Siebentes Kapitel. - Und also war es. Gerwalt hatte ihn herbeigeholt. ...

Und also war es. Gerwalt hatte ihn herbeigeholt.

Der Alamanne hatte, nachdem er sich der Beobachtung durch seine „Ehrenwache“ entzogen, sich in dem Lager verborgen gehalten; ein Versuch, aus demselben zu entschlüpfen, war mißglückt: aber als die Nachricht von dem Tode des Gewaltigen wie ein Donnerschlag durch alle Gassen und Plätze des Lagers drang, war es ihm bei der Verwirrung, welche die Hunnen ergriffen und dann unwiderstehlich alle, auch die Thorwachen, an das Totenbett hingerissen hatte wie Magnet die Eisenstäubchen, gelungen, auf einem flinken Hunnengaul – der Reiter lag heulend in Attilas Schlafsaal – aus dem Südthor zu entwischen.


Er hatte erfahren, daß König Ardarich mit starker Macht in dem Grenzwald stand, der südlich von der Theiß und Attilas Lager, zwischen diesem und dem Körösfluß sich weithin dehnend, das unmittelbar beherrschte Hunnenland und das Gebiet der Gepiden trennte. Der treue Mann hatte nicht Zügel gezogen in rasendem Ritt, bis er die Vorhut der Gepiden erreicht.

Fast atemlos meldete er König Ardarich das große Geschehnis und die Dinge im Hunnenlager, die demselben vorausgegangen waren: er beschwor den Fürsten, in höchster Eile den Gefangenen zu Hilfe zu kommen, durch sein Ansehen in Güte oder nötigenfalls mit Gewalt die von grausamstem Tode Bedrohten zu erretten, vielleicht sogar eine größere Entscheidung, eine allgemeinere, herbeizuführen. Er mahnte auch zu diesem Höheren: denn mit dem Gefürchteten war in dem tapfern Mann auch die Furcht vor dem Hunnenreich gestorben.

König Ardarich zögerte keinen Augenblick: tief aufatmend sprach er: „Die große Stunde kam, die lang ersehnte: sie kam rascher als zu hoffen war; wohlan, sie soll uns nicht klein finden; und nicht langsam. Ich komme.“

Wohl wußte er, wie leicht sogar seine ganze hier versammelte Macht wog gegenüber den vielen Zehntausenden von Hunnen in dem Lager. Dazu kam, daß er nur mit seinen Reitern – ein paar schwachen Tausendschaften! – noch rechtzeitig für die Errettung der Gefangenen eintreffen zu können erwarten durfte. Der weitaus größte Teil seines Heerbanns bestand, wie bei allen diesen Germanenaufgeboten, aus Fußvolk. Gleichwohl befahl er sofort – nicht das Horn trank er leer, das er hatte zum Munde führen wollen, als der Alamanne vor ihn trat – seinen Reitern, aufzusitzen und zur Verdoppelung ihrer Zahl je einen Fußgänger mitzunehmen, der bald hinter dem Reiter auf dem Pferde saß, bald neben dem Gaul hersprang, an der langflatternden Mähne sich haltend; den Kern der Berittenen bildete des Königs treue Gefolgschaft auf erlesenen Rossen und mit trefflichen, vom freigebigen Gefolgsherrn geschenkten Trutz- und Schutzwaffen. Aber das waren doch nicht mehr als zweihundert Pferde.

„Auf, meine Reiter!“ rief der König von dem mächtigen braunen Schlachtroß herab, den Speer erhebend. „Die Nornen rufen euch: die Schicksalsgöttin selbst, die Wurd, winkt euch herbei. Tot liegt Attila! Jetzt reitet, wie ihr noch nie geritten: ihr reitet in die Freiheit.“ Und fort ging’s in saufendem, klirrendem Jagen auf der alten, noch gut erhaltenen Römerstraße, die von Süden, von der Donau her, nach Norden, nach der Theiß führte und zu Attilas Lager auf dem linken Ufer dieses Flusses. Nach mehreren Stunden scharfen Rittes waren die äußersten Holzhütten der hunnischen Hauptstadt erreicht. Die Thorwachen ließen Ardarich ohne weiteres ein: war er ihnen doch wohl bekannt, als der treueste und, neben dem Amaler Valamer, geehrteste aller unterworfenen Könige.

Die ersten, auf welche die innerhalb des Lagers weitersprengenden Gepiden stießen, waren die Begleiter des Knaben Ernak, die diesen, in königliche Kleider gehüllt, ein kleines Zackendiadem auf dem blauschwarzen Haar – ein allzuweiter, reich mit Gold behangener und bestickter Purpurmantel verschlang völlig, flatternd und klappernd, die knabenhafte Gestalt – durch die Straßen führten, ihm Gunst und Anhänger zu gewinnen.

