Der Keller des Herrn Kerkhoven - Unterredung zwischen Aristipp und Herrn Moses Samson über die Israeliten - Der Baron und Gipsy - Altonaer Klatscherei - Der Baron, Aristipp und Hippias - Geschichte des Barons und des Herrn von Pichmeier

Unter diesem Gespräche gelangten wir bis zu dem Keller des Herrn Kerkhoven.

„Hier müssen wir wieder einkehren,“ sprach ich. „Hier wohnt einer meiner besten Freunde und Bekannten.“


„Wahrscheinlich noch ein braver Mann! Ein Kraftmensch! ein Urmensch! nicht wahr? Wenn es so fortgeht, so gibt es in Altona nur lauter brave Männer und du lebst, wenn nicht in der guten, jedoch in der besten Gesellschaft!“

„Ganz gewiss, wenn man ohne Vorurteil mich beurteilt.“

Wir stiegen in den Keller hinab, und gelangten, nachdem wir eine schmale Flur passiert hatten, in die Weinstube. Hier waren mehre Gäste versammelt. Wir wurden von ihnen mit einem Jubel-Geschrei empfangen. Ich kannte sämtliche Herren.

„Mein Freund Hippias, meine Herren,“ sprach ich denselben präsentierend; und fuhr mich gegen Hippias wendend fort:

„Dieser Herr,“ ich zeigte auf einen ziemlich starken Mann, mit vollen, roten Wangen, der in einem braunen Oberrocke gekleidet war; aus einer kurzen, töneren Pfeife rauchte und einen „Bittern“ vor sich stehen hatte, ist mein Freund Moses Samson. Ein Biedermann, zwar mosaischer Religion, aber mit einem Herzen des wahren Christen würdig. Mein Freund Moses Samson; mein Freund Hippias.“

„Dieser Herr,“ sprach ich weiter, und reichte einem Manne die Hand, welcher in einem schwarzen, weiten Frack; einer weißen Weste, einer Unaussprechlichen von hellgrüner Farbe gekleidet, in einer Ecke des Zimmers saß, die Hände auf ein Bambusrohr gestützt und gleichfalls „einen Bittern“ vor sich stehen hatte,“ ist mein Freund Herrmann Bleicamb. Ein Mann der früher Alles ins Große trieb; sich jetzt in das Hôtel Petit zurückgezogen hat, wo Alles Petit ist, und jetzt ein großer Mann im Kleinen genannt werden kann; weil er nie seinen Kopf verliert, und mit dem zufrieden und heiter ist, was er hat. Herr Herrmann Bleicamb; Herr Hippias.“

„Dieser Herr,“ bemerkte ich darauf Hippias einen Mann vorstellend, dessen hohe Stirne von wenigen blonden Haaren umflattert war, dessen große blaue Augen unruhig in ihren Höhlen umherrollten, und welcher das Itzehoer Wochenblatt in der Hand hielt, „ist Herr Kannegießer. Ein Mann, dem das Wohl des Vaterlandes sehr am Herzen liegt; der sich viel um die Dithmarschen Unruhen bekümmert; gerne über die Unzweckmäßigkeit der Dänischen Zolllinie redet, und überhaupt sehr viel zu raisonnieren sucht. Herr Kannegießer; Herr Hippias.“

„Dieser Herr, sprach ich auf einen kleinen untersetzten Mann zeigend, dessen Ausdruck ebenso unternehmend, als lebendig war; der mit einigen Goldmünzen spielend vor sich einen Durchschnitt rochen Weines stehen hatte, „ist mein Freund Keball. Herr Keball; Herr Hippias.“

„Und endlich dieser hier,“ fuhr ich fort, einem vierschrötigen Manne mit krausen, schwarzen Haaren, schwarzen Augenbrauen und gelblichem Gesichte, die Hand reichend, „ist mein Freund Timm. Ein Mann, der meine vollkommenste Achtung verdient; der mir und Anderen hundertmal aus der Not geholfen, und der schweigen kann.“

Nachdem die üblichen Verbeugungen gemacht waren, nahmen wir Platz.

