Die Anfänge des russischen Theaters*).

*) Nach den Otetschestwennyja Sapiski.

Im Januar v. J. feierte die russische Schaubühne ihr hundertjähriges Jubiläum. Am 8. (19.) Januar 1750, unter der Regierung Elisabeth Petrownas, fand auf dem im kaiserlichen Schloss errichteten Hoftheater die erste Vorstellung in russischer Sprache statt; man gab den „Chorew", ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, von Sumarokow. Italienische, französische und deutsche Schauspiele waren schon längst im Gange gewesen; die Liebe zur dramatischen Kunst hatte sich in Russland mit den frühesten Keimen der Zivilisation gezeigt. Noch unter dem Zaren Alexei Michailowilsch war im Dorfe Preobrajenskoje (bei Moskau) etwas einem Theater Ähnliches erbaut worden. In den Registerbüchern des auswärtigen Amtes (posolskji prikas) von 1676 finden wir darüber folgende Notiz: „In Preobrajenskoje war eine Komödie, Judith und Holofernes, die zur Belustigung des Monarchen von Ausländern agiert wurde und wozu die deutschen Musikanten und die Hofleute des Bojaren A. S. Malwejew auf der Orgel spielten. In demselben Jahre gab man eine andere Komödie, Artaxerxes, und spielte dazu auf der Orgel, der Flöte und ändern Instrumenten, und tanzte“ usw. Es ist ferner bekannt, dass die Zarewna .Sophia Alexejewna nicht nur dramatische Stücke aus dem Französischen übersetzte, sondern diese auch mit ihren Hoffräulein im Schloss aufführte, zu welchem Zwecke sie eine eigene Bühne eingerichtet halte. Unter Peter dem Großen entstanden öffentliche Theater: in Moskau auf dem roten oder schönen Platze (krasnaja Ploschtschad), ein hölzernes Gebäude, wo eine aus Danzig gekommene deutsche Truppe Vorstellungen gab, in Petersburg in einem Hause an der Moika, an derselben Stelle, wo sich gegenwärtig das Institut der Kaiserl. Hofsänger befindet, und wo man ebenfalls nur deutsche Stücke spielte. Der Kaiser hatte eine Vorliebe für dieses Theater und begünstigte den Entrepreneur Mann nicht wenig. Während der folgenden Regierungen, bis Anna Joannowna, war Deutsch die herrschende Sprache bei Hofe und unter den gebildeten Klassen: mit der Thronbesteigung der Kaiserin Anna begannen die sogenannten italienischen Intermezzos, und unter Elisabeth erschien die erste französische Schauspielergesellschaft aus Cassel.


