01. Westliche Grenze der Slawen, von Herrn Gleim (Mit einer Karte.)

Den Deutschen, welche oft den Bauer der nächsten Provinz nicht verstehen können, muss es wunderbar scheinen dass der Landmann aus dem Süden von Groß-Russland seinen um viele hundert Meilen entfernten Stammesgenossen am Eismeer ganz vollkommen versteht, ja dass in noch größerer Trennung und unter noch verschiedeneren Bedingungen lebende Slawen sich mittelst ihrer Sprachen würden verständigen können. Man stelle den am Eismeere eingefrorenen Russen, der mit der Harpune auf den Fischfang ausgeht oder den Leibeignen des Inneren Russlands mit dem freien Montenegriner zusammen, der in seinem heißen Klima über Myrthen und Lorbeerreiser hinwegschreitet und mit Hilfe seiner Flinte und seiner Berge durch alle Jahrhunderte seine Unabhängigkeit gegen die ganze Macht der Osmanen behauptet hat. Oder man stelle den preußischen Landwehrmann aus den Lausitzen neben den Russen der jährlich auf den Kurilischen Inseln und an der Küste von Kalifornien Seeottern fängt, deren Felle in Peking auf den Markt kommen, und man wird, so sehr sie sich körperlich und geistig, nach ihrer Tracht und ihren Sitten sonst unterscheiden mögen, doch finden, dass sie in sprachlicher Hinsicht nicht verschiedener von einander sind als ein deutscher Schwabe von einem deutschen Pommer. Diese Beschaffenheit ihrer Sprache rückt die slawischen Stämme einander näher, gleicht ihre geographische, politische und religiöse Trennung einigermaßen aus und gibt ein desto untrüglicheres Kennzeichen ihrer Nationalität ab. Mit Eifersucht haben die slawischen Völker allerwege über ihre Sprache und Sitten gewacht und alles Fremdartige stets zu sehr verachtet als dass ihre Sprache irgendwo hätte zu einem solchen Gemisch ausarten können, wie es z. B. die englische Sprache vorstellt, bei der es schwer hält zu entscheiden welcher ihrer lexikalischen Hauptbestandteile der überwiegende ist. Ja nicht einmal mit der deutsch-französischen Mischsprache*) des Wallonischen können die verdorbenen Dialekte der schlesischen Wasserpolaken, der Kaschuben in Pommern und anderer im Geringsten in Vergleich gestellt werden. Die Lausitzer Wenden, obwohl sie seit fast tausend Jahren rings von Deutschen umgeben sind, von Deutschen regiert wurden und mit ihnen zusammenlebten, reden noch eine wesentlich slawische Sprache, wenn sie auch freilich für manche neue Begriffe deutsche Wörter in dieselbe aufgenommen haben und wie ihr Eigentum behandeln. In einem viel höheren Grade hat aber die slawische Sprache auf andere modifizierend eingewirkt und dies ist der Punkt welcher große Verwirrungen in die Ethnographie gebracht hat. Von den Deutschen kann in dieser Beziehung nicht die Rede sein, weil sie überall gegen die Slawen die herrschenden gewesen sind, obwohl sich im Munde der deutschen Grenzbewohner auch manches gute slawische Wort vorfindet, das an historische Zeiten erinnert. Anders ist es aber mit drei Völkern, welche früher von den Slawen bekriegt und unterjocht wurden und zum Teil noch rings von ihnen eingeschlossen sind. Diese drei Völker sind die Litauer, Walachen und Griechen. Alle drei sind von Solchen, die, weil es so viel Slawen gibt, nicht einsehen können warum es nicht noch mehr geben sollte, für Slawen gehalten worden. So hat Einer ein Buch geschrieben, worin er aus slawischen Ortsnamen und slawischen Worten, die sich in der neugriechischen Sprache finden, dartut, dass in den heutigen Hellenen auch nicht ein Tröpfchen allgriechischen Blutes und dass ihre Sprache eigentlich eine slawische wäre, und dennoch lesen die heutigen Griechen in ihren Schulen Wohlgemut alle altgriechischen Prosaiker, ohne ihrer absoluten Unfähigkeit dazu inne zu werden. Diese Frage ist am ersten erledigt. Etwas anders ist es mit der walachischen Sprache die schon mehr Slawisches in sich aufgenommen hat, aber der Bau der Sprache und die bei weitem überwiegende Zahl der Wörter ist romanisch; sie selbst nennen sich heut zu Tage Römer und haben eine Menge Traditionen aus der Römerzeit, einen gewissen Ahnenstolz und solche moralische und physische Eigenschaften, die sie hinreichend als ein von den Slawen vollkommen verschiedenes Volk charakterisieren. Ihre deutschen und magjarischen Nachbarn hatten sie für Abkömmlinge römischer Legionen, welche dort im Lande der Dakier in Standquartieren lagen und geben ihre Sprache für ein verdorbenes Italienisch aus. Nachkommen der allen Dakier mögen sie sein, denn die Wohnsitze derselben passen genau auf die ihrigen und dann waren sie wahrscheinlich von Hause aus keine Slawen, denn das Reich der Dakier wurde schon von Trajan am Ende des ersten Jahrhunderts vernichtet und Slawen finden sich in jenen Gegenden erst viel später. Dem sei aber wie ihm wolle; heute sind die Walachen ein romanisches Volk, wofür sie sich selber ausgeben und nur vorgefasste Meinung kann sich dagegen erklären.