„Und nun, Herr Aristipp,“ unterbrach Herr Moses Samson, mit einer freundlichen Miene die eingetretene Pause, „wo sind Sie so lange gewesen?“

„Auf dem Lande, mein Bester.“

„Waren Sie auch im Dithmarschen?“ fragte Herr Kannegießer. „Mir deucht, es sieht dort schlimm aus. Was glauben Sie sonst von den politischen Begebenheiten? Bekommen wir Krieg oder Frieden?“

„Krieg bekommen wir wohl nicht so leicht,“ bemerkte Herr Moses Samson, seine tönerne Pfeife am Tische ausklopfend. „Krieg kostet Geld, und die großen Herren haben kein Geld.“

„Das ist Recht,“ meinte Herr Kannegießer, „das ist ein großes Impediment. Ohnehin kann jetzt nicht leicht einer von den großen Mächten Krieg anfangen, wenn die anderen nicht konsentieren. Die großen Herrn haben zu viel in ihren eigenen Ländern zu tun. Außerdem fürchtet der Engländer den Franzosen, und der Franzos ist selbst nicht sicher in seinem Lande. Russland und Preußen fürchten die vereinte Macht Frankteichs und Englands, und Österreich liebt die Ruhe. Was sagen Sie aber zu Mehemet Ali? Das ist ein braver und kluger Kerl. Sie sollen sehen es geht doch wieder los! Der Ibrahim ist ein tapferer Soldat!“

„Ach was soll das viele Schwatzen!“ rief Herr

Keball, einen Doppellouisd'or in die Höhe werfend und wieder fangend. „Was gehen uns Türken und Paschas an, wenn wir nur genug zu leben haben? Der Kannegießer da, will immer mehr wissen, als andere Leute, studiert immer die Zeitungen, und bleibt doch nicht mehr und minder, als ein armseliger Stellmacher. Schuster bleib bei deinem Leisten!“

Durch diese Unterbrechung ließ Herr Kannegießer sich aber nicht irre machen, sondern fuhr fort:

„Haben Sie das Itzehoer Wochenblatt gelesen, Herr Aristipp? Im Dithmarschen geht es los. Sie reißen die Häuser der Polizeibedienten nieder, und prügeln die Kontrolleure. Übrigens ist es auch eine Ungerechtigkeit den Dithmarschen die Zollfreiheit zu nehmen: sie haben ihre Dokumente darüber, und mit ihrem Blute sie erobert. Glauben Sie, dass sie sich gutwillig geben werden, Herr Aristipp?“

„Ich denke ja. Sie haben weise und tüchtige Oberbeamte, die sie durch vernünftige Vorstellungen beruhigen werden. Nach meiner Meinung kann überhaupt in einem Staate keine Landschaft, noch irgend eine Klasse von Menschen ein Privilegium vor der andern voraus haben. Jeder Bürger eines Staates muss gleiche Rechte haben. Dieselben Gesetze, Verordnungen, dieselbe Verfassung muss in einem Staate Anwendung finden. Und wenn aus alten Zeiten her datierende Vorrechte oder Privilegia dem einen oder dem andern Herzogtume oder Fürstentume, oder Landschaft, oder irgend einer Kaste von Menschen zugestanden wären, so müssen sie dieselben aufgeben, nachdem sie mit minder bevorrechteten Länderteilen unter einem Szepter vereint worden sind. Einheit und Gleichheit vor dem Gesetze müssen in einem Königreiche herrschen, und nur eine allgemeine Verfassung kann für alle Länderteile, aus welchem eine Monarchie besteht, gültig sein.“

„Sehr gut, mein bester Herr,“ unterbrach mich Herr Samson, „warum schließt man uns von dieser Einheit und Gleichheit vor dem Gesetze aus? Warum erkennt man uns nicht das Bürgerrecht zu? Sind wir nicht eben so gut Kinder eines Staates, wie Sie? Bürger einer Stadt, wie Sie?“

