Der Seebagger und sein Meister

„Du Langschläfer,“ sagte Gustav, „wir bringen schon zum zweiten Male die Prähme fort. Mach', dass Du in Deine Kleider und auf Deck kommst.“

Als Paul eine Viertelstunde später auf das Verdeck kam, sah er im Anfang nichts als Himmel und Wasser. Die unendliche Fläche war in lange, regelmäßige Wogen gefurcht, die prächtig in der Morgensonne blitzten; schnaubend und keuchend stampfte das gute Schiff in die Wellen, durchbrach sie mit seiner mächtigen Brust, und schien seine Freude daran zu haben, wenn sich die eine oder andere in einem Sprühregen über seinen Nacken ergoss. Es musste sich es sauer werden lassen, das gute Schiff, denn hinter sich her an den mächtigen Tauen schleppte es zwei riesige flache Boote, die mit Meersand bis an den Rand gefüllt waren, und so tief im Wasser gingen, dass es Pauls ungeübtem Auge erschien, als müßten sie und die halb-nackten Männer, die darauf standen, jeden Augenblick von den Fluchen verschlungen werden. Zwei ungeheure Schlangen mit vielfach gekrümmten Rücken schien die Doppelspur, welche die Räder des Dampfers in den erregten Wassern empor wühlte, und über die Schlangen und die Boote hin warf die lange, schwarze Rauchsäule aus dem Schlot wechselnde, unheimliche Schatten. Zum ersten Mal fühlte sich Pul wirklich auf dem Meere, dem Gebiete des dunkellockigen Poseidon. Gestern auf seiner Fahrt war er, so lange es Tag war, dem Ufer zu nahe gewesen. Zwar war auch jetzt noch nicht alles Land verschwunden; aber es trat hoffnungslos weit zurück. Gegen Osten ragte ein blaues Vorgebirge der großen Insel aus den Fluten.


So hatte wohl der Sohn des Laertes das Land der Phäaken gesehen, als ihn die Welle hoch emporhob, und ihm die reuende Insel erschien „wie ein Schild“. Die Küste des Festlandes im Westen deutlich zu erkennen, mußte Paul das Fernrohr zu Hülfe nehmen, und was das kleine Eiland betrifft, von dem ihm gestern Nacht das Licht der Bake herübergeschimmert hatte, und das jetzt etwa eine halbe Meile hinter ihnen lag, so hätte es eben so gut der Rücken eines Walisisches sein können.

Unterdessen hatte das Schiff kehrt gemacht, und schwamm, die beiden Boote hinter sich, die sich an dieser Stelle ihrer Sandlast entledigt hatten, mit den treibenden Wogen der Baggerflottille zu, die halbwegs zwischen ihm und dem „Nedur“ lag. Endlich konnte es Paul über sich gewinnen, den Rufen Gustavs nach dem Hinterdeck und dem Frühstückstisch Folge zu leisten, und bald sprach er den guten Dingen, die der alte Steward in gesetzter Eile austrug, mit einem Appetite zu, der keinem der Gefährten des Odysseus, ja nicht einmal dem herrlichen Dulder selbst Schande gemacht haben würde.

„Nun, wie gefällt es Dir auf dem Adler,“ fragte Gustav.

„Dass es mir nicht besser gefallen könnte, wenn es der Vogel Rock in Person wäre.“

„Ihr Poeten seid seltsames Volk!“ sagte Gustav lächelnd, „indessen dachte ich prosaischer Mensch doch beinahe ebenso — am ersten Tage.“

„Und kann man sich jemals an dieser Pracht und Herrlichkeit satt sehen und hören?“

„Wenn Du, wie ich, Tag aus, Tag ein, und Monate lang dieselbe Reise von dem Bagger nach jenem Platze, und von dort wieder nach dem Bagger zum, ich weiß nicht wie viel hundertsten Male gemacht hättest, würdest Du Dich nicht wundern, wenn ich Deine Frage bejahe, oder Du würdest sie viel mehr gar nicht gemacht haben.“

Paul sah ganz verdutzt d'rein und Gustav fuhr ruhig fort: „Denn, siehst Du, was die Arbeit selbst betrifft, So ist sie, obgleich scheinbar sehr kompliziert, im Grunde erstaunlich einfach; und wenn das Wetter gut ist, so geht's eben von selbst.“

