Auf der Duene

Novelle
Autor: Spielhagen, Friedrich (1829-1911) deutscher Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1908
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Dünen, Friedrich Spielhagen, Lootsenkommandeur, Landungsbrücke, Schleppdampfer, Insel, See, Sommerferien, Bagger, Maschinenmeister, Kapitän, Studierstube, Baggerinspektor, Wilhelm Tell, Wasserstrasse, Flottille, Nedur, Küste, Eiland, Götter, Meer, Segelboot, Kudder, Poseidon, Sonnenuntergang, Stranddorf, Hafen, Seevögel, Matrosen, Homer, Segel, Sonnenuntergang, Postdampfer
Inhaltsverzeichnis
  1. An Bord von Sr. Majestät Schleppdampfer
  2. Der Seebagger und sein Meister
Paul St. an Franz S. in Berlin.

An Bord von Sr. Majestät Schleppdampfer „der Adler“ Nachts 12 Uhr.


Wenn Du, lieber Franz, über den fabelhaften Ort, von dem aus ich in diesem Brief datiere, einen gelinden Schrecken empfändest und etwa meintest, ich sei schon auf dem Wege nach Amerika, so sollte mir das im Grunde genommen ganz recht sein. Einmal würde ich ans dieser Regung schließen, dass du meiner noch in alter Liebe gedenkst; und sodann, könntest Du Dich wundern, wenn die Hartnäckigkeit, mit der Du in Berlin auf unsrer Trennung bestandest, der Hohn, mit dem Du mir beim Abschiede die Flügel der Morgenröte wünschtest, mich wirklich zu dem verzweifelten Entschlüsse und bis ans äußerste Meer getrieben hätten? Oder wähnst Du etwa, ich würde Dich nicht verantwortlich machen für all’ die Leiden, die ich in diesem Lande der Lothophagen und Kyklopen schon erduldet habe und noch erdulden werde? Könntest Du Dich beilegen, wenn ich von meinem Dulderrechte Gebranch machte, Und Dich in den Armen irgend einer Kalypso vergäße? Wer weiß, welche „Göttin oder auch Weib“ die heilige Insel bewohnt, auf die mich Gustav morgen früh bringen wird, und die für einige Wochen meine Scheria sein soll? Lag nicht so etwas Geheimnisvolles, Heilverkündendes in seinem: Auf morgen also! mit dem er eben, leist gähnend, und das Licht mit der einen Hand schützend, durch die Tür der Kajüte verschwand?

Und jetzt runzelst Du die Stirn, und drohst, nicht eine Zeile weiter lesen zu wollen, wenn ich nicht alsbald größere Ordnung in meine Rede bringe und Dir vor allem sage, was das mit dem Adler und mit Gustav und der geheimnisvollen Insel für eine Bewandtnis habe!

Einfach diese. Ich saß heute Morgen in meinem Studierzimmer, so melancholisch, wie derjenige notwendig sein muss, der acht Wochen Sommerferien vor sich hat, und keinen besseren Gebrauch davon zu machen weiß, als sich in sein Zimmer einzuschließen, mit der selbstmörderischen Absicht, sich durch einen Bücherhaufen von mehreren Kubikfuß durchzuarbeiten. Vergebend, dass die Vögel lustig in den Bäumen vor meinem Fenster zwitscherten; vergebens, dass die Wölkchen, die am blauen Morgenhimmel hinsegelten, mich hinaus und in die Ferne lockten; vergebens, dass die blauen Lüste mir manchmal neckisch das Blatt umschlugen, und mir von blühenden Wiesen, wallenden Kornfeldern und schattigem Waldesdunkel erzählten — ich wollte von der Natur nichts wissen, weil ich keinen Menschen hatte, mit dem ich mich in ihrer Herrlichkeit freuen konnte. Denn, wir mögen uns stellen, wie wir wollen: der Mensch kann einmal den Menschen nicht entbehren; und selbst dann, wenn wir in einem hypochondrischen Anfalle vor den Menschen in die Natur fliehen, müssen wir sie doch wieder mit lieben Gestalten, und wären es auch nur Geschöpfe unserer Phantasie, beleben, wenn sie uns nicht alsbald tot und leer erscheinen soll.

