Aristipp und Hippias - Das Hotel der Madame Grünbein in Ottensen - Altona - Die Königsstraße - Hammerich und Lesser - Fr. Clemens - Die kleine Catharinenstraße

Eines Morgens befand ich mich in meinem Zimmer in Altona, als ich die Botschaft erhielt, sogleich nach Ottensen zu Madame Grünbein zu kommen, weil mein Freund Hippias dort angelangt sei. Ich eilte hin und trat mit folgenden Worten, lachend, in seine Stube:

„Aber sage mir, wie kommst du dazu in diesem Nonnenkloster abzusteigen?“


„Aus dem einfachen Grunde, weil mir dieses Gasthaus durch eine Holsteinsche Klosterdame empfohlen worden. Übrigens bereue ich es nicht hier abgestiegen zu sein, denn es schläft sich hier vortrefflich; Alles ist ruhig, der Garten hinter dem Hause schön und die Wirtinnen unterrichtet, zuvorkommend und hübsch. Genug hiervon. Und nun, Freund Aristipp, ist es deine Sache die wenigen Tage, welche ich in Altona bleiben werde, mich auf eine angenehme Weise hinbringen zu lassen. Ich bin gekommen um mich hier zu amüsieren.“

„Dich in Altona zu amüsieren? Nun, bei Gott, der Gedanke ist nicht übel! Glaubst du denn, dass irgend ein Menschenkind von Stande sich je in Altona amüsiert hatte? Unter uns Hippias, du bist zu vornehm um dich amüsieren zu dürfen, du hast hier Verwandte und Bekannte die es dir nie vergeben würden, wenn du dich hier amüsiertest. Dein Name wird schon in der Fremden-Liste stehen, und so kannst du gewiss sein, dass jeder deiner Schritte hier bemerkt, bekrittelt und beklatscht werden wird.“

„Gut. Wie beginnst du es denn aber um deine Zeit hier angenehm hinzubringen, da du in gleichen Verhältnissen mit mir stehst?“

„Ich setze mich übet alle Nachreden hinweg; frequentiere nicht die gute Gesellschaft; mache keine Visiten; lebe auf meine eigene Hand und suche meinen Trost in meiner Freiheit, bei meinen Büchern und meine Erholung in Bacchus und in der Freude Armen. Ich bin ein Mann des Volkes. Ich besuche alle öffentliche Orte, die Hütte des Armen. Ich spreche mit Jedermann; genieße das Leben und studiere bei meinen Orgien und Bachanalien den, menschlichen Verstand; das menschliche Herz; Lebensweisheit. Jeder Mensch ist für mich ein Blatt aus dem ungeheuren Lehrbuche der Schöpfung; daher mir interessant, wichtig. Deshalb mische ich mich unter das Volk und beobachte die Handlungen, den Gemütszustand, die Ansichten und die Stufe der Bildung des gemeinen Mannes. Es lässt sich nicht leugnen, dass ein kluger Minister viel Verstand und Kenntnisse besitzen muss; dass ein Justizrat, ein Regierungsrat, ein Advokat, ein Professor, ein Polizeiminister Kenntnisse, Einsichten und Verstand besitzen muss. Häufig trifft es sich aber, dass der gemeine Mann, oder das Volk in seiner einfachen Art Gegenstände aufzufassen, eine schärfere Urteilskraft beweist als alle jene Gelehrte und Studierten. Aus diesem Grunde bin ich ein Mann des Volkes geworden. Nicht aber, weil ich ein Republikaner, oder ein junger Deutscher bin, wie man es glauben könnte. Das war ich nie und werde es nie! Die vornehme Sippschaft, obgleich ich zu ihr gehöre, hasse ich, weil sie nie und nimmer veraltete Vorurteile ablegen wird, und nimmer dem Menschen oder dem gemeinen Manne oder dem Volke gleiche Rechte mit den privilegierten Ständen zugestehen wird.“

„Verzeihe es mir, Aristipp, wenn ich dich unterbreche. Deine Suade ist mir zu bekannt, als, dass ich nicht befürchten müsste, ließe ich dich zu reden fortfahren, wir würden den ganzen Tag hier in Ottensen versitzen. Das ist nicht meine Meinung. — Du kennst mich überhaupt gut genug um davon überzeugt zu sein, dass deine Gesellschaft mir lieber ist, als jede andere. Dich zu sehen; mit dir zu sein bin ich hierher gekommen. Wo du mich hinführest, da gehe ich hin. Du weißt, dass wir Jugendbekannte, Verwandte, Universitätsfreunde, Militärs und Schriftsteller waren und sind; was dem Einen gefällt, gefällt folglich dem Andern. Und nun entwirf den Plan unseres Taglaufes. —