„Und wenn das Weiter schlecht ist?“

„So geht's eben gar nicht, und wenn die Prähme nicht mit den Köpfen an einander rennen, der Bagger und die Schiffe nicht von den Ankern treiben, und man mit einem Worte nach einer solchen Sturmnacht noch Alles hübsch beisammen hat, so kann man von Glück sagen.“

„Aber das muss ja köstlich sein!“ rief Paul voller Enthusiasmus, „so eine Sturmnacht auf dem Meere ist schon seit meinem zwölften Jahre, als ich den Robinson zum ersten Male las, mein sehnlichster Wunsch.“

„Meiner nicht!“ sagte Gustav, sich eine Zigarre anzündend und die Beine von sich streckend. „Lieber will ich denn doch die Langweiligkeit der glatten See, obgleich auch die, wie gesagt, einen ehrlichen Kerl manchmal zur Verzweiflung bringen könnte.“

„Aber, wenn Du sonst nichts zu tun hast, so kannst Du ja lesen, studieren - die große Kajüte ist zu einer Bibliothek wie geschaffen.“

„Das Studieren, weißt Du, ist nie meine starke Seite gewesen, und die Bücher, denke ich, haben mich von jeher nicht lieber gehabt, als ich sie.“

„Dann bist Du wohl oft drüben auf dem Nedur bei Deiner Frau? oder besucht sie Dich gar hier auf dem Vogel Rock?“

„Nun, hierher kommt sie freilich nicht; denn ich würde fürchten müssen, dass jene braunen Gesellen ihre Weiber und Liebchen nächstens auch mitbrächten. Und ich kann leider auch nicht so oft hinüber, als ich wohl wünschte. Denn, gibt es hier auch nicht viel zu tun, etwas gibt es immer, und ich habe die Bemerkung gemacht, dass alles Unheil geduldig wartet, bis ich den Rücken gewandt habe.“

So scheint denn ein nicht unbedeutender Teil der allgemeinen Langenweile auch auf meine Cousine zu fallen?“

„Nun, Clementine hat den Kleinen; und Frauen wissen sich immer zu beschäftigen - weiß der Himmel, wie sie's anfangen; und überdies hat sie ja auch Hedda?“

„Wer ist Hedda? ihr Mädchen?“

„Nein, des alten Walter Tochter.“

„Wer ist der alte Walter?“

„Nun, der Lootsenkommandeur.“

„und der hat eine Tochter?“

„Ja, habe ich Dir das nicht gesagt?“

„Nein; wie alt ist sie?“

„Zwanzig oder zweiundzwanzig Jahr. Sie ist ein Jahr älter oder jünger wie meine Frau, und die ist einundzwanzig.“

„Ist sie hübsch?“

„Meine Frau?“

„Ach, das versteht sich von selbst; aber Hedda?“

„Ich weiß wirklich nicht einmal; ich habe sie nie darauf angesehen.“

„Über den exemplarischen Ehemann! Aber diese Antwort steht Dir gut wie dem Schweizer seine Narben! Also hübsch ist sie nicht, und ein Gänschen obenein? nicht?“

„Oho, da kommst Du schön an! Sie ist mit meiner Frau zusammen in der Pension erzogen, und alle Welt nannte sie nur „die kluge Hedda.“

„Das klingt schon besser. Dann liest sie auch wohl?“

„Das einem um ihren Verstand bange werden möchte.“

„Ist ihre Mutter eine verständige Frau?“

„Die Mutter ist tot.“

„Armes Mädchen! seit wie lange?“

„Nun, es wird wohl vier Jahre oder so her sein. Seitdem lebt Hedda bei ihrem Vater, und hat den Nedur kaum auf vier Wochen verlassen.“

„Da wird sie wohl so melancholisch sein, wie die Heinesche blasse Frau auf dem Schlosse an der schottischen Felsenküste. Spielt sie auch die Hafe?“

„So viel ich weiß, nein; aber das Klavier, wenn Dir das genügt.“

,,Singt sie?“

,,Ja.“

„Gut?“

„Da musst Du Herrn von Elze fragen.“

„Und wer ist Herr von Elze, wenn man fragen darf?“

„Der Lieutenant -“

„In der Pensionsstadt etwa?“

„Nein, dort drüben.“

„Jetzt wird mir die Sache bedenklich. Ihr habt doch nicht am Ende noch gar Militär auf dem Nedur?“