„Das liegt wohl nicht so sehr an der Staats-Regierung, als in der Staats-Religion, mein guter Moses. Kein Beweis spricht deutlicher für die Göttlichkeit des christlichen Glaubens und seines Stifters, als, dass das jüdische Volk, bis auf den heutigen Tag, unter alle Völker zerstreut ist.“

„Finden Sie das aber gerecht? Ist Ihr Gott nicht unser Gott? Haben Sie nicht Ihren Gott von uns? War Christus nicht ein Jude?“

„Sehr richtig; aber sie kreuzigten ihn. Ich finde übrigens, dass der Gott der Liebe und der Bannherzigkeit längst Ihrem Volke vergeben haben müsste, und glaube, dass er es hat. Ich nehme nur einen alliebenden Vater, einen vergebenden Gott an. Diese Ansicht teilen aber nicht die orthodoxen Konsistorien oder Bischöfe, die mehr das Wort, als den Geist der christlichen Lehre anwenden. Die immer weiter fortschreitende Zivilisation oder die wahre Aufklärung wird aber bald, wie ich es hoffe, den Unterschied der Religionen gänzlich verschwinden lassen, und in dem rechtschaffnen Israeliten nicht den Juden sondern nur den rechtlichen Bürger betrachten. Eine Frucht dieser Aufklärung sehen Sie schon an Sich selbst, lieber Samson. Wer, in diesem Keller, dächte jemals daran, dass Sie ein Jude wären, wenn Sie nicht selbst die Rede darauf brächten? Sie sehen: die Aufklärung bahnt sich überall einen Weg und kann sie nicht von Oben durchdringen, so steigt sie aus einem Keller hervor. Die Wege der Vorsehung sind sonderbar!“

„Schön, schön!“ meinte Herr Kannegießer. „Aber mit den Juden, das geht doch nicht. Die sind nur immer auf das Betrügen aus. Geben wir ihnen das Bürgerrecht, dann sind wir Christen ganz unten durch.“

„Wer ist daran Schuld, als wir? Warum sperren wir ihnen die Wege sich als gute Bürger zu nähren? Warum schließen wir sie von allen bürgerlichen Gerechtsamen aus? Was bleibt den guten Juden anders, als durch Handel und Wandel, wie man es nennt, zu leben, zu gewinnen? Wenn die Juden betrügen, so sind wir allein Schuld daran.“

„Was sind das für Gespräche,“ rief Herr Herrmann Bleicamb aus, der bis jetzt mit Aufmerksamkeit der Unterredung gefolgt war und mit seinen kleinen listigen Augen bald Beifall, bald Unwillen den Redenden zugeblinzelt hatte; „habt Ihr die Weisheit mit Löffeln gefressen und wollt uns hier mit diesem einfältigen Geschwätze die Ohren vollbrummen? Ist das ein Keller-Gespräch? Es ist nichts Lächerlicheres, als über Politik und Religion zu sprechen! Die eine bringt einen meistens ins Gefängnis und die andere ins Tollhaus. Du, da dicker, alter Säufer! Was geht dich die Religion an? Jud' ist Jud' und Christ ist Christ, und nun wieder vorbei! Timm! Wein her! Juden und Christen sollen leben!

Wir riefen Alle: „hoch!“

Während dieses Toastes ließen sich starke, männliche Tritte auf dem Gange vernehmen.

„Das ist der Baron!“ rief der Küper.

„Der kommt zur rechten Zeit;“ meinte Herr Keball.

„Nun wirds gar toll werden;“ sagte Herr Kannegießer.

„Wer ist der Baron?“ fragte Hippias.