Unterdessen war die russische Literatur ins Leben getreten; Lomonosow hatte die Sprache von den Fesseln des Slawismus befreit, Sumarokow schon einige Trauerspiele geschrieben, aber an die Möglichkeit der Existenz einer russischen Bühne dachte noch niemand. Selbst Sumarokow erwartete kaum, seine dramatischen Versuche je in Szene gesetzt zu sehen. Das russische Theater wurde plötzlich, unverhofft geschaffen und nahm auf einmal seinen Platz im öffentlichen Leben ein. Man kann sogar in einer Beziehung sagen, dass das russische Theater aus dem Volksbedürfnis entstanden ist. In Moskau, zum Beispiel, fielen schon unter Peter dem Großen im Kronhospital folgende Auftritte vor: Die Wundarzt-Gehilfen, welche die deutschen Schauspieler gesehen hatten, kamen auf den Gedanken, ihre Patienten durch ein eigentümliches Mittel zu heilen. Sie beschlossen ein Theater EU errichten und die Kranken zu den Vorstellungen einzuladen. Die jungen Hippokrate wählten dazu eine leerstehende Kammer, schleppten die vakanten Bettstellen hinauf, belegten sie mit Brettern, benutzten die Bettschirme zu Kulissen und die Betttücher statt des Vorhangs — und das Theater war fertig. Auf demselben spielte man was nur vorkam, d. h. man spielte eigentlich Nichts, sondern Jeder improvisierte, so gut es eben gehen wollte. Später, als man mehr Erfahrung gewann, machte man sich an die Fabrikation von Stücken, die wahrscheinlich nach einem ähnlichen Rezept verfertigt wurden, wie heutzutage die meisten französischen Vaudevilles. Man ging aber mit großem Eifer zu Werk, und vielleicht fuhren die Kranken dabei nicht schlimmer. Diese Possen waren von einem echt nationalem Charakter durchdrungen; sie bereiteten gleichsam auf die Schöpfungen von Wisins und Gogols vor. Andere Studierende wurden von dem Beispiel angesteckt, namentlich die Zöglinge der Navigations-Schule im Sucharew-Turm. Diese errichteten gleichfalls ein Theater mit eigenem Personal und eigenen Stücken. Nicht lange, so fanden sich auch im Volke Leute die es den deutschen Schauspielern nachzutun suchten. Es bildeten sich sogenannte Wertepy oder Truppen, die von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf wanderten und verschiedene Szenen darstellten, wozu die Volkssprichwörter und Sagen den Stoff lieferten. Während also noch Niemand an die Möglichkeit eines russischen Theaters dachte, waren die Materialien dazu in der Tat schon vorhanden. Es schien nur die Gelegenheit zu erwarten, um öffentlich ins Leben zu treten und sich ferner zu entwickeln. Diese Gelegenheit bot sich bald dar. Im Kadettenkorps zu St. Petersburg bildete sich zur Zeit der Kaiserin Elisabeth ein Haustheater. Die Liebe zum Theater und zu Schauspielen war den Zöglingen dieser Anstalt schon seit lange eingeimpft worden; unter Anna Joannowna hatten die Kadetten oft bei Hofe in den italienischen Intermezzos getanzt. Obgleich Elisabeth ein regelmäßiges Corps de Ballett errichten ließ und die Kadetten nicht mehr an den theatralischen Vorstellungen Teilnahmen, so war der Sinn dafür doch einmal erweckt. Bekanntlich gehen Schul-Traditionen von einer Generation der Zöglinge zur ändern über. So improvisierten die Kadetten in einem ihrer Schlafsäle eine Bühne, auf der sie in ihren Freistunden Szenen aus französischen Trauerspielen aufführten. Die besten Schauspieler hießen Osterwald, Bekelow, Melissino und Swistunow. Entweder wurden sie es überdrüssig, nur vor ihren Kameraden zu spielen, oder sie fühlten sich von dem Erfolge angefeuert: genug, es verlangte den jungen Künstlern bald danach, den Beifall eines größeren Kreises zu erwerben. Sie besannen sich nicht lange, nahmen den Corneille vor, lernten eines seiner Stücke ganz auswendig und führten es in den Weihnachts-Feiertagen auf. Diesmal aber waren die Kadetten nicht die einzigen Zuschauer; sie halten ihre Lehrer mit ihren Familien, ihre Eltern mit ihren Töchtern und Verwandten eingeladen — kurz, es fand sich ein zahlreiches Publikum ein. Der glänzendste Erfolg krönte den Versuch.

Allein die französische Sprache, so schön sie auch ist, war doch immer nicht die einheimische. Dazu kam noch, dass nicht Alle sie verstanden; die Kadetten, welche prächtige Tiraden in einer für den größten Teil von ihnen fremden Sprache vernahmen, vergaßen dass sie das Publikum darstellten und benahmen sich wie — Kadetten; auch von den eingeladenen Gästen gab es nicht wenige, denen Corneille, Racine und Voltaire unbekannte Größen waren. Die Eitelkeit ist von je her eine Künstlerschwäche gewesen; unsere jungen Schauspieler bildeten keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Um die erkaltende Teilnahme aufs neue zu beleben, kamen zwei von ihnen, Swistunow und Melissino, auf den glücklichen Einfall, etwas Russisches zu geben. Die Auswahl konnte nicht schwer sein, da zu jener Zeit die ganze dramatische Literatur Russlands aus zwei oder drei Stücken bestand. Von diesen war „Chorew" eins, und man wählte „Chorew."

Die erste Vorstellung des „Chorew" erregte enthusiastischen Beifall. Das größte Entzücken empfand der Verfasser dieses Trauerspiels, Alexander Petrowitsch Sumarokow. Er hatte nie gehofft, seine Stücke je auf der Bühne zu sehen, am allerwenigsten aber im Kadettenhause, wo er selbst erzogen worden und wo jetzt seine Verse in seiner Gegenwart deklamiert und von dem Beifallsklatschen der Zuhörer begrüßt wurden. Der Dichter eilte, den Oberjägermeister Grafen Rasumowskji, bei dem er die Stelle eines Adjutanten bekleidete, von seinem Glück in Kenntnis zu setzen. Bei dem Grafen wurde das Verlangen rege, das Trauerspiel seines Adjutanten spielen zu sehen. Man gab „Chorew“ zum zweiten mal, der Graf war zufrieden und berichtete darüber an die Kaiserin. Auch diese wünschte das Stück zu sehen, bestimmte den Tag, an welchem es im Schloss aufgeführt werden sollte, und trug selbst für die Kostüme Sorge. Sie ließ dazu aus der kaiserlichen Garderobe Sammet, Atlas und Damast hergeben und schmückte eigenhändig den jungen Swistunow, der die Rolle der Osnelda spielte. Unter den zur Vorstellung Eingeladenen befand sich der Verfasser.

