Der Jäger.

Zerrissene Nebelfetzen jagen um uns her, zu unseren Füssen wogt ein weißes Nebelmeer, über unseren Häuptern zeigen sich, bald grell vom Morgensonnenlichte bestrahlt, bald wieder schattenhaft aus Wolkenschleiern geisternd, zackige Felswände. In unserem Rücken aber, jenseits einer unergründlichen Tiefe, schimmert ab und zu ein weißes, unheimliches Schneefeld.

Verloren ist jeder Pfad. Frühmorgens stiegen wir herauf aus dem österreichischen Blühnbachthal, um uns den Steig zu suchen, der über das Blühnbachthörl in bayerisches Gebiet führt. Aber wie eine Riesenwoge kam uns der Nebel nach; er hüllte uns in weiße Nacht, und im Nu war die Richtung verloren. Stundenlang ging’s empor über steile Geröllfelder, durch Krummholz und an jäh abschießenden Wänden entlang.


Endlich hangen wir zwischen dem GeschröfF an einer Stelle, wo kein Weiterkommen möglich scheint. Wir wissen nur, dass wir irgendwo zwischen den Teufelshörnern und dem steinernen Meere stecken. Das sagt uns die blitzende Fläche der „Vergossenen Alpe“, die hinter ims durch die Nebel schimmert.

Ratlos stehen wir da. In diesem Augenblicke schallt von droben her ein kurzer Ruf. Haushoch über uns sehen wir eine nebelumflossene Gestalt. Nur flüchtig ist sie sichtbar; dann verschwindet sie wieder hinter wallenden Schleiern. Aber als Wegweiser hat sie doch gedient. Wir finden einen schmalen, kaminartigen Riss in der Wand, klettern mit Händen und Füssen empor und erreichen keuchend ein schmales Rasenband. Ein Jäger mit seinem Hund und seinem Gewehre steht vor uns. Sein scharfes Auge hat uns längst gesehen, viel länger noch hatte er uns gehört. Als zum ersten Male der Lärm eines polternden Steinblocks, der unter unserem Fuße sich loslöste, an sein lauschendes Ohr gedrungen war, hatte er den Hahn seiner Büchse gespannt in der Erwartung, einem Wilderer zu begegnen. Jetzt hängt die todbringende Waffe wieder ruhig über seiner Schulter, auf seinem Gesichte liegt ein gutmütig-spöttisches Lächeln, wie er die Anstrengungen beobachtet, mit welchen wir zu ihm hinaufklettern.

Es ist ein Jagdgehilfe aus St. Bartholomä; ein schlanker, mittelgroßer Mann, mit dunkel gebräuntem Gesicht und funkelnden Augen. In malerischen Falten hängt der braune Wettermantel um ihn; zwischen den kurzen Lederhosen und den Wadenstrümpfen sind die sehnigen Knie sichtbar; die Nägel an seinen Bergschuhen scheinen allen Felsen der Welt trotzen zu wollen. Sein Hund, eine Art langbeiniger, gelber Dachshund, schaut mit klugen Blicken bald seinen Herrn, bald uns an.

Der Jäger mit seinem Hund — so kann man ihn oft finden in den entlegensten Wildnissen der Berge, droben, wo das letzte spärliche Gras als Äsung für die Gemsen wächst, wo der ewige Schnee anfängt.

In einer Landschaft, wo es gelungen ist, so ausgedehnte Waldungen zu erhalten, wie in den bayerischen Alpen, konnte auch ein ansehnlicher Wildstand erhalten werden. Dieser Wildstand bedarf aber eines beständigen Schutzes gegen die Angriffe der Wilderer. Nirgends in der Welt liegt die leidenschaftliche Liebe zur Jagd tiefer im Wesen der Bevölkerung, als in den bayerischen Alpen — eine deutliche Erinnerung an längst versunkene Zustände, in welchen durch unermesslich lange Zeiträume die freie, wilde Jagd in eigentumsloser Waldwildnis ausschließliche Volksbeschäftigung gewesen sein mag. Aus diesen Zuständen heraus erwuchs ein unlösbarer Konflikt zwischen „Jägern“ und Wilderern, ein Konflikt, der oft genug zu blutigen Zusammenstößen führt.

Schon am Eingange dieser kleinen Schrift war die Rede davon, dass das Leben des Älplers ein beständiger Kampf ist. Kein kleinlicher Kampf ums Dasein, wie in den Städten, wo sein Preis der Erwerb des täglichen Brotes und ein mehr oder weniger würdiger Luxus ist, sondern ein Kampf gegen rauhere Mächte, in welchem es sich oft genug um Sein oder Nichtsein handelt. Und dieser Kampf spitzt sich vor allem im Jägerleben zu. Der Jäger betritt von vornherein bewaffnet mit scharfer Wehr den Schauplatz seiner Berufsthätigkeit. Dass er aber seine Waffe trägt und tragen muss, wird weit weniger veranlasst durch die Absicht, selbst ein Stück Wild zu erlegen, als durch die Möglichkeit, einem Feinde zu begegnen, der gleichfalls mit seiner Waffe durch die Wälder schleicht.