„Kennen sie den nicht?“ antwortete Herrmann Bleicamb „das ist ein Genie.“

Die Tür des Zimmers wurde schnell aufgerissen. Ein junger Mann, dem Anscheine nach in den dreißiger Jahren von hohem Wuchst; in einem schwarzen Oberrocke gekleidet; den Hut auf dem Kopfe; eine brennende Zigarre im Munde trat in das Zimmer. Ein brauner Backenbart, welcher à la jeune France rund um das Gesicht des Neuangekommenen lief, wurde durch einen weißen Hemdkragen, der auf ein schwarzes, seidenes Tuch, welches nachlässig um den Hals geschlungen war, niederfiel, noch mehr hervorgehoben. Ein brauner Schnurrbart bedeckte die etwas aufgeworfene Oberlippe desselben; eine feine Roche seine Wangen; aus seinen kleinen blauen Augen strahlte ein feuriger, durchdringender Blick. Eine gelbe Terrier-Bulldog-Hündin folgte ihm auf dem Fuße, den glühenden Blick ihrer treuen braunen Augen unablässig auf ihren Herrn gerichtet.

„Guten Morgen, meine Herrn!“ rief der Baron eintretend, „hier geht es wohl lustig her? down Gipsy! Timm, ein Glas Portwein! War Niemand hier, der nach mir fragte? Kein Brief für mich? Schnell den Wein her! Ich bin durstig! Nun Timm, war Niemand hier?“

„Hier ist ein Brief, Herr Baron,“ erwiderte der Befragte, „und dann war gestern das kleine Madchen hier —

„Welches kleine Madchen? die im gelben Kleide mit dem grünen Schleier? Schön! schön!— Ich habe keine Zeit mehr — ich komme bald wieder — entschuldigen Sie meine Herren — Bleicamb, komm mit — ich muss mit dir reden!“

Mit diesen Worten stürzte der Baron das Glas Portwein hinunter; ergriff Herrn Herrmann Bleicamb beim Arm, machte der Gesellschaft eine vornehme Verbeugung und eilte mit jenem fort. Die treue Bulldoghündin, wahrscheinlich einen längern Aufenthalt ihres Herrn vermutend, hatte sich unter einen Tisch gelegt, und den plötzlichen Aufbruch nicht bemerkt. Kaum aber die Entfernung desselben bemerkend, sprang sie wie rasend auf, sprengte die Tür des Zimmers, und schoss wie eine Bombe ihm nach.

„Da stürzt er hin! Fort ist er!“ rief Herr Moses Samson.

„Fort sind sie der Herr und sein Hund!“ rief Herr Kannegießer.

„Der hat wieder was im Kieker!“ rief Herr Keball.

„Irgend eine schöne Frau,“ sprach Herr Kannegießer, „dazu sind unsere Frauen und Töchter gut genug, dass ein vornehmer Herr mit ihnen carressirt und sie zuletzt verführt. Ich hasse den Adel!“

„Ist doch ein guter Kerl,“ meinte Herr Moses Samson, das genießt das Leben, weil es noch jung ist. Haben wir es anders gemacht?

„Ja, ja!“ erwiderte Herr Kannegießer, „aber wat to dull is, dat is to dull!“

„Nun, was ist es denn Großes, was er tut? Die Weibsleute sehen ihn gern. Er ist ein schmucker Bursche! Na, tut er denn da Unrecht, Timm?“

„Das meine ich auch so,“ entgegnete der Befragte, eine neue Zigarre anzündend, „der Baron ist ein guter Mann, er ist leutselig und freundlich gegen Jedermann. Das muss man ihm lassen.“

„Wenn alle die Vornehmen so dachten wie er, dann sähe es besser in der Welt aus;“ bemerkte Herr Samson, sein Auge zum Himmel schlagend.