Denn noch war der große Herrscher nicht bestattet, und schon haderten seine kleinen Erben um die Erbschaft: diese ungezählten Söhne, von denen die Zeitgenossen sagten, sie allein machten eine kleine Völkerschaft aus. Waren auch viele von ihnen noch jünger als Ernak und die meisten der Erwachsenen nicht in dem Lager anwesend, sondern als Beamte, Statthalter, Feldherrn, Anführer, Gesandte des Vaters im weiten Reiche verteilt: – es fehlte doch auch an der Todesstätte nicht an Söhnen, die zwar noch nicht ohne weiteres Stücke des Reiches an sich reißen wollten, – das behielten sie sich für später als Belohnung ihrer Dienste vor – aber doch jetzt schon für Ellak, Ernak, Dzengisitz oder andere hervorragende unter den abwesenden Brüdern Partei nahmen und Anhang warben: so hatte bereits an dem Leichenbett des Vaters jener grimmige, bald in blutiges Morden und Schlachten ausbrechende Streit der Söhne begonnen, der den Germanen bei Abschüttelung des Joches aller dieser Thronbewerber so erheblichen Vorschub leisten sollte.

Der Erzieher, der Waffenträger, der Haushofmeister des Prinzen und besonders auch Fürst Czendrul, des Erziehers Bruder, hatten bereits bei Lebzeiten Attilas geheim unter der Hand überall im Volke der Hunnen wie in dem Lager, so unter den Horden, die draußen in den Provinzen zelteten und wanderten, die Kunde verbreitet, der Vater habe durch letztwillige Verfügung vor den hunnischen Großen – sie beschworen, selbst zu den Zeugen gezählt zu haben – diesen schönen Knaben zum Allein-Erben seiner Macht bestellt; die sämtlichen andern Söhne sollten lediglich als Ernaks Unterkönige oder Statthalter unter seiner Oberhoheit und kraft seines Auftrages herrschen.

Jetzt, nach des Vaters Tod, hatten sie eilends Boten mit solcher Meldung überallhin aus dem Lager entsendet, und wenn sie auch in der Hauptstadt selbst gegenüber dem gefürchteten Dzengisitz – Ellak war ja zum Glück durch Attila selbst unschädlich gemacht, auch bei den Vollblut-Hunnen nicht sehr in Gunst – noch nicht wagten, mit jenem weitgehenden Anspruch offen aufzutreten, so thaten sie doch alles, dies spätere Auftreten vorzubereiten, indem sie den schönen Thronbewerber überall umherführten und Mitleid und Vorliebe für ihn, den, wie alle wußten, geliebtesten Sohn, den nun verwaisten, des großen Herrschers zu erwecken suchten; die aber, die ihm zur Herrschaft verholfen hatten, mußten dann auch der Macht und der Schätze des Hunnenreichs vor allen andern froh werden.

So war denn in jeder Lagergasse der Haufe des Volkes weiter angewachsen, der hinter dem weißen Rößlein des Knaben drein ritt oder lief, Beifall johlend, den großen Vater preisend, und des Söhnchens Anmut und Schönheit.

Einer der Thorwächter war in das Lager vorausgejagt, den Erben des Herrn Ardarichs Eintreffen zu melden: er stieß zunächst auf Ernak. „Ist er endlich da, der faule germanische Hund?“ rief der Knabe, in den breiten goldschaufeligen Bügeln sich hebend und über den Kopf seines Zelters hinweg vorlugend. „Ich will ihn lehren, seinen Herrn warten zu lassen! Attila war schwach geworden vor Alter! Vorwärts!“ Und er peitschte grausam mit seiner neunsträngigen Hunnengeißel die Flanken des Tieres, stieß ihm den Sporn in die Weichen, daß das Blut aufspritzte, und schoß, weit vorauf den Seinen, den Gepiden entgegen. „Wo stecktest du so lang, Ardarich?“ schrie er mit unschöner schriller, allzuhoher Stimme den König an.

Dieser hatte bei seinem Anblick den Zügel gezogen; unbeweglich hielt er, wie ein Reiterbild von Erz, auf seinem hohen, mächtigen Streitroß, der dunkle Mantel floß von seinen breiten Schultern, auf seinem Helme hoben sich die mächtigen Flügel des Königsadlers: daraus quollen die langen, goldbraunen, aber schon leicht ergrauten Königslocken hervor und rollten bis auf die Brünne; den Speer hielt er, die Spitze nach unten – das Zeichen friedlicher Verhandlung – senkrecht auf den Boden: still und stet und stolz saß er da: echt königlich war das Bild: diese starke, aber ruhig verhaltene Kraft hätte jedem Denkenden Ehrerbietung, Scheu, ja Vorsicht eingeflößt.