Das ganze Forstpersonal zerfällt in Bayern — wie überall, wo eine geregelte Forstwirtschaft besteht — in die höher gebildeten Forstbeamten und in das niedere Forstschutzpersonal. Das letztere wächst aus dem Volke hervor. Es rekrutiert sich aus Holzknechten, Hirten und Bauernsöhnen, die, von klein auf in Wald und Berg heimisch, mit jedem Steig vertraut wie mit der Handhabung der Holzaxt und der Büchse, der Wildfährte wie des Wetters kundig, vortreffliche Kandidaten für diesen Dienst bilden. Jägerblut aber fliesst von je durch die Adern unseres Bergvolks; und darum finden sich immer tüchtige Leute, die sich dem Berufe widmen.

Wie mühsam und gefahrvoll aber der Beruf eines Jagdgehilfen im bayerischen Hochgebirge ist, weiß nur, wer mit diesen Männern in den Bergen umhergestiegen ist, mit diesen Männern, -deren Sehnen von Stahl sind, die Augen wie ein Adler besitzen und dafür menschliche Schwachheiten, wie Hunger und Durst, Schlaf und Müdigkeit sind, überhaupt nicht zu kennen scheinen.

Während die Berufstätigkeit des Holzknechts größtenteils in kameradschaftlichem Verbände ausgeübt wird, ist der Jäger meist allein. Manchmal lebt er als wirklicher Einsiedler in einer weitab, mitten in tiefster Felswildnis gelegenen Hütte. Sein einziger Gesellschafter ist der treue Hund; ab und zu hält er dann Einkehr in den nächsten Sennhütten, die aber auch oft eine halbe Stunde Wegs entfernt sind. Dabei ist seine Nahrung die denkbar einfachste während schwerer und anstrengender Thätigkeit.

Im tiefen Winter, wenn im Bergwalde der Schnee oft klafterhoch liegt und kaum die stärksten Hirsche mehr imstande sind, Stellen aufzusuchen, wo sie den Schnee wegscharren und Äsung suchen können, ist es die Arbeit der Jagdgehilfen, auf den Futterplätzen nachzuschauen und dem hungernden Wilde frisches Heu vorzuwerfen. Selbst mit den Schneereifen an den Füßen muss er oft unglaubliche Anstrengungen machen, um sich die Wege zu erkämpfen. Und weil das vor Hunger und Frost ermattete Wild im härtesten Winter am leichtesten eine Beute des Raubzeugs wird, muss er gerade in dieser Zeit dem letzteren Fallen stellen und dieselben häufig untersuchen. Im Frühjahre treibt ihn das „Verhören“ der Auerhähne und Spielhähne oft schon um Mittemacht an hochgelegene Waidplätze hinauf; dann muss er wieder, tun die „Sulzen“ (Salzlecken) für das Hochwild aufzufrischen, schwere Lasten Salz bergeinwärts tragen. Zur Pürschzeit muss er frühmorgens und am späten Abend im Walde sein, muss während der Erntezeit an jenen Plätzen, wo Wildschaden zu befürchten ist, nächtlicherweile das Wild aus den Feldern abtreiben, während ihm im Herbste die Hirsch- und Gemsjagd wieder andere Anstrengungen verschafft. Dabei darf er keineswegs schießen, wo und was er will; in manchen Revieren, wo die Jagdherren das Wild selbst erlegen wollen, darf er nur als dessen Hüter und Beschützer auftreten. Und zu allen Anstrengungen und Entbehrungen des Berufes kommen noch die Gefahren desselben. Die eine Art dieser Gefahren, diejenigen, welche die leblose Natur dem Bergjäger entgegenstellt: an sie denkt er gar nicht mehr. Er klettert die unglaublichsten Pfade mit einer Ruhe und Behendigkeit, als wären es teppichbelegte Palasttreppen. Wo ein Nagel seines Bergschuhes, ein Finger seiner Hand sich festhacken kann, da findet er seinen Weg. Der führt ihn an mauerrecht abfallenden Felswänden entlang auf handbreiten Schuttbändern; im scheinbar unersteiglichen Geschröff findet das wegkundige Auge Ritzen und Kamine; das schwankende Geäst der Legföhre wird zur Leitersprosse für den wagenden Fuß, und über jäh abschießende Schneefelder, unter denen grausenhafte Abgründe gähnen, schreitet er mit todverachtender Sicherheit. Den bergkundigen Jäger kümmern weder die Steinschläge, die über ihm und um ihn her gleich verderbenbringenden Geschossen von den Wänden sausen und poltern, noch der Nebel, der ihn in ein dickes Leichentuch einhüllt, dass er oft kaum klafterweit vor sich sieht; auch nicht der rasende Schneesturm, der über den Grat hinfegt und den verwegenen Wanderer in die Tiefe zu werfen droht. Das alles sind ihm Dinge, die sich — je nach Ort und Jahreszeit — eigentlich von selbst verstehen; sie stören ihn nicht ärger, als den städtischen Arbeiter Zugluft und Hitze in seiner Werkstatt stören dürfen.