„Das hilft mir Alles nichts“ sagte Herr Kannegießer. „Ich traue keinem Adeligen. Sie haben immer ihren geheimen Zweck, wenn sie mit uns gemeinen Bürgern freundlich tun. Entweder wollen sie unser Geld, unsere Weiber, oder sich einen Anhang unter uns bilden. Ich kenne das. Dem Baron traue ich am wenigsten. Er ist klug und tut nichts ohne Absicht. Er glaubt uns durch seine Freundlichkeit einzunehmen und zu täuschen, aber mich täuscht er nicht. Ich erkenne in ihm den größten Aristokraten; er will sich unserer versichern, auf den Fall, dass es losginge. Glaubt mir aber gewiss, so gut er redet und schreibt, er hält, es nicht mit dem Volke! das tut kein Altadeliger. Übrigens treibt er es zu arg und macht Schulden.“

„Was geht das dich an“ versetzte Herr Keball. „Sollst du vielleicht für den Baron bezahlen? Lass doch einen jeden tun, was er will, und kehre vor deiner eigenen Türe. Wenn du ihn nicht leiden kannst, warum bist du denn freundlich gegen ihn ins Gesicht, und sprichst schlecht von ihm, wenn er den Rücken wendet?“

„Ich wollte ihm schon die Meinung sagen, wenn — wenn — er den verdammten Bulldog nicht immer bei sich hätte — außerdem ist er oder seine Familie mit dem Oberpräsidenten verwandt — dat helpt doch to nix.“

„Das ist das Wenigste — aber Sie fürchten den Mann,“ bemerkte Herr Moses Samson. „Sie haben es in den Worten und nicht in der Tat. Es schmeichelt Ihnen, wenn Sie mit dem Baron über die Straße gehen, und hinterher reißen Sie ihn herunter. Ein populärer Mann ist deshalb kein gemeiner Mann. Nichts für ungut, aber Sie sind nicht wert, dass ein Mann, wie der, mit Ihnen redet. Adieu!“ Herr Moses Samson legte zwei Schillinge auf den Tisch und entfernte sich.

Herr Kannegießer lief einige Male das Zimmer auf und nieder; rieb sich den Kopf und stürzte dann aus dem Zimmer.

Herr Keball sah ihm lachend nach, besah einige seiner Goldmünzen, drehte sie in der Hand um, und murmelte in sich hinein: „Adel, Verstand und Politiker, was sind sie Alle gegen Dieses? Das sind Moses und die Propheten.“

Darauf ging auch er. Hippias, der Küper und ich blieben alleine.

„Nun, wie findest Du diesen Keller, die Gesellschaft, und wie hat Dir diese Szene gefallen?“ fragte ich nach einer Pause.

„Nun, passabel!“

„Ich finde sie gut, wenn ich bedenke, dass die Gesellschaft nur aus Handwerkern von Profession bestand. Was sagst du aber zu dem Juden? Ich sage Dir einen bessern Kerl gibt es in der Welt nicht.“

„Der Jude sprach ganz vernünftig. Es freute mich, dass er die Partei des Barons nahm. Er steht aber wohl mit ihm oder seiner Familie in Handelsverbindungen?“

„Durchaus nicht. Du glaubst also, dass in unseren Zeiten nur dann ein Mensch den andern in Schutz nähme, wenn er von ihm Vorteil gezogen oder noch zieht? Leider hast Du im Allgemeinen Recht! Wir leben in einem rein spekulativen Zeitalter. Der ist ein Narr zu nennen, der seinem Gefühle und nicht seinem Vorteile folgt! Es ist mir leicht geworden diese Wahrheit einzusehen, schwerer sie zu befolgen. Von Jugend auf gewohnt, edlen Gefühlen, großmütigen Aufwallungen Gehör zu schenken, ist es mir bis jetzt noch nicht möglich gewesen die kleinlichen Berechnungen des Egoismus, des pekuniären Vorteils zu adoptieren. Man muss dieses aber tun, wenn man in der Welt durchkommen will. Wer auf Unkosten seiner selbst seinem Mitbruder aus der Not hilft, wird ausgelacht. Unser Zeitalter ist ein rein spekulatives, kommerzielles, finanzielles. Die großartigen Ansichten des ritterlichen Zeitalters sind gestürzt — an die Stelle der Ritter und ihrer Knappen, sind die Erwerbsmänner mit ihren Fabrikherren und Arbeitern getreten. Da sie Alles durch sich selbst, ihrer Hände Arbeit und ihren Erwerb oder ihr Geld wurden, so ist es natürlich, dass nur der Mann jetzt geachtet wird, der arbeiten lässt, oder arbeiten kann, und dass das Geld die einzige Schwungfeder ist, die Alles in Bewegung setzt.“