Und während ich diesen Gedanken noch weder verfolgte, und seufzend überlegte, welch trauriger Ersatz selbst das beste Buch für einen mittelmäßigen Gesellen ist, den wir lieb haben; und ich, wie König Philipp, die Vorsehung um einen Menschen bat, der mir die Last der nächsten Wochen möchte tragen helfen, — vernahm ich plötzlich auf meinem Vorsaale einen ziemlich lebhaften Wortwechsel zwischen der keifenden Stimme meiner Wirtin, die den strengsten Befehl hatte, jedermann, er sei, wer er sei, abzuweisen, und einer tiefen Männerstimme, die nicht Willens schien, sich abweisen zu lassen. Da mir war, als ob ich den Bass kennen müsste, und ich überdies den vor einer Stunde gegebenen menschenfeindlichen Befehl schon seit neunundfünfzig Minuten bereute, beging ich die Inkonsequenz, die Tür zu öffnen, und meinen Vetter Gustav, denn er war es, in mein Sanktuarium einzulassen. Du wirst Dich Gustavs von dem Winterhalbjahr her erinnern, als er sich in Berlin aufhielt, um ein Examen zu machen, dass so wunderlich war, sich nicht machen lassen zu wollen. Möglicherweise erinnerst Du Dich seiner aber auch nicht; denn er ist in keiner Einsicht eine merkwürdige Erscheinung. Er ist einer von den Menschen, mit denen man nicht ungern stunden- ja tagelang beisammen ist, und die man vollständig aus dem Gedächtnisse verliert, sobald man ihnen den Rücken wendet. Er gehört zu den Leuten, die uns lieb werden können, wie ein bequemer Hausrock. Man ist nicht stolz auf den alten Flaus; man verleugnet ihn wohl gar, wenn die feine Gesellschaft kommt, aber ist die fort, vertauscht man ihn doch gern wieder mit dem Galakleide. Ich war deshalb so erfreut, den treuen Menschen wieder zu sehen, als ob ich während der vierjährigen Trennung tagtäglich an ihn gedacht hätte, und schämte mich wahrlich meiner Gleichgültigkeit, wenn ich sie mit der Teilnahme verglich, mit der er meinem Tun und Treiben Schritt vor Schritt bis hierher in meine Studier-Stube gefolgt war, so dass ich ihm beinahe Nichts, er mir dagegen desto mehr zu erzählen harte. Ich wusste nicht einmal, dass er seit zwei Jahren verheiratet war! Weiter vertraute er mir, dass er alle Gedanken an eine glänzende Karriere aufgegeben habe, da, wie er sich naiv ausdrückte, ein Examen für einen Familienvater ein zu gewagtes Ding sei, bei dem man das bisschen häusliche Autorität noch vollends verlieren könnte; sich überhaupt dergleichen jugendliche Kraftäußerungen für einen Mann in seinem Alter nicht mehr recht schickten. Sodann, dass seine Frau ihm ein hübsches Vermögen zugebracht habe, und er mit seiner bescheidenen Stellung als Baggerinspektor — ein Titel, der, wie er mir nicht ohne Stolz erzählte, eigens für ihn geschaffen ist — vollkommen zufrieden sei. ,,So führe ich denn,“ sprach er, „still und harmlos, wie Wilhelm Tell vor dem dritten Akt, halb auf dem Wasser und halb auf dem Lande lebend, ein amphibienartiges Dasein. Für diesen Sommer ist meine Flottille an dem Eingang der engen Wasserstraße, die zwischen der Insel und unserer Küste hindurchführt, stationiert.“ Auf meine Frage, ob er denn auch Frau und Kind dem trügerischen Elemente anvertraut habe, antworten er mir, ob ich nie etwas vom „Nedur“ gehört hätte. Ich schüttelte den Kopf. Nun belehrte er mich, dass an dem Eingange der Wasserstraße zwischen der Insel und der Küste ein kleines Eiland, „Nedur“ genannt von den Göttern und den sterblichen Menschen, gelegen sei, welches einer großen Menge von Seevögeln und einer kleinen Anzahl von Menschen zum Aufenthaltsort diene; dass besagtes Eiland von unsäglicher Wichtigkeit für alle handeltreibenden Nationen der Erde sei, nicht nur als der schicklichste, sondern auch als der einzige Punkt, den ein weises Gouvernement in diesem Teile der Gewässer für die Anlegung einer Lootsenstation habe ausfindig machen können; dass, da das Meer, besonders bei Nord-Ost, eine unverkennbare Neigung blicken lasse, den „Nedur“ mit Allem, was darauf sei, zu verschlingen, er durch allerlei höchst künstliche Wasserbauten für die Erhaltung desselben Sorge zu tragen habe, ein Geschäft, dem er sich mit um so größerem Eifer unterziehe, als in dem Hause des Lootsenkommandeurs ebendaselbst seine Familie zur Zeit sich befinde. „Von Deiner Übersiedelung aus dem leidigen Berlin hierher in diese Universitätsstadt,“ fuhr er fort, „habe ich von Bernhard gehört; und ich wäre schon längst einmal herübergesegelt, wenn ich irgend Zeit gehabt hätte. Wir sind im Umkreis von hundert Meilen die Einzigen aus der Familie, und Verwandte, meine ich, müssen zusammenhalten. Wie wär's, wenn Du Deine Sachen packtest, und Deine Ferien bei mir verlebtest? Viel kann ich Dir nicht bieten; aber — was für ein bedenkliches Gesicht machst Du? hast Du keine Lust?“

Ich deutete mit kläglicher Geberde auf meinen mit Büchern und Papieren bedeckten Arbeitstisch.
„Du kannst die alten Scharteken ja mitnehmen, wenn Du ohne sie nicht leben kannst.“
„und Deine Frau?“

„Ja, das hätte ich beinahe vergessen.“

Hier produzierte er aus einer korpulenten Brieftasche ein zierliches Briefchen, in welchem mich meine neue Cousine, die, wie ich jetzt erfuhr, Clementine heißt, mit wenigen herzlichen Worten um einen möglichst langen Besuch bat. Auch für einen freundlichen Empfang von Seiten ihres einjährigen Söhnchens, der auch zugleich, und nicht bloß zufällig, mein Namensvetter sei, glaubte sie, einstehen zu können.