„Wenn du so willst, so ist er schon fertig. Ich werde dich überall hinführen wo guter Wein, gutes Essen zu haben ist, und dir manche hübsche Mädchen und Frauen zeigen. Wir werden Gelegenheit haben einige gleichgesinnt Bekannte zu treffen, und wollen uns bemühen jeder Sache oder jedem Gegenstande, die oder der uns auf unserer Fahrt aufstoßen sollte, die wahre Seite abzugewinnen. Hier in Ottensen wüsste ich dir nichts zu zeigen. Klopstocks Grab wollen wir betrachten, wenn wir zurück kommen und ernster gestimmt sind. Rainvilles Garten kennst du. Das Gebäude, die Anlagen und die Aussicht sind dort wunderschön; aber da ist kein Leben, kein Treiben! Wir wollen den Menschen studieren. Gehen wir.“

Nach diesen Worten ergriffen Hippias und ich Hut und Stock; traten aus dem Grünbeinschen Hôtel; schritten quer über den großen Platz die Allee nach Altona hinunter und befanden uns bald in der Königsstraße der friedlichen Stadt zweiten Ranges des Königreiches Dänemark, oder, um mich besser auszudrücken, in der ersten Stadt des Herzogtums Holstein. Ich erlaube mir dieses hervorzuheben, weil es ein anmaßender Gedanke des Dänen ist, Holstein als eine dänische Provinz zu betrachten, da Holstein mit Dänemark in keiner andern Beziehung und Gemeinschaft steht, als dass der Herzog von Holstein, König von Dänemark ist. Die Holsteiner als Dänen zu betrachten, würde ebenso falsch und lächerlich sein, als wenn man unter der Regierung Wilhelms des Vierten die Hannoveraner Engländer genannt, und Hannover als ein von England abhängiges Königreich hätte betrachten wollen. —

Hippias und ich gingen bei der Buchhandlung von Karl Aue, der Buchdruckern und Verlagshandlung von Hammerich und Lesser, der Leihbibliothek von Lesser vorüber.

„Hier wohnt Karl Aue und Hammerich und Lesser“ bemerkte ich.“ Schriftsteller, wie wir, empfinden immer ein gewisses Hochachtungs-Gefühl, wenn wir vor einer großen Buchhandlung vorbeigehen. Es müsste ganz angenehm sein dort verlegt zu werden, nicht wahr? Die Hammerichsche Verlagshandlung hat einen bedeutenden Ruf in Europa. Hammerich ist ein tätiger Mann und weiß die Verlags-Artikel richtig zu beurteilen. Auch der Freihafen erscheint dort.“

„Eine Empfehlung für beide. Der Name des Verlegers tut oft soviel, als der Name des Schriftstellers. Ein Werk, das bei Hammerich und Lesser, oder bei Hoffmann und Campe verlegt worden, bedarf keiner weitern Empfehlung.“

„Du machst den Herrn ein großes Kompliment; jedoch pflichte ich dir bei. Die Lessersche Leihbibliothek ist außerdem im ganzen Lande berühmt, und hat den Vorzug, dass man in ihr fast täglich Fr. Clemens antrifft, welcher dort die neuesten Werke liest.“

„Wer ist das?“

„Fr. Clemens! Clemens Gerke! da fragst du noch? Hast du denn nicht seinen „Spatziergang durch Hamburg;“ sein „Bei Nacht und Nebel;“ seinen „Jacob Stainer“ gelesen!? Du bist weit zurück. Ich rate dir, auf alle Fälle, diese Bücher zu lesen. Du wirst in ihnen eine starke, männliche, wilde Phantasie finden, richtige Ansichten des Lebens und ein hochherziges Gemüt.“

„Ich werde deine Empfehlungen gewiss beachten, du scheinst sehr von diesem Manne eingenommen zu sein?“

„Du wirst es auch sein, wenn du seine Schriften gelesen, noch mehr aber, wenn du ihn selbst persönlich kennst und seine Ansichten und Grundsätze von ihm selber aussprechen hörst. Sie sind zeitgemäß, richtig und edel. Überhaupt, lieber Freund, obgleich ich ein aimable runé bin; so hat sich doch bei mir nie das Gefühl, die Empfänglichkeit für das Große, das Schöne, das Heilige, die Tugend und das Achtbare verloren. Wie hoch muss ich daher einen Mann schätzen, der von dem Grundsätze ausgeht: jeder Schriftsteller muss sich als Lehrer des Volkes betrachten, und wie sein Wort, das er an das Volk richtet, rein und edel sein muss; so muss auch sein bürgerlicher Lebenswandel rein und makellos sein.“