„Eine traurige Wahrheit. Die Gefühlswelt ist vernichtet, und das praktische, reelle Leben an ihre Stelle getreten!“

In diesem Augenblicke stürmte der Baron in das Zimmer. Sein Auge strahlte Freude, sein Gang war stolz, sein Wesen aufgeregt. Er ließ sich auf einen Sessel nieder. Gipsy legte sich zu seinen Füßen. Er streichelte das schöne Tier, dann wandte er sich um und erblickte mich.

„Siehe da, Herr Aristipp!“ rief er aus. „Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht gleich bemerkte und begrüßte. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich Alles um mich her vergaß.— Sie führen liebliche Bilder einer angenehmen Vergangenheit mir wieder vor die Seele. Das waren noch schöne Zeiten, als wir uns in der kleinen Catharinenstraße kennen lernten! Das waren noch schöne Abende! Kunst, Literatur, Gesang und schöne Frauen! Nie werde ich den guten St. Pierre und seine Frau vergessen! Auch meine Gipsy wird sie nie vergessen, denn sie war dort ebenso gut aufgehoben, als ich. Wie wurde sie von den weichen Händchen der schwarzäugigen Wally und der lieblichen Sophie gestreichelt. Wie glücklich lebten wir zusammen, bis die verdammte Klatscherei uns trennte! Das Beste, dass kein wahres Wort an der Geschichte war! Indessen verzeihe ich dieses mal der Verleumdung. Wir gaben in unserer Unschuld der Medisance zu vielen Stoff. Wally war zu schön— und ich— ein Mann! Wer kann überhaupt in unseren Tagen an ein rein geistiges Verhältnis zwischen einem jungen Mann und einer schönen Frau glauben? In der Welt kann überhaupt Nichts von langer Dauer sein. Es muss immer eine Veränderung geben, damit der alte Mechanismus nicht stille stehe. Vermutlich ein Freund von Ihnen?“

„Herr Hippias, der heute erst angekommen ist, um sich in Altona und Hamburg etwas umzusehen, und der das Vergnügen hat, Sie dem Rufe nach zu kennen!“

„Das tut mir sehr leid. Mein Ruf ist verdammt schlecht, und mit Maria Stuart könnte ich sagen: ich bin besser, als mein Ruf. Man macht mich hier zu einer Art von Ungeheuer, da ich den Schein nicht beobachte, mich frei äußere und die Menschen es nicht begreifen können, dass ich wie Diogenes mit der Laterne umher renne um Menschen zu finden. Man sollte mich lieber den Narren des 19ten Jahrhunderts nennen, weil man aus mir machen kann, was, man will, sobald man mein Herz in Anspruch nimmt. Die erbärmlichen Menschen! Wenn sie Jemanden nicht begreifen können, so machen sie ihn herunter, Sie machen es ebenso mit ihrer Gottheit. Sie leihen dem höchsten Wesen alle möglichen menschlichen Schwächen, um es fassen zu können. Was zu hoch und erhaben ist, muss heruntergerissen werden, damit die flachen Schädel es begrinsen und verhunzen können!“

„Ich freue mich recht sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron,“ sprach Hippias. Ich habe mehre Ihrer Schriften mit Vergnügen gelesen!“

