Wolfgang Baum und niemand wußte mehr, daß der Mann je anders geheißen. Er verzichtete gern auf Erbanfälle, die aus dem Namen Rauhensteiner ihm kommen könnten.
Er trat in den Hofdienst und ging mit dem Prinzen zuerst als Reitknecht auf die Universität und dann auf Reisen nach Italien. Vorher hatte er sich in seinem Heimatsort seinen Paß zur Auswanderung geholt und sich sofort seine roten Haare schwarz gefärbt. Im Dorfe galt er für ausgewandert.
Nach der Rückkehr von den Reisen heiratete er die Tochter des Kammerdieners und machte sich nun immer beliebter bei den Herrschaften am Hofe. Er hatte stets ein diskretes Benehmen, hustete immer unter der vorgehaltenen linken Hand. Er freute sich seines Namens „Baum“, er sparte den Herrschaften gern jede Mühe, er hätte wo möglich alle harten Konsonanten aus der Sprache entfernt, damit sich die Herrschaften nicht anzustrengen haben.
„Es bleibt dabei,“ sagte Baum in sich hinein auf dem Bocke neben dem Postillon und hustete unter der vorgehaltenen Hand – „es bleibt dabei“ – und seine Miene war fest und ruhig, als ob ihn jemand beobachtete – „ich bin nach Amerika ausgewandert. Da wäre ich ja auch tot und verloren für die Meinigen. Was Meinige! Nichts als zu Grunde richten könnten sie mich, ausbeuteln und mir immer auf dem Halse liegen. Nichts da!“ – Er betrachtete die Leute, die auf der Straße gingen, er erkannte viele. „Ach, was für ein erbärmliches Leben führen doch diese Menschen, das ganze Jahr keine Freude und nichts! Zum Sonntag einmal rasiert und angepredigt und nachher geht wieder das alte schmutzige Elend an. Wer einmal draußen ist, wäre ein Narr, wenn er nur noch daran denken könnte, wieder zurückzukehren!“
Während Baum auf dem Bock sein längst versunkenes Leben noch einmal auferweckte, saß Walpurga drin im Wagen und schluckte gewaltsam die Thränen hinunter; all ihr Fühlen und Denken war mit fortgenommen wie von einer höheren Gewalt. Sie fügte sich geduldig.
Sie schaute verwundert auf die Bäche, die da und dort so eilig von den Bergen herabkamen und eine Weile mit dem Wege liefen, als wollten sie auch noch sehen, was aus der Walpurga geworden. Wenn man rasch über die hölzernen Brücken fuhr, daß es laut polterte und der Bach so wild grollte, ballte Walpurga immer zitternd die Fäuste; sie atmete erst wieder frei auf, wenn es drüben den glatten Weg dahinging. Sie schaute hinauf zu den Bergen, zu den Häusern und Almhütten, sie kannte sie alle bei Namen; bald aber ging’s doch in fremde Gegend.
An der nächsten Station, wo man die Pferde wechselte, stand eine große müßige Sonntagsgruppe beim Posthause. Die Leute sahen staunend auf, als eine Bäuerin aus dem vornehmen Wagen stieg. Eine Frau, die gegenüber unter einer Linde eben ihr Kind säugte, richtete sich neugierig auf, und das Kind wendete sich um, Mutter und Kind sahen mit großen Augen auf Walpurga; sie nickte ihnen zu, aber schwere Tropfen traten ihr ins Auge und es schnürte ihr die Kehle zusammen. In raschem Galopp ging es wieder von dannen, der Postillon blies, die Pferde griffen aus, Walpurga war’s, wie wenn sie durch die Luft fliege.
„Nicht wahr, Walpurga, das geht schnell?“ rief Baum zu der im Wagen Sitzenden zurück. Walpurga erschrak, als sie ihn jetzt ansah; der ist doch dem Thomas wie aus dem Gesichte geschnitten.
„Ja, ja!“ erwiderte sie. Der Arzt sprach wenig mit ihr. Er fühlte die innere Bewegung dieser Frau und es rührte ihn menschlich an. Das Stellungsbewußtsein, das er sonst stark betonte, hielt nicht vor. Die Frau war etwas mehr als bloßes Werkzeug, man darf schon menschlich zutraulich gegen sie sein; sie hat sich gar schwer losgelöst. – Der Hofarzt überlegte, was er mit der Frau sprechen könnte; endlich fand er’s.
„Habt Ihr Euren Doktor gern?“ fragte er.