„Dein Clemens hat Recht, Aristipp. Das köstlichste Getränk aus einem schmutzigen, unreinen Gefäße angeboten, widert an. Du erregst meine ganze Neugierde diesen Mann kennen zu lernen, weil es so selten ist, in dem genialen Schriftsteller auch den sittlichen, moralischen Menschen achten und liehen zu können! Wir werden den Clemens wohl in den geselligen Zirkeln antreffen können.“

„Clemens Gerke! Du hast gut sprechen! Er ist nicht hochgeboren; nicht reich; kein graduierter Doktor! Er ist nur ein simpler Musikant, der noch dazu in einem öffentlichen Lokale in St. Pauli spielt! Wie könnten die anerkannten Soliditäten, aus denen die hiesige, höhere Gesellschaft besteht, einen Mann in ihren Kreisen sehen, dessen Amati zum Tanze der Mädchen und lustiger Matrosen spielt!!! Guter Freund! Auf die Schale kommt es hier an, nicht auf den Kern! Der Mann, seine Talente, gelten nicht, nur sein Titel; seine Firma oder sein Reichtum!“

„Was verstehst du unter dem Ausdrucke: anerkannte Soliditäten?“

„Das sind erstens alle Leute, welche Geld genug haben um „insgeheim“ ihre menschlichen Schwachen zu befriedigen; ihre Fehler und Lüste mit silbernem oder goldenen Mantel zu bedecken, und daher vor der Welt als moralische, sittliche Männer auftreten.

Zweitens Alle jene Leute, welche den Schein beobachten; die durch fleißiges Kirchengehen, Armen- und Krankenhäuser Besuchen; dadurch, dass sie Gott, Christum, Tugend, Tätigkeit und Grundsätze stets im Munde führen, ihren Ruf als heilige und christliche Menschen begründet haben. Drittens die ganze Masse von ältlichen Frauenzimmern, verheiratet oder nicht, die, weil sie nicht mehr sündigen können, weil Niemand sie zu verführen strebt, nichts anders tun, als ihre wohlfeile Ehrbarkeit und Tugend hervorzustreichen und über ihre Mitmenschen herzufallen. Zu dieser Klasse gehören noch ausgemergelte Junggesellen, und diejenigen Ehemänner, welche in ihrer Jugend die leichtsinnigsten und ausschweifendsten waren, und es den jungen Männern nicht verzeihen, dass sie Fehler begehen, welche sie selbst begingen. Ein anderes Mal mehr hiervon.“

„Wir sind grade vor einer Kolonial-Waren-Handlung, wo es gute Zigarren gibt. Lass uns hineingehen.“

„Wir traten in das Haus des Kaufmanns, wo ein reinlich gekleidetes, rotbackiges Ladenmädchen uns ein Dutzend Zigarren und für einen Doppelschilling Schnupftabak verabreichte. Wahrend ich bezahlte betrachtete Hippias ein Päckchen Tabak, welches auf dem Ladentische lag und zeigte es mir. Das Päckchen war in ein Papier gehüllt, auf welchem vier rauchende Männer abgebildet waren, die um einen Tisch herum saßen und folgende sinnreiche Bemerkungen machten, die über ihren Köpfen zu lesen waren:

Der Eine sagte mit zufriedener Miene: „De Taback“— Der Andere: „is got von Schmack“— Der Dritte fragt neugierig: „wo köpt ji de?“— worauf der Vierte erwiderte: „bi Sauké.“

Wir kauften der Merkwürdigkeit wegen dieses Päckchen; verließen das Haus, nachdem wir einige Blicke auf die schöne Besitzerin desselben geworfen hatten, welche in einem Nebenzimmer, in dessen Türe ein Glasfenster angebracht war, mit weiblicher Arbeit beschäftigt saß.

„Eine wunderschöne Frau,“ bemerkte Hippias weggehend.