Diese ging, wie schon erwähnt, am 8. Januar 1750 vor sich. Die Kaiserin und der ganze Hof waren davon entzückt. Jener denkwürdige Abend kann als der Anfang des russischen Theaters betrachtet werden; alle Zweifel waren dadurch gelöst. In demselben Jahre und von denselben Schauspielern wurde „Hamlet" aufgeführt, den Sumarokow aus dem Englischen übersetzt und für sein eigenes Geistesprodukt ausgegeben hatte; dann folgten „Sinaw und Truwor" und „Artistona".

So existierte denn die russische Bühne von 1750 an als Hofbelustigung, aber nicht als öffentliche Anstalt, nicht als Eigentum des Volks. Die Ehre ihrer weiteren Entwicklung ward einem Manne zu Teil, der aus dem Volke entsprungen war und durch seine äußere Lage allen künstlerischen Bestrebungen fern zu stehen schien.

Fedor Grigorjewitsch Wolkow, der Sohn eines Kaufmannes in Kostroma, reiste in Geschäften seines Stiefvaters, des Jaroslawer Lederhändlers Poluschkin, nach Moskau und Petersburg. Indem er sein Leder feilbot, versäumte er in Moskau keine Gelegenheit, die Leistungen der deutschen Schauspieler und der Studenten der so eben dort gegründeten Universität zu bewundern, die ein russisches Theater bei sich errichtet hatten. In Petersburg gelang es ihm per fas et nefas Zutritt zu den Vorstellungen im Kadettencorps zu erhalten. Wie viel Geld er aus beiden Hauptstädten für das verkaufte Leder zurückbrachte, ist nicht bekannt; so viel ist aber sicher, dass er bei seiner Rückkehr nach Jaroslawl als Contrebande die italienische Sprache (die deutsche hatte er bereits in Moskau erlernt), die Kunst, in Aquarell zu zeichnen, einige musikalische Bildung und vor Allem die Idee zur Gründung eines russischen Theaters in seine Heimatsstadt mitbrachte.

Er begann damit, einigen guten Freunden seinen Gedanken mitzuteilen, und schritt alsdann, ohne sich erst lange zu besinnen, zur Ausführung desselben. Das Gebäude war schon fertig und hatte noch dazu den Vorteil, dass es der ganzen Stadt bekannt war: es war die große Scheune, in der die Felle seines Stiefvaters aufbewahrt wurden. Einige Dekorationen waren bald zurecht gemacht, als Kulissen dienten die Felle, ein paar Bretter und ein oder zwei Maschinen eigener Fabrik taten das Übrige. Am Namenstage des ehrlichen Lederhändlers wurden er und seine zahlreichen Gäste, unter denen sich der Statthalter von Jaroslawl, Musin-Puschkin, und der Gutsbesitzer Maikow befanden, durch ein Schauspiel überrascht, wie sie es bisher nie gesehen hatten. Die Vorstellung bestand aus dem Drama „Esther" und dem Schäfergedicht „Edmund und Bertha", von Wulkow aus dem Deutschen übersetzt. Musin-Puschkin und Maikow überhäuften den jungen Künstler mit Lobeserhebungen und versprachen ihm ihren Schulz. In kurzer Zeit wurden durch Subskription die Mittel zusammengebracht, um ein wirkliches, hölzernes Schauspielhaus zu erbauen, in welchem Wolkow und Kompanie regelmäßigere Vorstellungen zu geben begannen. Das Gerücht hiervon kam bald der Kaiserin zu Ohren, und die Jaroslawer Schauspielertruppe ward nach der Hauptstadt berufen, um vor dem Hofe aufzutreten. Sie zahlte vierzehn Mitglieder, von denen die bemerkenswertesten Fedor, Grigorji und Gawrilo Wolkow, Wasilji und Michail Popow, Tschulkow, der kleine Iwan Narykow Dmitrewskji*) und dessen Verwandter Sokolow waren.