Aber der halbslavische Hunnen-Junge schrie: „Wo stecktest du so lange, Gepide? Mein großer Vater schied aus dem Leben im Zorn gegen dich. Du ließest Attila warten! Das wird nie verziehen. Ich erbte, wie sein Reich, so deine Bestrafung. Sitze nicht da vor mir, wie der Stolz zu Pferde! Herunter von deinem Gaul, hochfärtiger Germane! Kniee nieder neben mir, küsse mir den Steigbügel und erwarte, was ich über dich verhänge.“ Und er fuchtelte durch die Luft mit der hunnischen Geißel.

Ardarich schwieg; er rührte sich nicht: aber warnend, Unheil drohend richtete er die stahlgrauen Augen auf den Zornigen. Der spornte ungeduldig sein Pferd, ritt dicht an den König heran und rief: „Wird’s bald, Knecht?“

„Ich verhandle nicht mit Knaben,“ sprach der König, über ihn hinwegblickend, „ihr aber, ihr Fürsten der Hunnen, du, Czendrul, höret mein Wort. Nur Attila habe ich geeidet, nicht seinen Söhnen, ich schulde ihnen nicht Treue oder Gehorsam. Um des großen Vaters willen aber rat’ ich euch guten Rat: laßt uns alles in Frieden schlichten. Stellt die gefangenen Germanen vor ein Gericht aus Germanen und Hunnen gemischt und ...“

„Schweig mit deinem Rat, frecher Knecht!“ schrie Ernak. „Ich bin dein Herr. Das sollst du jetzt erfahren.“ – „Niemals, Fürst Czendrul, dien’ ich einem Jungen. Die Zeit der Knechtschaft ist um. Ich und Valamer, der Amalung, wir sind fortab frei. Und ich rat’ euch, ihr Fürsten der Hunnen, gebt auch die andern Germanenvölker frei. Ihr müßt es doch: – thut es lieber von selbst!“ „Nein!“ schrie Ernak. „Wie Hammel einer Herde, wie Sklaven eines Landguts werden wir euch unter uns, die Erben eures Herrn, verteilen. Auseinander reißen wollen wir eure Völker. Einen Fetzen des Gepidenvolkes nehme ich und einen andern erhält Dzengisitz: sechs andere, durchs Los verteilt, fallen an sechs andere Brüder. Ihr sollt mich kennen lernen, ihr Germanenhunde!“ Und er hob die Geißel zum Streich und schlug des Königs Roß auf den Kopf, daß es hoch bäumend stieg. Aber sofort bändigte der Reiter das empörte Tier durch den ehernen Druck der Schenkel; er hob nun und wandte drohend den zur Erde gesenkten Speer: „Hüte dich! Ich warne. Wage keinen zweiten Schlag! Sonst –“ „Hui,“ kreischte Ernak, „ein gefangener Jude erzählte mir jüngst ein Stücklein von einem Königssohn seines Volkes, das gefiel mir. Das Volk murrte wider ihn, der Thronerbe aber sprach: ›Mein Vater hat euch mit Ruten geschlagen, ich will euch mit Skorpionen züchtigen‹. Lern’s, Germane!“ Und er schwang wieder die Geißel, aber diesmal gegen des Königs Antlitz.

„So stirb, junger Giftwurm!“ rief der und, dem Schlage zuvorkommend, das Roß spornend, rannte er ihm den Speer durch den reichvergoldeten Ringpanzer mit solcher Wucht in die Brust, daß die Spitze zwischen den Schultern hervordrang.

Schwer bedroht war aber nun sein Leben. Denn bevor er den Speer aus dem Leibe des rücklings Herabstürzenden ziehen konnte, war Fürst Czendrul an seiner Seite und mit dem Schrei: „Nieder, Kindesmörder!“ schwang er den krummen Säbel über seinem Haupt. Jedoch bevor der sausende Streich fallen konnte, fuhr dem Fürst ein Wurfspeer durch die Stirn: Gerwalt hatte trefflich gezielt. „Drauf! ihr Gepiden! Freiheit!“ rief der Alamanne, das Streitbeil aus dem Gürtel reißend. Unter lautem Jubelgeschrei warfen sich die Reiter Arbarichs auf die durch den Fall ihrer beiden Führer entsetzten Feinde. Der wuchtige Anprall der schweren Germanenrosse warf die hunnischen Klepper sofort über den Haufen: heulend flohen die Hunnen tiefer in das Lager hinein, verfolgt von den siegjauchzenden Germanen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Attila