„Meine Schriften? Da haben Sie was Rechtes gelesen! Dummes Zeug! Weiter nichts. Ich wollte, ich hätte nie Etwas geschrieben; weil es mir unmöglich ist von meinen Schriften erbaut zu sein. Man muss zu Viele Rücksichten auf die Leihbibliotheken nehmen, und der Ladendiener und Kammermädchen Geschmack! Wer überhaupt einmal, als Schriftsteller aufgetreten ist, der sitzt auf dem öffentlichen Verwunderungsstuhle und Hans und Peter und Grete und Liese spielen mit ihm mokieren. Wer heißt einem auch Perlen vor die Säue werfen, oder besser gesagt, wie kann man ein solcher Esel sein, sich einzubilden, dass sein eigenes jämmerliches Geschreibsel der ganzen Welt gefallen, von der ganzen Welt gelesen werden soll! Es ist rasend, wohin den Menschen die Eitelkeit, die Einbildung führen können! Noch lächerlicher ist es aber, wenn man wie ich, immer über sich selbst und von sich selbst schreibt; und es nicht lassen kann seine Ansichten über Gott, König, Menschheit und Vaterland zu äußern. Es ist noch ein Glück, dass ich kein Republikaner bin, sonst säße ich gewiss schon irgendwo fest, und gäbe die „Memoiren eines Sträflings“ heraus. Das Schlimmste bei der ganzen Schriftstellerei ist aber die Knickerei der Buchhändler und die leidige Zensur! Was man schreiben wollte, darf man nicht schreiben; was man schreiben darf, will man nicht schreiben, weil nur Flaches, Fades, Unbedeutendes geschrieben werden darf— auf diese Weise wird der Ideenflug gehemmt, und man bringt nichts als Unsinn hervor. Denn alles Halbe, ist Stückwerk und alles Stückwerk in der Literatur ist Unsinn! Man muss jedoch gestehen, dass die Dänische Zensur noch sehr liberal ist. Auch ist der König der liberalste Mann im ganzen Lande, in der Welt. Lassen Sie uns seine Gesundheit trinken, meine Herren! Sie wissen, ich bin Legitimist.“

Wir stießen an.

Der Baron ging einige Male das Zimmer auf und ab; dann wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln an mich: „Wissen Sie wohl, Herr Aristipp, dass ich heute außerordentlich glücklich bin! Ich möchte die ganze Welt umarmen, weil ich einen guten, edlen Mann getroffen habe. Ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Es tut meinem Herzen so wohl, so recht aus vollem Herzen eine edle Handlung eines Menschen erzählen zu können. Hören Sie.

„Ich befand mich noch vor einigen Tagen in der schrecklichsten Verlegenheit. Ich hatte Schulden gemacht. Meine Gläubiger quälten mich bis aufs Blut.— Sie kennen Altona und Hamburg.— Ich hatte einen Wechsel geschrieben. Die Zeit nahte, wo er fällig war. Ich hatte keine Rettung. Ich suchte allerwärts Geld. Die, welche es nicht hatten, wollten es mir geben, aber konnten nicht. Die, welche es hatten, konnten es nicht, weil sie den edlen Grundsatz angenommen hatten, nie mehr Geld ohne Sicherheit auszuleihen. Um ihren Grundsätzen treu zu bleiben, konnten sie sich nicht überwinden, einem Unglücklichen Leben und Ehre zu retten! Was würde man zu einem Manne sagen, der seinen Grundsätzen ungetreu geworden, um seinen leidenden Mitbruder zu retten! Mein Gott! dachte ich: du hast doch so Vielen in den Zeiten deines Glückes gehoffen und dir hilft Niemand!!? Ich will es Ihnen gerne gestehen, lieber Aristipp, nachdem alle Versuche bei Menschen mir fehl geschlagen, wandte ich mich an Gott. Sie lächeln? Nicht wahr? Ich tat es und Er half. Durch eine sonderbare Fügung muss ich in das Hôtel de France in Hamburg geraten. Dort lerne ich einen Mann kennen, einen Herrn von Pichmeier. Wir trinken zusammen; wir spielen zusammen; wir reden zusammen. Offen, wie ich es immer bin, entdecke ich diesem vortrefflichen Manne meine Verlegenheit. Was tut er? Er bezahlt sogleich die Hälfte jener Summe, und heute, was noch mehr sagen will, da er höchst unzufrieden mit mir ist, bezahlte er die andere Hälfte, aus dem einfachen Grunde, einer achtungswerten Mutter ihren Sohn zu erhalten. Das tat ein fremder Mann für mich! Weil er dem Zuge seines Herzens folgte; weil er dem Bedürfnisse eines edlen Herzens folgte, dem es eine Wonne ist, seinem Neben-Menschen wohl zu tun. Er stellte keine Betrachtungen darüber an, ob ich es verdiente, wie die Männer von Grundsätzen es tun, diese hochherzige christliche Sippschaft! Er dachte nur: der Mensch ist verloren, wenn ich ihm nicht helfe; seine Mutter wird dadurch unglücklich — auch ich hatte eine Mutter, und er half.— Dass diese Geschichte wahr ist, kann Timm Ihnen bestätigen. Denn die Summe schuldete ich teilweise dem Besitzer dieses Kellers, und hier hat er das Geld bezahlt. Ein solcher Zug der Herzensgüte verdient der Erwähnung in unserm egoistischen Zeitalter. Daher erzähle ich Ihnen dieses; darum bitte ich Sie, es weiter zu verbreiten und nun mit mir auf das Wohl dieses edlen Menschenfreundes zu trinken. Herr von Pichmeier soll leben!“