Nun frage ich Dich, ob ich, der ich noch so eben mit der ganzen Sentimentalität eines Freiligrath'schen ausgewanderten Dichters nach einem Wesen, an dessen Brust ich mein Haupt legen könnte, geschmachtet hatte, bei der Neugier, meine junge Cousine, die mir, nach den paar Zeilen schon, sehr liebenswürdig erschienen war, kennen zu lernen; bei der angenehmen Aussicht auf das Meer und ein wochenlanges Leben auf demselben, welche mir Gustavs Vorschlag eröffnete — ob, sage ich, bei so vielen Beweisen uneigennütziger Liebe kalt zu bleiben, nicht unfreundlich, unverwandtschaftlich, ja unmenschlich gewesen wäre.

So waren wir denn einige Stunden darauf an Bord des Kutters, wie Gustav das schöne große Segelboot nannte, das uns an dem Stranddorf W. (dem Hafen unsrer Stadt, wie Du weißt) erwartete, eingeschifft; und da wir nur vier Meilen zu segeln hatten und der Wind frisch aus Westen blies, wie wir ihn brauchten, so hofften wir noch vor Sonnenuntergang an Ort und Stelle anzukommen. Aber Poseidon hatte es anders beschlossen. Er hieß den West schweigen, und den Ost seine Stimme, und zwar ziemlich laut, erheben. Mir war es recht. Ich freute mich der prächtigen, schaumgekrönten Wellen, und hatte mit dem Beobachten des Himmels und des Meeres und der Ufer, und der zwei braunen Matrosengesichter, und der Seevögel, die wir auf unserer raschen Fahrt aufjagten, so viel zu tun, dass ich nicht einmal Zeit fand, meinen Homer aufzuschlagen, den ich eigens in der Absicht zu mir gesteckt haue, mir die Unterschiede zwischen dem antiken und modernen Segeln am Rande zu notieren. Und als gegen Sonnenuntergang der Wind sich gänzlich legte, und ein goldner Abend still und hehr auf die erregte See herabsank, war ich schon so gut seemännisch gesinnt, dass ich dem alten Matrosen am Steuer beim Handhaben seines schweren Ruders stundenlang ununterbrochen half, während Gustav in der Kajüte schlief. So arbeiteten wir uns mühsam weiter. Es wurde beschlossen, in der späten Stunde nicht mehr an der Insel anzulegen, sondern noch eine Viertelmeile weiter nach der Baggerflottille zu rudern. Bald tauchten denn auch die riesigen Leiber mehrerer vor Anker liegenden Schiffe aus dem Dunkel auf. Auch wir gingen vor Anker. Es wurden einige Worte zwischen Gustav und einer rauen Stimme vom Bord des uns zunächst liegenden Schiffes aufgetauscht. Dann kam eine Jolle an uns herangerudert, um uns aufzunehmen. Eine dunkle Schiffwand, eine höchst bedenkliche Strickleiter, das von einer Laterne spärlich beleuchtete Verdeck eines großen Schiffes, eine gewundene Treppe, und endlich eine schöne, geräumige Kajüte, Gustavs Arbeitskabinett und Esssaal während der Sommermonate, dieselbe Kajüte, an deren großem eichenen Tisch ich diesen unendlichen Brief an Dich schreibe, während Gustav schon lange in der früheren Damenkajüte des alten Postdampfers in den Armen des Schlafs sich vielleicht in die Arme seiner jungen Gattin, meiner unbekannten Cousine, träumt. Ich für mein Teil habe vergeblich zu schlafen versucht. Die für mich so ganz neue Situation, einige Gläser Seemannsgrog, die wir als Schlaftrunk mit, wie es scheint, nur einseitiger Wirkung getrunken, endlich die langentbehrte Lust, mit Dir zu plaudern, haben mich wach erhalten. — — Ich bin noch einmal auf dem Verdeck gewesen. Im Osten dämmerte schon ein schwacher Schimmer des neuen Tages. Der Wind hatte sich wieder aufgemacht, und leise plätscherten die Wellen gegen den Bug des Schiffs. Von dem Eiland drüben schimmerte das Licht der Leuchtbake durch das Dunkel; in langen Zwischenräumen ließ sich der heisere Schrei eines Wasservogels vernehmen. — Ich glaubte nie zuvor Homers „ambrosische“ Nacht verstanden zu haben. Was meinst Du, sollte es nicht wohlgetan sein, noch ein paar Jahre, ehe die Kraft aus den Gliedern und der Mut aus dem Herzen entflohen ist, auf gut Glück in der Welt herum zu sinbadisieren? So viel weiß ich, wäre ich nicht Doktor der Philosophie, so möchte ich wohl ein Schiffsjunge sein. Gute Nacht.