„Gott sei Dank, nein.“

„So ist er ihr Verlobter und zum Besuch da?“

„Und wenn er es nun wäre, was geht das Dich an?“

„Ganz und gar nichts. Ich frage nur eben.“

„So eifrig? Nun beruhige Dich; von der Verlobung habe ich noch Nichts gehört, und der Lieutenant ist eher in Verbannung auf dem Nedur, als zum Besuch.“

„Nun, bei allen Olympiern! was hat es mit diesem Herrn von Elze, diesem Lieutenant ohne Kompagnie, der in Verbannung lebt, und dabei ganz gemütlich Duetts mit Fräulein Hedda singt, für eine Bewandtnis?“

„Die Sache ist einfach die, Herr von Elze ist Artillerie-Offizier gewesen, und, wie ich höre, ein sehr tüchtiger. Plötzlich mußte er seinen Abschied nehmen; warum? weiß Keiner, wenigstens Keiner von uns. Einige sagen, wegen eines Duells mit einer sehr hohen Person; Andere, wegen missliebiger politischer Gesinnungen. Da man, wie es scheint, ihn anderweitig versorgen wollte, so beschäftigte man ihn im Steuerfach, und Herr von Elze, der kein Vermögen hat, ließ sich das gefallen. So kam er denn vor ungefähr einem halben Jahre als Steuerbeamter zu uns. Seine Stelle ist übrigens eine reine Sinecure, denn ein anderer Beamter besorgt alle Geschäfte. Und dann soll er bedeutende Konnexionen haben, und dürfte es in seinem neuen Fache leicht weiter bringen, wie in seinem alten.“

„Nun, und ist diese Persönlichkeit ebenso liebenswürdig als geheimnisvoll?“

„Mein Mann ist er eben nicht.“

„Aber Hedda's Mann, meinst Du, könnte er werden?“

„Das scheint Dich ja gewaltig zu interessieren.“

„Durchaus nicht. Und wie denkt Clementine über ihn?“

„Hoffentlich gar nicht.“
„Das fragt sich.“

„Wie so?“

„Nun, ich glaube, dass jede Frau, besonders jede jüngere, über jeden Mann, besonders jeden jüngeren, der in ihre Nähe kommt, sich auch ihre Gedanken macht.“

„Das glaube ich nicht.“

„Meinungsverschiedenheiten.“

Gustavs Stirn verdüsterte sich ein wenig, und für eine halbe Minute zog er, wie das persische Sprichwort sagt, den Rauch des Nachdenkens ein, und blies den Rauch des Zweifels von sich. Plötzlich sagte er. „Und überdies muss er fort!“

„Ist seine Uhr etwa abgelaufen?“

„Warum?“

„Ich dachte, Du wolltest Herrn von Elze mit dem Flitzbogen totschießen, wie Tell den Geßler, weil Deine Frau doch möglicherweise einen Augenblick über ihn nachgedacht haben könnte.“

„Du bist nicht klug. Ich meinte nur, weil er mir neulich sagte: er sei die längste Zeit auf dem Nedur gewesen, und erwarte jeden Augenblick seine Versetzungsordre.“

„Desto besser.“

„Was hast Du davon?“

„Ich schwärme für Solos, und verabscheue alle Duetts, in denen ich nicht die zweite Stimme singen kann.“

Gustav lachte; aber nicht so herzlich wie sonst. Das fiel Paul auf. Es fuhr ihm durch den Sinn, dass sein Vetter auf den geheimnisvollen Lieutenant eifersüchtig sein könnte; indessen hatte er für den Augenblick keine Zeit, weiter daran zu denken.