In Petersburg angelangt, fanden sie bei Hofe Beifall und Aufmunterung. In Folge eines kaiserlichen Befehls wurden sie in das Kadettencorps aufgenommen, „um in den für theatralische Künstler nötigen Wissenschaften, in fremden Sprachen und Gymnastik unterrichtet zu werden." Zugleich fuhr die kleine Truppe fort, in Verbindung mit den Kadetten Vorstellungen bei Hofe zu geben. Im Jahr 1752 erschienen in den weiblichen Rollen zuerst Frauen. Die ersten russischen Aktricen hießen Sorina und Michailewa.

Am 30. August (10. September) 1756 erging an den Senat ein kaiserlicher Ukas folgenden Inhalts über die Errichtung eines russischen Theaters: „Wir haben Befehl gegeben, ein russisches Theater zur Aufführung von Trauerspielen und Komödien einzurichten, wozu das Golowkinsche steinerne Haus auf dem Wasilji-Ostrow, in der Nähe der Kadetten-Anstalt, bestimmt ist. Für dasselbe sollen Schauspieler und Schauspielerinnen engagiert werden, die Schauspieler aus den beim Kadettenkorps studierenden Sängern und Jaroslawern, die hierzu passen, so wie zur Vervollständigung derselben eine hinreichende Anzahl andrer aus den nicht dienstpflichtigen Klassen, nebst der nötigen Anzahl Schauspielerinnen. Zum Unterhalt des Theaters wird kraft dieses unseres Ukas eine jährliche Summe von 5.000 Rubeln ausgesetzt . . . . Die Direktion des russischen Theaters übertragen Wir dem Brigadier Alex. Sumarokow, der indessen bei der Armee angestellt bleibt und außer seiner jetzigen Besoldung einen Gehalt von 1.000 Rbl. des Jahrs aus obiger Summe beziehen wird. Welche Gage aber den Schauspielern und Schauspielerinnen, so wie den übrigen beim Theater angestellten Personen auszusetzen ist, darüber wird der Brigadier Sumarokow von unserem Hofe eine Vorschrift erhalten."

Dies war der Anfang des Theaters in Russland. Man sieht aus dem vorhergehenden Berichte, dass die russische Bühne aus dem Volksbedürfnis entsprang und dass ihre Entwicklung erst in der Folge durch den Schutz der Regierung gefördert wurde. Sie war keine künstlich eingeimpfte Frucht, sondern ein naturwüchsiges Ergebnis der Reform Peter des Großen, ein Produkt des russischen Nationalcharakters, der im Allgemeinen bildliche Darstellungen liebt. Allerdings diente das Ausland als Muster, aber wenn man dies den Russen zum Vorwurf machen will, so teilen sie ihn mit allen neueren Völkern, die in letzter ihr Drama den Griechen entlehnt haben, welche allein in diesem Gebiet auf vollkommene Originalität Anspruch machen können.


[i]*) Iwan Dmitrewskji, den die Russen ihren Garrick und Lekain nennen, ward am 23. Februar 1736 im Gouvernement Jaroslawl geboren, erhielt seine erste Erziehung im dortigen Seminarium und setzte sie bei dem Kaplan des damals nach Jaroslawl verbannten Herzogs Biron von Kurland fort. Als Fedor Wolkow sein Privattheater anlegte, übernahm der zwölfjährige Dmitrewskji die Weiberrollen, die er auch in der ersten Zeit der Verlegung desselben nach Petersburg spielte. Eine Reise ins Ausland gab ihm Gelegenheit, sich in seiner Kunst zu vervollkommnen, und nach seiner Rückkehr war er dreißig Jahre lang der Liebling des Petersburger Publikums. Im Jahr 1787 nahm er mit einer Pension von 2.000 Silberrubel den Abschied, trat aber noch öfter gelegentlich auf, das letzte mal am 30. August 1812 in Wiskowatows Schauspiel. Die allgemeine Bewaffnung (Obschtschee Opoltschenie). Seine Hauptrollen waren der falsche Demetrius, in Sumarokows Trauerspiel gleichen Namens, Rosslaw, in dem gleichnamigen Trauerspiel Knjajnins, Orosman in Voltaires „Zaire" etc. Auch im Lustspiel glänzte er, und schrieb oder übersetzte selbst mehrere Theaterstücke. Er starb in St. Petersburg am 16. (28.) August 1821, im 66. Jahr seines Alters. D. Übers.[/b]