Seine schlimmste Gefahr droht ihm vom Menschen. Die Wilderer oder — wie sie in der Jägersprache heissen — die „Lumpen“ sind's, mit denen er im beständigen Kampfe lebt. Der Wilderer in den bayerischen Bergen ist bald so bekannt, wie es vormals der Räuber in den Abruzzen war. Vaterländische Dichter wie Franz von Kobell, Hermann Schmid, Stieler und Ganghofer haben es der Mühe wert gefunden , ihn in die Litteratur einzuführen; mit besonderer Sachkenntnis und Ausführlichkeit gelang dies Ganghofer, dem gebornen Sohn des Waldes. Aber lang vor diesen Männern schon hat das Volkslied den Wilderer in unvergänglicher Weise gefeiert, durch das alte Wildschützenlied vom bayerischen Hiesel, das da anhebt:

I bin da boarisch Hiesel!
Koa Jaga hat a Schneid,
Der mir mei Feder und Gamsbart
Vom Hüatl abikeit!

Wie beim Jäger so ist es auch beim Wildschützen die uralte, tausendjährige Volksgewohnheit, die sich in dem einzelnen als elementare Macht regt und ihn sich aufbäumen lässt gegen die moderne Satzung. Jeder Holzknecht und jeder Hirte kennt in unsren Bergen die Wechsel und Fährten des Wildes. Ist er ein braver und gewissenhafter Mensch, so unterlässt er zwar das Wildern; aber es juckt ihn doch in den Fingern, als müsse er nach dem Drücker einer Büchse fahren, sobald er das Geweih eines Edelhirsches oder ein Rudel Gemsen sieht. Ist dagegen sein Gewissen nur ein bischen schwach bestellt, und hat er ein halbwegs brauchbares Gewehr in seiner Kammer, dann braucht's keiner starken Versuchung, um ihn wirklich zum Wilderer zu machen. Dass das Schießen fremden Wildes durch das Gesetz verboten ist, weiß er zwar, aber einem raffinierten Kameraden fällt es nicht schwer, ihm einzureden, dass dieses Gesetz ein übles sei, gegen welches man sich ohne Sünde und Schande auflehnen dürfe, wenn man sich nur nicht „derwischen“ lasse. Hat der Anfänger aber einmal das Gewehr in den Wald getragen, dann steht er auch auf dem Kriegsfuße mit dem Jäger. Und begegnet er wirklich dem Jäger: dann treibt ihn sein erstes verzeihlicheres Vergehen mit unerbittlicher Notwendigkeit zur zweiten ungleich größeren Schuld. Denn dann heisst es: „’s Gewehr runter!“ — und blitzschnell richten sich die unheimlichen Läufe gegeneinander. Rasch wirft sich jeder der beiden Gegner hinter den nächsten Fels oder Baumstamm; manchmal aber kracht auch Schuss um Schuss, ehe die Deckung gefunden ist.

In diesen Kämpfen geht es allemal um Leben und Sterben. Der Jäger hat dabei vor dem Wilderer immer etwas voraus: die schusssichere Hand, meist auch das bessere Schießzeug und vor allem das Bewusstsein, im Rechte zu sein.

Jahr um Jahr fordern diese Zustände in den bayerischen Bergen eine Reihe von Menschenleben. Und tiefere Farben, schneidenderen Zwiespalt erhält der Kampf, wenn das Weib sich in ihn mischt; wenn die Sennerin droben auf ihrer Alm des Wilderers oder des Jägers Partei ergreift und das Ihrige tut, um den einen zu decken, den anderen zu verraten. Dann steigern sich die Ereignisse zu tragischer Gewalt; und ihr Ende ist nur allzuoft ein bleicher Toter mit durchschossener Brust, der droben liegt in der Öde des Hochgebirgs.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Arbeitergestalten aus den Bayerischen Alpen