Sie waren während dieser Unterredung bis an den Bagger gekommen und gingen vor Anker, da die beiden Prähme, die sie in Empfang nehmen sollten, noch nicht ihre volle Ladung hatten. Auch einen Seebagger in Tätigkeit hatte Paul noch nicht gesehen. Der plumpe Kasten mit seinen langen eisernen Armen, die er so unermüdlich ins Wasser taucht, um sie wieder herauszuheben, und aus vollen Kübeln mit Sand und Schlamm die Prähme an beiden Seiten zu speisen, erschien ihm wie ein kolossales antediluvianisches Seeungeheuer, das, mit seinen beiden Jungen der Tiefe entstiegen, stöhnend und pustend aus dem Meeresgrunde sein Frühstück holt, und die hoffnungsvolle hungrige Brut abfüttert. Rechts schaukelte der Kutter auf den Wellen, mit seinem schlanken Mast und der zierlichen Takelage neben dem Bagger, wie eine leichte Möve neben einem unbehilflichen Pinguin. Links, aber etwas entfernter, lag die Baggerschmiede, der schwarze Rumpf eines vormals ohne Zweifel stattlichen Schiffes, das, all' seines Schmuckes beraubt, in seinen allen Tagen Muße hatte, über die flüchtig verlebte Jugend melancholische Betrachtungen anzustellen, und von Zeit zu Zeit aus seinem Schlot nachdenkliche Rauchwolken ausstieß. Dazwischen ein Gewimmel von größeren und kleineren Booten. Und nun das Alles auf den erregten Wellen, und darüber ein blauer, wolkenloser Sommerhimmel, aus dem die Morgensonne blendend herabstrahlte, und als Staffage die phantastischen Gestalten der braunen, halbnackten Gesellen, die rüstig den Sand in die Prähme schaufelten, oder die jungen Seeungeheuer mit langen Stangen hinüber und herüber lenkten — es war ein meer-frisches, sonnenwarmes Bild kräftiger Menschenarbeit, an dem Paul seine innige Freude hatte.

Vom Nedur waren sie jetzt nur noch etwa eine Viertelmeile entfernt, und Paul blickte eifrig durch das Fernrohr nach dem kleinen Eiland hinüber, das ihm nach der Unteeredung mit seinem Vetter umsoviel interessanter geworden war. Indessen er sah Nichts, als eine lange schmale Sandbank, die er in jedem Falle für unbewohnt und unbewohnbar gehalten haben würde, wenn sich nicht etwa in der Mille ein mit roten Ziegeln bedecktes Haus erhoben hätte, dessen Fenster in der Sonne blitzten. Auch wurden, als er von dem Mastkorb des Adlers seine Beobachtungen fortsetzte, noch die Dächer von zwei oder drei andern Häuschen über den Dünen sichtbar. Flaggenstangen und andere Signale erhoben sich hier und da auf den höher gelegenen Punkten. Auf dem weißen, sonnebeschienenen Sande des Strandes lagen ein paar Boote; andere schaukelten auf dem Wasser neben einer kleinen Landungsbrücke. Von den Bewohnern ließen sich nur ein paar Männergestalten sehen, die langsam am Strande hinschritten, sich bei den Booten zu schaffen machten, und dann wieder verschwanden. Einmal stieß ein Boot vom Ufer, um nach einem Schiffe zu segeln, das in Sicht gekommen war, und nach einem Lootsen signalisiert hatte. Die Wogen mit dem scharfen Kiele rasch durchschneidend, und mit dem einen Bord die Wasserfläche fast berührend, kam es auf seiner schnellen Fahrt dicht an ihnen vorüber. Am Steuer saß ein alter Mann mit grauen, im Winde flatternden Haaren. „Ist das der alte Walter?“ fragte Paul. Gustav lachte und sagte. „nein!“

So über all' dem Beobachten und dem Durchkriechen der glühenden Eingeweide des Baggers, wo die Räder und Hebel, deren Bedeutung ihm ein bärtiger Maschinenmeister zu erklären sich bemühte, den unmathematischen Paul in die hoffnungsloseste Verwirrung setzten, und die Leute mit ihren von Kohlenstaub geschwärzten, von der doppelten Glut der Esse und der Sonne erhitzten Gesichtern ihn lebhaft an die Männer im feurigen Ofen erinnerten, und nach einer nochmaligen Fahrt seewärts und wieder zurück, verging der Vormittag, und als vom Vogel Rock aus mit einer Glocke das Signal zur Einstellung der Arbeit gegeben, und auf das Klappern und Rasseln der Maschinen eine wohltuende Stille gefolgt war, bestiegen sie ein Boot, um nach dem Nedur, wie Gustav, — nach Scheria, wie Paul sagte, hinüberzurudern.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der Duene