„Was noch mehr zu bewundern ist“ antwortete ich, „ist, dass sie ebenso tugendhaft, als schön ist. Sie hat zwei Schwestern von denen man dasselbe sagen kann. Das schöne Geschlecht in Altona ist überhaupt solide.“

„Als wir noch einige Minuten stehen blieben, fragte Hippias: „wie heißt die Straße, welche hier von der Königsstraße abgeht?“

„Die kleine Catharinenstraße. Eine für mich merkwürdige Straße. Alle jene Häuser, die du an der rechten Seite erblickest, gehören einem Herrn Bettac, der eine englische Grammatik herausgegeben hat“ Ferner wohnt in dieser Straße ein ebenso edler, als genialer, gescheuter als unterrichteter, eben so glücklich gewesener, als jetzt unglücklicher Mann; der Tausenden geholfen und dem Niemand mehr hilft; für den ich die ganze Welt um Hilfe anflehen mögte, weil er mir selbst in meinem Unglücke geholfen!“

„Und warum hilft man ihm denn nicht?“

„Weil er nicht zu den anerkannten Soliditäten gehört.“

„Die Catharinenstraße ist mir auch noch dadurch angenehm, dass in dem vierten Hause von hier ein Lehrer der englischen und französischen Sprache wohnte, dessen Frau sehr liebenswürdig war. Ich hatte in diesem Hause Zutritt und habe da manchen genussreichen Abend in der Gesellschaft der feurigen Wally; der niedlichen Sophie und der koquetten Marie verbracht. Außerdem lernte ich in diesem Hause den Herrn von Hammerstein kennen, der damals durch die Herausgabe seiner Memoiren viel Aufsehen erregte und nachher Alles durch seine Liebeshändel und tollen Streiche wieder verdarb. Ich habe dir manches Interessante über ihn und jene Damen mitzuteilen, was zu seiner Zeit geschehen soll.“

„Du kennst also diesen Menschen genauer? Was denkst du über ihn?“

„Es ist nicht leicht, lieber Hippias, über einen Menschen ein entschiedenes Urteil zu fällen. Um Jemanden, dessen Leben, Taten und Treiben richtig beurteilen zu können, muss man die Vergangenheit, den gegenwärtigen Zustand desselben, seine Hoffnungen für die Zukunft genau kennen. Erziehung, Geburt, Temperament des Menschen sind außerdem wohl zu beachten. Ich denke von diesem Manne, wie von allen ungewöhnlichen Männern, das Beste und das Schlimmste. Der Herr von Hammerstein hat zwei große Fehler: Die Liebe zum Wein und zu dem schönen Geschlechte. Was ihm aber noch mehr schadet, das ist, dass er keine Mördergrube aus seinem Herzen macht, und nicht zu den anerkannten Soliditäten gehört.“

Wir gingen weiter,

„Bemerkst du wohl jenes Haus, Hippias,“ sprach ich, „dessen Fassade gänzlich mit Weinlaub umzogen ist?“

„Ja wohl.“

„Gut. In diesem wohnt ein braver Mann. Ein Mann, der fähig ist sein Leben tausendmal zur Rettung seines Mitmenschen in die Schanze zu schlagen; dessen Manieren und Sprache aber nicht die des bon ton sind. Ich mache dich auf diesen Mann aufmerksam, weil es mir immer wohltut in unserm entarteten Zeitalter einem Kraftmenschen, einem Urmenschen zu begegnen, der, wie ein Granitblock unter den ihn umgebenen Sandhügeln, unerschütterlich feststeht.“

„Du bist ein vortrefflicher Cicerone, Aristipp. Du kennst beinahe die Bewohner eines jeden Hauses. Was mich aber am meisten freuet, ist, dass du die guten Seiten der Menschen hervorhebst. Eine seltene Tugend in unsern Zeiten.“

„Von mir wollen wir ein andermal sprechen. Betrachte hier die Hutfabrik des Herrn Dubbers, dessen Filze ebenso dauernd, als er selbst betriebsam und wohltätig ist. Es ist sonderbar, dass in einer Stadt, wie Altona, die die größten Privilegien hat, so wenig Fabriken anzutreffen sind! Die Regierung lässt es nicht an Aufmunterungen fehlen — aber wohl fehlt der Unternehmungsgeist den Bewohnern. Und nun, mein lieber Hippias, nahen wir einem Orte oder einem Hause, wo ich nicht vorübergehen kann. Ich bringe dich jetzt in einen Keller. Fürchte dich nicht vor diesem Souterrain. Man ist dort gut aufgehoben. Sieh nur hin! Vor dem Keller siehst du schon den hübschen, blondgelockten Küper stehen. Bemerke nur wie die Blicke der vorübereilenden Mädchen auf dem schmucken Burschen verweilen. Wahrlich! nicht Alle holen dort den Wein um des Weines wegen. — Doch wir sind da!“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aristipp in Hamburg und Altona