*) Unter Mischsprache verstehen wir eine Sprache welche in höherem oder geringerem Grade Material d. h. Wörter ans einer andern in sich aufgenommen hat. Eine Mischung im höheren Sinne, etwa der der Grammatik zweier Sprachen, findet sich nach dem Urteil der Sprachvergleicher nirgends.


Nun wären noch die Litauer. Ihre Sprache ist der slawischen so unähnlich dass Männer wie Pott und Bopp darüber streiten ob sie in Bezug auf die indogermanische Mutter als eine Schwester der deutschen und slawischen, oder nur der letzteren angesehen werden soll. Wir sind weit entfernt zwischen solchen Männern entscheiden zu wollen, aber dass ein so subtiler Streit zwischen solchen Männern über die heutige Sprache der Litauer, welche seit fast tausend Jahren mit den Slawen neben und durcheinander leben, möglich ist; dies ist uns schon ein hinreichender Beweis dass die Litauer sicherlich keine Slawen sind. Noch mehr bestärkt werden wir in dieser Ansicht wenn wir auf das Übrige sehen. Die Litauer unterscheiden sich in physischer und moralischer Hinsicht sehr wesentlich von den Slawen; besonders die preußischen Litauer und die Letten. Man würde einen Letten von Ferne erkennen, wenn er auch seinen grauen Kittel mit einem russischen Pelz vertauscht hätte. Der Charakter der Litauer, wie er sich im Leben und in ihren Liedern ausspricht, ist von dem der Slawen ungemein verschieden. Ihre Sprache ist imprägniert mit dem Slawischen, wie das Persische und Türkische mit dem Arabischen (wenn auch der Vergleich etwas hinkt weil diese drei Sprachen weit verschiedener von einander sind als das Litauische und Slawische); dennoch ist es noch Keinem eingefallen jene Sprachen für Dialekte oder Zweigsprachen der Arabischen zu halten. Und trotz dieser starken slawischen Beimischung ist der Klang der Sprache, das Organ ganz abweichend und fremdartig. Wir können uns an diesem Orte nicht weiter über diesen Gegenstand auslassen aber sagen mussten wir vorher dass wir diese drei Völker nicht für slawische ansehen um später nicht missverstanden zu werden.

