Elftes Kapitel. - Einstweilen hatte die Jungfrau von ihrer hohen Stätte aus die ungeheuren Wirkungen ihrer kühnen Worte mit Stolz, mit Freude, ...

Einstweilen hatte die Jungfrau von ihrer hohen Stätte aus die ungeheuren Wirkungen ihrer kühnen Worte mit Stolz, mit Freude, aber auch mit Schreck wahrgenommen. Sie hörte das verzweiflungsvolle Geheul der Hunnen, sie sah deren Auseinanderstieben, das Ringen untereinander und mit den Germanen: sie erkannte auch – ach in weiter Ferne! – den Geliebten, den Vater, sie sah, wie diese sich mächtig, aber mit langsamem Erfolge mühten, näher an sie heranzudringen, sie sah ihre Waffen blitzen, gar manchen Hunnen stürzen: aber gar gering waren doch die Fortschritte der Ihren. Das ganze gewaltige, furchtbare Schauspiel, dessen Ausgang ja auch über ihr Geschick entscheiden mußte, hielt sie gefesselt in atemloser Spannung. Über das Geländer des Flachdaches vorgebeugt, achtete sie es nicht, daß zuweilen wohl ein Pfeil, der die Mörderin strafen sollte, in der Aufregung der Flucht, vom Rücken des scheuenden Gaules aus unsicher gezielt, neben ihr in das Holzwerk der Umplankung schlug.

So machte sie sich auch keine Gedanken über die Axtschläge, die freilich von unten her deutlich an ihr Ohr drangen; ihr Blick ging auf den freien Platz, nicht auf diese Thüre in der Nebenstraße des Eckturmes. Aber nun schlug ihr eigner Name an ihr Ohr. Laut ward er herübergerufen von dem Flachdach des nächsten Hauses – jenseit der Nebenstraße –, so laut, daß er den Lärm auf dem Platz und jene Beilhiebe durchdrang. „Ildicho! Ildicho! Flieh’! Er wird dich umbringen! Flieh’ von dem Dach in den Keller, verbirg dich! Gleich kann er da sein!“


Sie wandte sich nach der Richtung des Rufes: sie sah auf dem Dach des gegenüberstehenden Holzturms an der Ecke der Seitenstraße einen Mann, der, durch die ganze Breite dieser Gasse getrennt, zu ihr hinüberschrie und winkte. „Ellak! Du hier!“ rief sie. „Was willst du?“

„Frage nicht! Verbirg dich. Es ist zu weit!“ Er maß die Entfernung mit prüfenden Blicken: „Ich kann nicht hinüberspringen! Er wird dich töten!“ – „Wer?“ – „Mein Bruder! Dzengisitz! Er schlägt unten die Hausthüre ein. Er wird die Treppen heraufeilen. Weh! Da ist er schon.“

Und wirklich tauchte bereits aus der schmalen Öffnung, die aus dem obersten Geschoß auf das Flachdach des Holzturmes führte, das scheußliche, blutige, von Wut verzerrte Gesicht des Hunnen auf. Das Beil hatte er in der eingeschlagenen Hausthüre fallen lassen, das lange Messer hielt er zwischen den Zähnen: denn beider Hände bediente er sich, die Sprossen der Leiter, welche die Treppe ersetzte, desto rascher zu erklettern.

Die Königstochter war mutig weit über Mädchenmaß: aber jetzt – bei diesem Anblick – stieß sie, tödlich erschrocken, einen Schrei der Angst aus. Einen Augenblick dachte sie daran, von dem Dach herunter auf die Straße zu springen – nur nicht in diese Hände fallen! – sie schaute hinab: da ergriff sie grausender Schwindel: turmhoch ging es hinunter: es war der Sprung in den Tod. Nun wollte sie – denn den Gedanken des Widerstandes, die Hoffnung auf Errettung gab sie auch jetzt nicht auf! – dem Unhold sich entgegenwerfen, ihm das Herausdringen durch die nur mannesbreite Dachluke wehren: sie wandte sich dieser zu: ach, es war zu spät! Schon stand er aufrecht auf dem Dach: eine kurze Weile noch maß er sie mit funkelnden Augen, mit dem Blicke des Wolfes vor dem tödlichen Ansprung auf das Reh.

„Daghar!“ rief sie, „Daghar! Zu Hilfe!“

„Ja, schreie nur,“ höhnte er mit heiserer Stimme, das Messer erhebend. „Du schreist umsonst! Der ist weit! Wehe dir, Mörderin des herrlichsten Mannes! Leider: die Zeit gebricht, dich zu peinigen, wie du es verdienst, dir die Seele aus dem zuckenden Leib herauszuquälen. Aber leben sollst du nicht! Du sollst ...“

Da sprang sie ihm entgegen mit dem Mut der Verzweiflung. Sie war stark, diese Jungfrau, und furchtlos.

Oft hatte sie das widerstrebende Rind am Horne gefaßt und zum Gehorsam gebeugt: sie wollte dem Hunnen nicht ohne Widerstand fallen: sie wehrte sich ihres Lebens. Mit beiden Fäusten umklammerte sie die erhobene Rechte des Feindes, in welcher er das Messer hielt, – verwehrend, daß er damit zustoße, verwehrend auch, daß er die Waffe in die linke Hand nehme: und mit aller Kraft drängte sie ihn nach rückwärts gegen die Dachluke hin.

Einen Augenblick stand er verdutzt, von dem unerwarteten Widerstand überrascht. Aber nur einen Augenblick! – Gleich machte sich die überlegene Kraft des Mannes geltend: mit der freigegebenen Linken packte er das Mädchen am Halse und schob es, trotz alles Sträubens, vor sich her gegen die niedere Umgatterung des Flachdaches hin nach Süden: hier konnte, mußte er sie unvermeidbar überwältigen, sobald sie nicht mehr ausweichen konnte: er brauchte sie nur, ohne das Messer zu brauchen, rücklings über das Dach hinunterzustürzen.

Schon spürte die Jungfrau, unerachtet verzweifelten Gegenstemmens, Schritt für Schritt zurückgeschoben, zurückgezwungen, die hölzerne Brüstung des Geländers in ihren Kniekehlen, schon erlahmten ihre um seine Rechte geballten Fäuste, schon drückte er ihren Oberleib nach rückwärts über das Geländer hinaus: die Sinne wollten ihr vergehen: „Hilf, Frigga!“ rief sie noch ...

Da schlug plötzlich an der beiden Ringenden Ohr von unten, von dem Platz und zumal von der Seitengasse her, ein solch Geschrei von Hunderten, – ein so markdurchdringender Schrei des Schreckens, des Staunens – daß beide zusammenzuckten. Dzengisitz ließ den Hals seines Opfers fahren, riß mit gewaltigem Ruck seine Rechte aus den beiden umklammernden Händen und sprang zurück, lauschend, lauernd.

Im selben Augenblick schwang sich hinter ihm von außen über das Geländer des Flachdaches herein ein Mann: es war Ellak.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Attila