„O, gewiß! Er ist ein gespaßiger Mann. Er schimpft alle Menschen aus und macht sie erbärmlich ‘runter, daneben aber thut er Gutes, wo er nur kann, und arm und reich ist ihm gleich, da ist gar kein Unterschied, Tag und Nacht. O, das ist ein ganz braver Mensch!“
Der Hofarzt lächelte und fragte weiter:
„Kennt Ihr auch seine Frau? Er hat mir sie gar nicht gezeigt.“
„Freilich kenn’ ich sie; sie ist ja des Apothekers Hedwig, das sind auch gar brave Leute, und sie ist ein feines, liebes Geschöpf, still und häuslich; sie haben prächtige Kinder, ich glaub fünf oder sechs; sie hat viel zu thun. Er hätt’ Euch schon in sein Haus bringen können, es sieht gar sauber drin aus.“
Der Hofarzt freute sich der guten Nachrede über seinen Freund. Er hatte die Gedanken der Frau auf etwas andres gelenkt und dabei war’s nun gut; jetzt konnte sie selbst sehen, wie sie weiter mit sich fertig wird.
So saß Walpurga allein, dachte zurück und schaute die Dinge wie träumend an. Da sind Felder und Wiesen, da ist wieder ein Dorf, Blumen blühen auf einem Fensterbrett, große Ranken, daran rote Nelken, hängen herab; solche hast du daheim auch – vorbei! Da drüben ist der Gottesacker, die schwarzen Kreuze schauen hinein in den hellen Tag und sind halb eingesunken, im Dorf ist Musik und Tanz, und Tänzer und Tänzerinnen kommen mit glühenden Gesichtern ans Fenster gelaufen. Und weiter geht’s an Feldern und Wäldern vorbei, da sind wieder Häuser, da sitzen Menschen so geruhig beisammen und plaudern, und der Postillon bläst. Ein Kind läuft gerade mitten in der Straße, die Mutter springt ihm nach mit einem Schrei und nimmt’s auf und rennt mit ihm davon, der Wagen rollt weiter, Walpurga schaut sich um, sie weiß, daß die Menschen dort jetzt Gott danken – und weiter geht’s. Da ist ein Knabe, der läßt eine einsame Kuh grasen am Wegrain. – Hier draußen sind keine Kirschen mehr an den Bäumen, in der milden Ebene sind sie früher reif. Und da sind große weite Kornfelder, die wogen wie der See, solche gibt’s nicht im Gebirge, so weit, weit hinaus ... Wie glücklich müssen die Menschen sein, hier in der Ebene, wo man noch andres hat als Wasser, Wiese und Wald. Dort im Brachfelde ruht, auf die Seite gelegt, ein Pflug – wie schlafend über den Sonntag. Es wird Abend, Lichter blinken auf, überall sind Menschen, sie sind daheim, und du wirst fortgenommen – weiter, immer weiter geht’s. An der nächsten Poststation steigt der Hofarzt nicht aus und Walpurga auch nicht, die Pferde werden schnell gewechselt, ein andrer Postillon steigt auf, die alten Pferde gehen mit schweren Tritten in den Stall, und fort geht’s, immer weiter, Walpurga sieht nichts mehr, ihre Augen schließen sich, sie hört wie im Traum, daß man wieder stillhält und die Pferde wechselt, und wie Baum dem Postillon befiehlt, nicht zu blasen, denn die Herrschaft schlafe. „Ich nicht!“ sagte der Hofarzt. „Und ich auch nicht! blas du nur, Postillon!“ sagte Walpurga – „verzeihen Sie, daß ich mich zur Herrschaft rechne!“ setzte sie schnell hinzu. Der Postillon bläst und die Sterne glitzern, und wieder geht’s durch Dörfer, Fenster werden rasch geöffnet, die Menschen haben nicht Zeit, sich zu besinnen, was für ein Wunder vorübersaust, es geht im mächtigen schnellen Trab, die Pferde setzen die Beine so richtig im Takt wie gute Drescher, und die Welt sieht so wunderlich aus im flüchtigen Schein der beiden Laternen am Wagen, und jetzt – in der Ferne sieht man ein großes Licht – breit – weit – und drüber ein Dampf.
„Die Stadt ist illuminiert!“ ruft Baum in den Wagen hinein, die Pferde eilen schneller und der Postillon bläst lustiger. Man ist in der Residenz.
Die Menschen wogten noch durch die Straßen und jubelten, der Wagen konnte nur langsam vorwärts.
„Das ist die Amme des Kronprinzen,“ hieß es bald, und mit lautem „Hoch! Hoch!“ wurde Walpurga von der übermütigen Menge begrüßt; sie wußte nicht, was sie thun sollte. Sie verhüllte ihr Gesicht. Endlich fuhr man in den Burgfrieden des Schloßhofes ein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Höhe - Band 1