„Die Handlung des Herrn von Pichmeier ist brav,“ bemerkte Hippias, und verdient die Anerkennung eines jeden Ehrenmannes, aber nicht minder verdient Ihre Aufrichtigkeit und Ihre Dankbarkeit Anerkennung, Herr Baron. Die größte Eigenschaft des Don Carlos ist die Anerkennung der Verdienste des Posa.“

„Was hilft ihm meine Dankbarkeit, erwiderte der Baron, beweisen kann ich sie ihm nie, und auch er nimmt sie nicht an. Dass ich dankbar bin, ist mir nicht anzurechnen. Die Dankbarkeit ist ein natürliches Gefühl; selbst der Wilde besitzt sie; den Trieb, den die Natur in uns legte, können wir uns nicht berechnen. Dass es jetzt so viele undankbare Menschen gibt, rührt nur daher, weil wir unsere natürlichen Gefühle immer mehr unterdrücken — denn von Natur sind alle Menschen gut, folglich: dankbar. — Gib mir eine Zigarre, Timm. Auch du gehörst zu den Menschen, auf die man sich verlassen kann. — Na was macht denn das hübsche Madchen, mit dem Sie neulich im „Englischen Garten“ waren?“

„O, die ist gut zufrieden, Herr Baron,“ antwortete der Küper, die Zigarre reichend und einen Fidibus dabei. —

„Wenn Sie Zeit und Lust hätten, Herr Baron; so dachte ich Sie schenkten uns den heutigen Tag, und gingen mit uns.“ Bemerkte ich.

„Gerne! Aber dann müssen wir aus Altona! Ich kann Altona nicht leiden, und Ihr Freund muss St. Pauli und Hamburg kennen lernen. Geh, Timm, schicke Jemanden hin, uns eine Droschke zu holen vom Rathausmarkt. Den Kutscher mit dem weißen Schimmel. Boysen heißt er. Den nehme ich immer, weil das Pferd gut, die Droschke reinlich und der Kutscher verschwiegen ist! Wie manchen angenehmen Augenblick habe ich in der Droschke verbracht!“ —

„Ich denke, wir machen die Tour, Herr Baron, die wir schon einmal mit einander machten,“ bemerkte ich. „Zuerst die Erfrischungshalle, dann Hôtel Petit, Janßen, Kittel, Buck, Carl, den Trichter, die Elbhalle, Madame Heitmann, etc.“

„Einverstanden!“ rief der Baron. „Kommen Sie, meine Herren! der Wagen ist da! Adieu Timm! Behalten Sie Gipsy bei sich! Gipsy! du bleibst bei Timm!“

„Leben Sie gut und delikat, Herr Baron.“ —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aristipp in Hamburg und Altona