Die Litauer bewohnen den größten Teil des Flussgebietes des Njemen und der unteren Düna und man rechnet zu ihnen die Leiten in ganz Kurland, der südlichen Hälfte von Livland und den beiden sonst zu Livland und jetzt zum Gouvernement Witebsk gehörenden ehemaligen Komtureien Rossitten und Dünaburg. Dann die Reste der alten Preußen welche ungefähr die ganze nördliche Hälfte des Regierungs-Bezirks Gumbinnen, wenn man bei Goldapp abschneidet, einnehmen. Die preußische Sprache steht der lettischen zunächst weil sie beide deutschem Einfluss unterworfen gewesen sind. Drillens die eigentlichen Litauer im ganzen Gouvernement Wilna und Teilen von Minsk, Grodno und Bjalistock auch in der nordöstlichen Spitze des Königreichs Polen. Die Meeresküste bewohnen diese Stämme von Dreimannsdorf an, auf der Küste von Livland bis an die Wurzel der kurischen Nahrung früher aber bis Danzig. Südlich grenzt ihr Gebiet an die ehemals unzugänglichen Sümpfe der Quellenflüsse des Dnjepr, jenseits welcher in der Moldau, Bukowina und Bessarabien romanische Stämme und weiter östlich am unteren Dnjepr und in der Krim Tataren die wesentliche Bevölkerung ausmachen. So waren durch eine Aufeinanderfolge von fremden Völkern und natürlichen Hindernissen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere die slawischen Völker getrennt in zwei Hauplaste, welche in ihrer Abgeschlossenheit ihre Sprache und ihren Staat ganz selbstständig, jeder auf seine Weise, entwickelten. Der Einbruch der Mongolen schien den östlichen Zweig ganz zu verschlingen aber nach mehr als zweihundertjähriger Knechtschaft schüttelten diese Slawen das Joch ab und traten mächtiger hervor als je. Allmählich fiel die Völkerbarriere. Der früher so mächtige und den Slawen so gefährliche litauische Staat verband sich mit dem polnischen Reiche welches durch seine Könige aus dem litauischen Hause seine höchste Blüte erreichte. Die ehemals herrschenden litauischen Stämme gingen nun politisch in dem großen Slawenreiche unter und die Reiche der östlichen und westlichen Slawen berührten sich unmittelbar. Bald bevölkerten die merkwürdigen Kosakenstaaten die Gegenden am Dnjepr und stellten auch so eine Verbindung her. Das Reich des Tatar-Chans verlor zuerst seine Unabhängigkeit gegen die Türken und zerging dann ganz vor der Gewalt der russischen Waffen, und da auch die dem deutschen Orden unterworfenen Stämme der Litauer an den Ufern der Ostsee, nach der Aufhebung des Ordens und nach mannigfachen Schicksalen endlich dem russischen Reiche anheimfielen, da im Laufe der Zeiten sich endlich noch mehr ereignete so liegt die oben erwähnte Barriere und Völkerscheide jetzt fast mit allen ihren Punkten innerhalb der Grenzen des großen slawischen Ostreiches und ist politisch nicht mehr vorhanden. Dennoch werden wir im Verlauf dieser ethnographischen Abhandlung von östlichen und westlichen Slawen sprechen und uns dabei als Grenze derselben die oben bezeichnete Linie von Kurland nach der Krim denken.

Die östlichen Slawen sind also die Russen, welche in ihrer ursprünglichen Verbreitung nirgends das Meer erreichten, sich aber später nach allen Seiten bis an dasselbe ausgedehnt haben. Unvermischt mit andern Völkern bewohnen die Russen jetzt die nordöstliche Küste des schwarzen Meeres, ganz Ingermannland und verdrängen im Norden immer mehr die finnischen Stämme aus ihren uralten Wohnsitzen an der Dwina, Petschora und den Gegenden des weißen Meeres; einzeln sind sie sogar in die russischen Ostseeprovinzen und Finnland vorgedrungen und überall hin wo der russische Zepter herrscht.